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Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt

Wir leben in einer Illusion, die wir Realität nennen

Marc Frey
Simplify Innovators
13 min readJan 3, 2019

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Was Sie gerade jetzt sehen und hören ist nichts als ein Traum. Sie träumen genau jetzt in diesem Moment. Sie träumen, obwohl Sie wach sind.“ Mit dieser unglaublichen Mitteilung überrascht uns Don Miguel Ruiz in seinem Bestseller “Die vier Versprechen“. Ruiz beschreibt in dem lesenswerten Buch, wie wir seit Menschengedenken in einem “Traum“ leben, ein Traum, der aus den gesammelten Erfahrungen, Regeln, Glaubensrichtungen und Weltanschauungen unserer Vorfahren besteht. Dieser globale, kollektive Traum wird uns als Realität verkauft.

Kein Mensch sieht die Welt wie ein zweiter. Und niemand ist in der Lage die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Alles ist eine Interpretation der Wirklichkeit, die Wahrnehmung von reflektiertem Licht, eine virtuelle Realität. Deshalb kann auch keiner von sich sagen, die Wirklichkeit zu kennen.

Dieses Phänomen beschäftigt die Philosophie schon seit den Tagen von Aristoteles und Heraklit. Immanuel Kant stellte hierzu im Rahmen seiner kritischen Erkenntnistheorie vor fast 250 Jahren fest, dass die Dinge in Raum und Zeit „nichts als Erscheinungen, mithin bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, […] außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben.“ (Kritik der reinen Vernunft, 1781)

Aber wie sollen wir denn bloß in einer Welt leben und handeln, wenn wir uns nie sicher sein können, dass das was wir „sehen“ auch wirkliche Realität ist?

Jetzt ist das mit der Realität so eine Sache, denn das Problem mit ihr ist eben, dass es sie, die Realität, eigentlich so gar nicht gibt. Wenn wir von Realität sprechen, dann meinen wir damit eine objektive Realität, die jeder andere eben auch so erkennen kann und muss wie wir. Wir fragen deshalb auch schon mal: “Siehst Du denn die Realität nicht?“ Es gibt also angeblich etwas, dass jeder von uns erkennen kann. Gerne hört man auch die Empfehlung: “Jetzt sei doch mal realistisch.“ Auch hinter diesem wohl gemeinten Rat verbirgt sich unsere Annahme, wir wüssten ziemlich genau was für den Empfänger der Botschaft richtig und gut sei. Und damit mithin für alle oder viele andere eben auch.

Dummerweise ist das aber alles Unsinn. Nicht nur, dass es keine objektive Realität gibt, wir könnten sie auch gar nicht erkennen, wenn es sie denn gäbe, egal wie sehr wir uns auch anstrengen würden. Das lässt sich im Übrigen sehr einfach und wissenschaftlich haltbar nachweisen. Und den entsprechenden Versuch dazu kann jeder selbst unternehmen, der eine Videokamera mit 360-Grad-Aufnahmemöglichkeit besitzt.

Einigen wir uns für diesen Versuch darauf, dass die Realität das ist, was sich vor unseren Augen abspielt. Einerlei ob dies in unserem Wohnzimmer, an unserem Arbeitsplatz oder auf der Straße geschieht. Suchen wir uns einen Ort aus, der für unser Experiment geeignet ist, also ein Ort, an dem idealerweise auch andere Menschen vorbeikommen, ein Ort an dem sich “Realität“ abspielt. Dort stellen wir unsere Videokamera auf und drücken die Aufnahmetaste. Dann stellen wir uns daneben und beobachten die Szenerie die unsere Kamera aufnimmt für ein paar Stunden.

