UX-Mythos:
Besucher lesen die Texte meiner Website!

Manuel Wielandt
Y1 Digital
Published in
4 min readMay 27, 2018

Ich musste schon einige Web-Projekte miterleben, die zwar technisch realisiert wurden, doch nie oder nur teilweise online gegangen sind. Schnell kann man vor der Fülle des vermeintlich fehlenden Contents kapitulieren.

Beim Verfassen von Texten investieren wir viel Liebe ins Detail. Dabei vergessen wir allzu gerne, dass die Aufmerksamkeitsspanne des potentiellen Lesers mit der Metapher eines Autos vergleichbar ist, welches mit Tempo 100 an einer Plakatwand vorbeirauscht.

Zudem gilt auch hier das Pareto-Prinzip: die letzten 20 Prozent des Ergebnisses erfordern 80 Prozent unseres gesamten Aufwands.

Wie wir im Web lesen

Das prägnanteste Gegenstück zu einer Website ist das Medium Buch:

Buch

  • haptisch, wird als Eigentum wahrgenommen
  • langatmige Passagen werden toleriert
  • die Leserichtung verläuft chronologisch
  • der Leser reserviert sich Zeit

Website

  • nicht greifbar, fluide
  • irrelvanter Content führt umgehend zum Abbruch des Lesens
  • die Leserichtung verläuft sprunghaft (über Fixationspunkte)
  • der Leser bringt in der Regel keine Zeit mit

Adlerperspektive statt chronologische Leserichtung

Beobachten Sie sich selbst! Sie werden dazu neigen, Websites zu überfliegen und nach aussagekräftigen Keywords oder informativen Bildelementen zu suchen. Wort für Wort werden Sie nur die Passagen lesen, die Sie tatsächlich brennend interessieren. Wer sollte es Ihnen bei diesem Überangebot an Alternativen im Web verübeln.

Wie viel tatsächlich im Web gelesen wird

Jakob Nielsens Eye-Tracking-Studie besagt, dass weniger als 20 % des Textinhalts einer durchschnittlichen Webseite gelesen werden. Auch wenn diese Zahlen auf das Jahr 2008 zurückgehen, geben sie uns zumindest einen Richtwert an die Hand.

Auch wenn es bei Artikelseiten naturgemäß besser aussieht, stellte Chartbeat in einer Analyse aus dem Jahr 2013 fest, dass eine gewöhnliche Artikelseite nur von 50 bis 60 % der Leser vollständig betrachtet wird.

Artikel-Seiten vs. Corporate Websites

Es liegt auf der Hand, dass die Lesebereitschaft bei klassischen Content-Seiten wie Blog-Posts oder Artikeln wesentlich höher ausfällt als bei Inhalten einer Corporate Website, welche maßgeblich werbende und Image-bildende Ziele verfolgt.

Eine Unternehmenspräsentation im Web kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der Tiefe erheben, vielmehr werden Nutzeranliegen thematisch lediglich angerissen und idealerweise mit einem Call To Action (Kontakt, Download oder eine andere gewünschte Nutzerinteraktion) versehen.

Inhalte visuell strukturieren und schnell erfassbar machen

  • aussagekräftige Zwischen-Headlines (nüchterne Inhaltsbeschreibung statt werbende oder smarte Aussagen)
  • weitere strukturierende Elemente (Bilder und Infografiken, Rich Media, optische Hervorhebung unterschiedlicher Inhaltsbereiche, etc.)
  • ein Gedanke je Absatz (meist werden nur die ersten Wörter eines Absatzes angelesen)
  • Bullet Points statt Fließtext
  • Keywords bzw. relevante Passagen innerhalb eines Textblocks hervorheben (Hyperlinks sollten wiederum eine andere Auszeichnung erhalten)
  • zueinander gehörige Inhalte gruppieren und Weißräume einhalten, um Contentblöcke optisch voneinander trennen zu können (siehe Law of Proximity)
  • Lesefreundlichkeit: ausreichend Spaltenbreite und Zeilenabstand, lesbare Schriftart und -größe, kontrastarmer Hintergrund

Überblick geben über Inhalt und Leseaufwand

Was ist die Kernbotschaft? Wie umfangreich ist dieser Artikel? Fragen dieser Art sollten umgehend bei Betreten einer Website beantwortet werden, bspw. durch folgende Maßnahmen:

  • Inhaltsangabe mit Sprungankern
  • bei Artikelseiten: Angabe der Lesedauer, Lese-Fortschrittsbalken

Smalltalk und dekoratives Schreiben vermeiden

In einem Usability-Test testete Norman Nielsen verschiedene Textstile für eine Website. Prägnantes, scanbares und objektives Copywriting führte zu einer 124 % besseren Lesbarkeit.

Fazit

Haben Sie generell keine Probleme beim Formulieren von Lesetexten? Prima! Dann behalten Sie die Metapher des Adlers im Hinterkopf, der aus sicherer Entfernung über Ihren Texten kreist. Laden Sie ihn mit regelmäßig verteilten Häppchen (Fixationspunkten) zum Sinkflug ein.

Tun Sie sich hingegen eher schwer beim Schreiben?
Dann mache ich Ihnen Mut, gemäß des Pareto-Prinzips mit einer Light-Variante online zu gehen, welche im Nachgang sukzessiv optimiert werden kann. Bullet Points und Kernaussagen sind besser als gar nichts, richtig?

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