Wir wären ziemlich überrascht, verglichen wir anschliessend unsere Beobachtungen mit dem Material, das die Kamera aufgezeichnet hat. Nur ganz wenige Dinge haben wir tatsächlich erfasst, das meiste komplett übersehen. Jeder der mal Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden ist, kennt diesen Effekt zur Genüge. D.h. von den beobachtbaren Ereignissen erfassen wir nur einen winzigen Bruchteil, vielleicht ein bis drei Prozent. Der Grund dafür ist ziemlich simpel: Die gesamte beobachtbare Welt vor unseren Augen bietet unendlich viel mehr Information an, als unser Hirn überhaupt in der Lage ist zu verarbeiten. Unser Hirn muss ausblenden und so sehen wir die Welt wie durch ein Fernglas.

Aber nicht nur unser Hirn ist limitiert. Auch andere wichtige Sinnesorgane kennen Grenzen, die uns nur einen Teil der Realität wahrnehmen lassen. Der menschliche Sehsinn etwa erfasst nur einen Bruchteil des Lichts um uns herum, nämlich ein Spektrum von Lichtwellen im Bereich zwischen etwa 4.000 bis 7.000 Ångström. Es gibt aber Licht in einem Bereich mit weniger als einem Ångström bis hin zur 1000fachen Menge. Könnten wir in den anderen Bereichen sehen, so würde die “gleiche Realität“ für uns anders aussehen.

Es kommt aber noch dicker: Die übliche Vorstellung, dass unser Gehirn Wahrnehmungsdaten von außen angeliefert bekommt und sie dann neutral verarbeitet, stimmt nämlich nicht. Gerade Studien zur Wirkung von Hypnose belegen, dass auch der Prozess der Wahrnehmung manipulierbar ist: Das Gehirn reagiert nicht etwa anders auf den gleichen Input, es verändert den Input selbst. Das Gehirn kann zwischen dem was ist und dem was es sich vorstellt nicht mehr unterscheiden. Und dabei handelt es sich um psychische Kurzschlüsse, die sogenannte amodale Vervollständigung oder Ergänzung. Das ist der Drang unseres Gehirns, allen Dingen sofort eine Bedeutung zu verleihen. Also an dem ohnehin schon unendlich geringen Teil der beobachtbaren Realität, die wir erfassen und verarbeiten können, nehmen wir auch noch Manipulationen vor. Und diese werden noch beeinflusst abhängig davon, in welchem Kulturkreis wir aufwachsen, was wir bisher erlebt haben oder welche Vorlieben, Ängste und Überzeugungen wir haben. Wir sind im Gefängnis unseres Geistes eingesperrt.

Wie großzügig unser Gehirn Ereignisse und Fiktion zu einer neuen Realität fusioniert, ist selbst für das sogenannte postfaktische Zeitalter bemerkenswert. So sind etwa rund 40 Prozent, nahezu die Hälfte unserer frühen Kindheitserinnerungen nichts als reine Hirngespinste. Ereignisse, an die wir uns zu erinnern glauben und die nie (oder nicht so) stattgefunden haben. Die Lücken in unserer Erinnerung füllt unser Gehirn selbsttätig mit Informationen, die es aus irgendwelchen anderen Quellen erhält. Fotografien von Verwandten, Geschichten, die wir von Freunden hören, selbst Träume, alles was der “Wahrheitsfindung“ dient wird benutzt und zu einer neuen Wirklichkeit verwoben. Im Juli vergangenen Jahres veröffentlichte das Center for Memory and Law der University of London dazu eine interessante Studie mit dem bezeichnenden Titel “Fictional First Memories“. Die Forscher haben dafür die Kindheitserinnerungen von fast 7.000 Probanden untersucht und dabei diese erstaunlich hohe Menge an schlicht eingebildeten Erinnerungen identifiziert. Gehirnscans haben zudem ergeben, dass die fiktionalen Erinnerungen dieselben Areale nutzen und stimulieren, wie die tatsächlich stattgefundenen Ereignisse. Wir sind der Täuschung durch unser eigenes Hirn biologisch hoffnungslos ausgeliefert.

Dies vorausgeschickt, könnte es für jeden von uns durchaus spannend sein, einmal seine eigenen Kindheitserinnerungen auf den Prüfstand zu stellen. Und vielleicht erinnert uns dies auch an etwas, das wir alle gelegentlich selbst erfahren: Wir sind gegenüber Familienangehörigen, Freunden oder Kollegen felsenfest davon überzeugt, dies oder jenes gesagt oder getan zu haben, während unser Gegenüber steif und fest behauptet, es sei nicht so gewesen. Wer hat jetzt Recht?

Setzen wir noch eines obendrauf: Forscher haben längst entschlüsselt, dass der Mensch sogar an seinen Überzeugung festhält, selbst wenn ihm objektive Fakten vorgelegt werden, die das Gegenteil belegen. Er hält sie dann schlicht für einen Täuschungsversuch. Sehr gut beschreibt dies der Artikel “Why facts don’t change our minds”, der Anfang 2017 im New Yorker veröffentlicht wurde.

In ihrem Buch “The Enigma of Reason” liefern Hugo Mercier und Dan Sperber eine Antwort für dieses Phänomen. In Urzeiten, als wir Menschen noch Höhlen und Savannen bewohnten, war es überlebenswichtig, sich der Meinung seiner Gruppe anzuschließen, quasi eine Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt Gemeinschaften entstehen konnten. Und als Fähigkeit ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Mensch und Tier.

Heaven is a point of view, a state of mind. And so is hell.

Aber aus welchem geheimnisvollen Material ist sie denn nun eigentlich gemacht diese Realität, dass es uns so schwer fällt, sie kollektiv und objektiv zu erkennen? Hierfür bleibt uns ein kleiner Ausflug in die Physik nicht erspart.

Von allen weithin verbreiteten Irrtümern ist die Annahme, dass wir von innen auf die Welt da draußen schauen, die am einfachsten zu widerlegende: Es gibt kein „da draussen“. Die Physik lehrt uns, dass alle Materie unsichtbare magnetische und elektrische Felder sind. Selbst „Licht“ ist im Prinzip nicht sichtbar. Alles was die Welt für uns ist, was wir glauben zu „sehen“, entsteht erst in uns, in unserem Gehirn. Praktisch gesagt bedeutet dies: das Bild, das wir im Museum bewundern, hängt nicht dort an der Wand, es „hängt“ in unserem Kopf. An der Wand hängt eine unvorstellbar gigantische Menge an Atomen, die von ihrer Bindungsenergie und der Gravitation in Form gebracht werden und deren Elektronen beim Übergang in andere Zustände sogenannte Photonen, unsichtbare Lichtteilchen (bzw. Wellen, doch wir fangen jetzt nicht noch mit Quantenmechanik an), emittieren, die dann von den Stäbchenzellen in unserer Retina als elektrische Signale empfangen und schließlich im Gehirn zu dem „gesehenen“ Bild werden.

Dies ist eine ebenso unumstößliche Tatsache, wie die Gravitation eine Naturkonstante ist. Und nur dem Umstand, dass unsere Gehirne praktischerweise gleich arbeiten, verdanken wir, dass wir uns mit einem anderen Museumsbesucher über das Bild unterhalten können, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sein oder ihr Gehirn das gleiche visuelle Erlebnis zusammenbaut ist statistisch extrem hoch (Menschen, die Farben anders codieren, z.B. wegen Farbenblindheit oder Rot-Grün-Sehschwäche, werden eine andere Realität wahrnehmen). Und andere Säugetiere bauen aus den empfangenen elektromagnetischen Wellen andere Bilder und von Insekten wollen wir hier erst gar nicht sprechen. Wer aber hat dann „Recht“, sieht was „wirklich“ ist?

Das gleiche gilt im übrigen auch für unsere weiteren Sinne, das Hören, das Tasten, das Schmecken, das Riechen. Es ist also kein philosophisches Gerede, wenn wir sagen, unser Bild von der Welt ist eine vollständig konstruierte Realität. Es ist schlicht Physik. Selbst die Wärme, die uns ein Sonnenbad schenkt, schickt uns nicht etwa unser zentraler Stern, sondern entsteht erst weil die Elektronen der Atome, aus denen unsere Haut besteht, mit den elektromagnetischen Teilchen der Sonne wechselwirken und so zur Bewegung angeregt werden. Diese Bewegungsenergie nimmt unser Gehirn schließlich als Wärme wahr.

Es mag beängstigend, vielleicht auch frustrierend klingen, aber das gesamte sichtbare Universum ist in unserem Schädel, da draussen ist — so gesehen — NICHTS. Es existiert NICHTS außerhalb unserer Wahrnehmung und kein Mensch kann seiner Wahrnehmung entkommen. Daran gibt’s nun mal nichts zu rütteln.

Wir sind schon sehr weit gekommen in der Physik. Wir haben mittlerweile ein recht gutes Verständnis für die allermeisten Vorgänge im Universum. Wenngleich wir immer noch nicht erklären können, woraus rund 95 Prozent unseres Universums beschaffen sind, so verstehen wir doch, welche Vorgänge unsere Wahrnehmungen von der Welt erzeugen, wie es zu dieses erlebten Realität kommt. Allerdings wird dies, vielleicht auf Dauer, immer ein unvollständiges Bild bleiben.

Was aber bedeutet das nun praktisch? Es erweist sich ja durchaus als hilfreich, wenn wir während des Essens unseren Tischnachbarn bitten, uns das Salz „von dort drüben“ zu reichen, auch wenn wir wissen, dass das was er uns gibt, eigentlich erst in seinem Kopf zum Salzstreuer wird.

Der schottische Philosoph und Ökonom David Hume (1711–1776) empfiehlt uns als Mittel den Zweifel, wenn wir mit unserer Wahrnehmung von der Welt zu tun haben. Der praktizierende Skeptiker scheute jedoch nicht davor zurück, die Skepsis zur Seite zu schieben, wenn sie sich ihm in den Weg stellte. Dennoch war der Erkenntnistheoretiker überzeugt davon, dass Zweifeln bedeutet, menschlich zu sein. Dass wir lernen, wenn wir Unsicherheit akzeptieren, und wachsen, wenn wir uns selbst korrigieren. Skepsis sei ein Geisteszustand, der es erlaube, die richtigen Zweifel zu wecken, so Hume, der das Denken von Kant, Schopenhauer, Smith, Einstein, Popper, Russell und vielen anderen maßgeblich beeinflusste.

Hume verstand unsere mentale Wahrnehmung der Welt als durch zwei Dinge geschaffen: Ideen (Gedanken) und Eindrücke (Empfindungen und Gefühle). Aber er argumentierte, dass die Ideen immer nur aus unseren Eindrücken abgeleitet werden konnten und wären damit eben überhaupt nicht unabhängig. Darüber hinaus übersetzten verschiedene Teile unseres Denkapparats Eindrücke und Gefühle in Ideen, und nicht selten geschehe dies auf eine Weise, die uns zu Widersprüchen und logischen Irrtümern führe. Selbst das Prinzip von Ursache und Wirkung (das Fundament der Vernunft), so argumentierte Hume, könne durch bloße Argumentation in Frage gestellt werden. Nichts ist eben wie es scheint.

Was Realität ist, sehen östliche Philosophien oder Religionen, etwa Buddhismus oder Hinduismus, deutlich anders als es unsere dualistische Weltsicht hergibt. Die östlichen Weisen haben immer darauf bestanden, dass es eine direkte Erfahrung der Realität gibt, die nonverbal ist. Sie ist also erfahrungsbasiert und damit Erkenntnissen aus zweiter Hand überlegen, selbst wenn deren Quelle vertrauenswürdig ist. Schriftliche Weisheit ist gut, aber es gibt keinen Ersatz, etwas für sich selbst zu erfahren.

“Yesterday I was clever, so I wanted to change the world. Today I am wise, so I am changing myself“ — Rumi

Vor etwa 1.300 Jahren schrieb der bedeutende indische Philosoph Shankara: “Ich bin Realität ohne Beginn. Ich lebe nicht in der Illusion von “Ich” und “Du”, “Dies” und “Das”. Ich bin…. eins ohne Zeit, Glückseligkeit ohne Ende, die unveränderliche, ewige Wahrheit. Ich wohne in allen Wesen als das reine Bewusstsein, der Grund für alle Phänomene, innerlich und äußerlich. Ich bin sowohl der Genießer als auch das, was man genießt. In den Tagen meiner Unwissenheit dachte ich immer, dass diese von mir getrennt seien. Jetzt weiß ich, dass ich alles bin.”

Wenn es um eine direkte Erfahrung mit der Natur der Realität geht, läuft es im Wesentlichen darauf hinaus, die Einheit von allem zu sehen und durch die Illusionen von Zeit und Tod zu schauen. Diese transformative Erfahrung wird mit Erleuchtung, Satori, Samadhi, Nirvana und vielen anderen Namen bezeichnet.

Nach diesem kleinen Ausflug in Physik und Philosophie sollten wir zurückkehren zu der Frage, was das nun konkret für uns bedeuten kann. Dies illustriert zum Beispiel sehr schön dieses Video:

David Gray, Autor des Buches „Liminal Thinking“ schlägt hier einen Weg vor, mit dem wir die gewünschten Veränderungen in der Welt starten können, wenn wir die Art zu denken ändern.

Viele Probleme auf dieser Welt wären von einem auf den anderen Moment verschwunden, wenn wir uns immer wieder klar machen würden, dass es eben nicht diese einzige, alleingültige Realität gibt, sondern dass Realität zwangsläufig und immer eine individuelle Konstruktion unseres Geistes ist.

Das heißt dann nämlich, dass die eine Realität so gut ist wie eine andere. Und dann kann es auch weder einen Realitätsverlust noch eine Realitätsverzerrung geben, einen angeblich zu beobachtenden Effekt, den wir nur als solchen bezeichnen, weil der andere nicht die gleiche „Realität“ mit uns teilt.

Wenn wir uns dieses eingestehen, dann folgen daraus jedoch weitere ungeahnte neue Möglichkeiten. Wir müssen eine anscheinende “Realität“ nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern das was wir erleben und interpretieren, kann unsere eigene Schöpfung sein. Vielleicht habe ich jetzt den einen oder anderen von Ihnen “verloren“ und Sie werden sich fragen, was das alles soll, wie das zu verstehen sei und vor allem, was dies mit Ihnen zu tun hat. Nun, dann versuche ich jetzt, den praktischen Bezug herzustellen.

Seit unserer Geburt sind wir auf eine vermeintliche Realität, den kollektiven Traum, eingeschworen worden. Unsere Eltern, Großeltern und später unsere Lehrer, aber auch Freunde, Kollegen und andere Mitmenschen haben viel Energie darauf verwendet, uns verständlich zu machen, wie wir die Realität zu sehen haben, was die Dinge bedeuten, wie unser Verhalten zu bewerten sei und so weiter. Nichts davon ist jedoch unsere eigene Beobachtung der „Realität“, sondern es ist immer die Meinung (Realität) der anderen. Trotzdem gaben wir uns die allergrößte Mühe, dieser aufoktroyierten Realitätsbeschreibung zu entsprechen: wir versuchten uns erwartungsgemäß zu verhalten und beugten uns den fremden Urteilen. Allmählich übernahmen wir ein fremdes Realitätsbild als unser eigenes und wenn dieses beispielsweise sagte, wir seien nicht fähig eine bestimmte Sache zu tun oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dann glauben wir das irgendwann auch. Und unsere Realität formte sich danach.

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Stellen wir uns etwa einen Schüler vor, der die Hälfte der Vokabeln einer Fremdsprache beherrscht. Wenn der Lehrer bei einem Test die nicht beherrschte Hälfte abfragt, bekommt der Schüler eine sechs und es entsteht der Eindruck, er kann die Fremdsprache nicht. Fragt der Lehrer dagegen die andere Hälfte ab, erhält der Schüler die Note eins, denn in der Wahrnehmung des Lehrers beherrscht er die Fremdsprache. So relativ ist die Wirklichkeit. Das Problem in diesem Fall wäre jedoch, dass der Schüler es ebenfalls glaubt, obwohl es objektiv betrachtet nicht richtig ist.

Erkennen wir aber, dass die Realität von der andere sprechen, nicht unsere Realität ist, sind wir frei von den Beurteilungen durch andere, weil wir diese nur noch als deren Sichtweisen sehen, aber nicht mehr als “objektive Wahrheit“. Vielmehr haben wir die Möglichkeit, den Dingen eine neue bzw. andere Bedeutung zu geben (der Psychologe nennt das “Reframing“) und schon ändert sich die Realität. Wir können also den Traum, bzw. die Illusion in der wir leben, „umdeuten“. Alles was ich mir vorstellen kann, kann ich auch sein. Und eine Sache ist sowohl richtig als auch falsch, je nachdem in welcher Realität ich mich gerade befinde. In der einen Realität mag sie ein Problem sein, in der anderen ist sie es eben nicht.

Das Leben und der Umgang mit unseren Mitmenschen wird einfacher, wenn wir von der Wahrheitsbehauptung Abstand nehmen, wenn wir Respekt vor der Wahrnehmung anderer haben und sie als genauso richtig akzeptieren, auch wenn sie unserer Wahrnehmung widerspricht. Mit solchem Abstand von einer vermeintlich einzig wahren Realität wird es für uns ganz selbstverständlich, das Urteilen über andere Menschen sein zu lassen, denn es fehlt ihm jeder sachliche Grund. Wir werden gelassener, nehmen uns selbst nicht zu ernst und selbst erlebte Ablehnung erträgt sich leichter, denn sie hat mehr mit der Realität des anderen zu tun, als mit uns selbst.

Diese Sichtweise schenkt uns ganz neue Möglichkeiten, wenn wir diese Fähigkeit nutzen, aus eigentlich NICHTS Welten zu erschaffen: das ist wahre Kreativität, ermöglicht Innovation und „Moonshot Thinking“. Dies ist zudem eine der Schlüsselvoraussetzungen für echte Empathie, die immer bedeutet, in die Realität eines anderen einzutauchen.

Der Mensch benötigt die Phantasie, um Mensch zu sein. Wir sind die einzige Spezies, die in der Lage ist, Vorstellungsräume zu erschaffen und vermutlich auch die einzige, die den Zustand der „limitless and collective minds“ erreichen kann.

Auf die eine oder andere Weise suchen wir alle nach einer Verbindung zu etwas, das die Unbeständigkeit des Wandels überwindet. Der einzige Weg dorthin ist jedoch, sich an das zu binden, was die Veränderung selbst am besten verkörpert.

Denn wie schon der römische Kaiser Mark Aurel vor fast 2000 Jahren sagte: “Das Universum ist Veränderung. Aber unser Leben ist das, was unsere Gedanken daraus machen.“

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Der Autor

Als Management-Berater, Mentor und Coach beschäftigt Marc Frey sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie Menschen zu dem Mindset finden können, um die Herausforderungen in einer immer komplexer werdenden Welt zu meistern. Unterstützung hierfür holt er sich häufig in seinen bevorzugten Disziplinen Psychologie, Philosophie und Physik. Er ist Mitbegründer der Unternehmens- und Innovationsberatung Simplify Business Innovators im Silicon Valley und Berlin und gehört zum Leadership-Team des Munich Chapters der Singularity University.

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Anm.: Dieser Artikel ist eine stark ergänzte und überarbeitete Fassung eines Artikels, den der Autor vor fast zwei Jahren auf dem Blog “mindful spirits” veröffentlicht hat.

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Marc Frey
Simplify Innovators

As Business Activist, Innovation and Change Facilitator and Leadership Coach my passion is to help companies and people growing to the better.