Bildsprache in Comic und Graphic Novel

Mattia Avoledo
Solettres | Universität Basel
5 min readMay 4, 2016
© Mattia Avoledo (nähere Angaben zu den abgebildeten Werken s. unten).

Ein Beitrag von Mattia Avoledo und Kevin Hütten

Was haben Comics und Graphic Novels an den Solothurner Literaturtagen zu suchen? Sehr viel, und vor allem eine aufgeschlossene, interessierte Leserschaft.

Immer noch wird der Bildsprache der gezeichneten Geschichten von vielen Literaturinteressierten mit intellektuellem, vielleicht sogar elitärem Anspruch die Möglichkeit versagt, auf der gleichen Bühne wie die Bücher zu spielen. Doch der Comic entwickelte sich von den Bildsäulen der Antike über die kurzen satirischen Bildstrips am Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seiner heutigen Formvielfalt munter weiter und zieht immer mehr Leser in seinen Bann. Insbesondere seit der Einführung des graphic novel als anspruchsvolleres und inhaltlich komplexeres Subgenre des Comic in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ist er auch aus der Welt der heiligen Literatur nicht mehr wegzudenken.

Wie in der Belletristik so gibt es auch im Comic das Triviale. Oft findet man dieses in den monatlich erscheinenden Superheldenabenteuern der Verlage aus Übersee, die vielen durch die Flut an Kinofilmen von Disney (seit 2009 Eigentümerin von Marvel) und Hollywood geläufig sind, die die Kassen der Studios füllt. Doch der Schein trügt: selbst unter der unendlichen Schar an Bildern, Worten und Geräuschen der monthly issues finden sich Perlen von grossem Wert. Der Comic Watchmen von Autor Alan Moore und Zeichner Dave Gibbons beispielsweise, ab 1986 in zwölf Teilen bei DC Comics erschienen, gewann alle wichtigen Genrepreise und wurde sogar in die Times-Liste der 100 besten Bücher des Jahrhunderts aufgenommen.

Geheimnisvolle Welt der Chrestomatie

Es ist das Zusammenspiel von Zeichner und Autor, welches den Comic so produktiv macht. Wir wollen uns dem an den Literaturtagen vorgestellten Comic Crestomat widmen, der von den Autoren Sabrina Bundi und Michel Decurtins und dem Zeichner Mathias Durisch geschaffen wurde. Die literarisch geschulten Bundi und Decurtins lassen darin den Protagonisten Dr. Clau in die Welt der rätoromanischen Chrestomathie eintauchen, wo er auf Wesen wie den buttatsch cun igls (Rinderpansen mit Augen) oder die metta da fein (wörtlich „Stimme des Heus“, eine böse Hexe, die den Kindern, welche durchs Hohe Gras rennen mit einer Sichel die Füsse absebelt und über menschenfressende Monster, die glimari verfügt) trifft.

Die rätoromanische Chrestomathie ist eine Sammlung von rätoromanischen Sagen, Volksbräuchen und -geschichten, die Caspar Decurtins vor über 100 Jahren zusammenstellte. Dem Zeichner Durisch gelingt es, mit modernen, an den amerikanischen Superheldenstil angelehnten Bildern, die Welt der rätoromanischen Sagen auferstehen zu lassen. Dr. Clau rutscht unversehens aus dem Keller seiner neu bezogenen Wohnung in unserer Welt aus bisher ungeklärten Gründen in die Sagenwelt der Rätoromanen. Dieser Wechsel der Welten oder Ebenen wird in der Literaturwissenschaft als narrative Metalepse bezeichnet. Kein neues Phänomen, gibt es doch in der Literatur unendlich viele Beispiele von gelungenen Metalepsen, man denke nur an Narnia-Romane von C.S. Lewis oder (für die literarisch anspruchsvolleren) an die Theaterstücke von Ludwig Tieck, wie beispielsweise Der gestiefelte Kater, wo der Autor und einzelne Zuschauer als Figuren auftreten und so die vorgestellte, vierte Wand zwischen Zuschauer und Schauspieler durchbrochen wird.

Zwischen Wort und Bild

Was den Comic so interessant für diese Weltenwechsel macht, ist seine Bildsprache, die dem Leser das Hinübertreten einer Figur in eine andere Welt oder Ebene so mittelbar vor Augen führt, wie dies sonst nur im Film geschieht. Anders als bei den bewegten Bildern verharrt der Comic aber noch in einer Zwischenform aus geschriebenem Wort und gezeichnetem Bild. Die Sprech- oder Gedankenblasen und Kommentare, meist am oberen Rand des Bildes, sind der Literatur verpflichtet, dem geschriebenen Wort. Das Bild, von der Hand des Zeichners geschaffen, stellt dem Leser das Geschehen auf einer zweidimensionalen Bühne, dem panel, vor. Selbst die Zeichnerhand taucht manchmal auf in den Comics: die vierte Wand der Bühne kann direkt im Bild durchbrochen werden. Es gibt Geschichten, in denen der Autor oder Zeichner direkt in den panel eingreifen, indem man beispielsweise eine gezeichnete Hand sieht, welche die Figur auf dem Blatt entstehen lässt.

Deadpool, der schizophrene Söldner aus der X-Men-Welt bei Marvel, hat nicht nur drei verschiedene Stimmen, er wechselt auch ungehemmt zwischen den vielen Universen von Geschichten und Helden, die es im Marvel Kosmos gibt. In der Geschichte Deadpool kills the marvel universe zieht der Antiheld aus, um bekannte Superhelden wie Captain America oder Wolverine zu töten, und betont dabei immer wieder, dass er keine Ahnung habe, was er da eigentlich tue. Ganz am Ende, von seinem Blutrausch alleine im Universum zurückgelassen, kommt er vor eine einfache Holztüre. Er öffnet sie und gelangt in den Raum, wo sich die Zeichner und Autoren gerade darüber unterhalten, wie die Geschichte weitergehen soll. Er hat die letzte Metalepse vollzogen und zieht sein Schwert…

Nebeneinander der Welten

Im Crestomat kommt unser Held, Dr. Clau, nicht so weit, seine Erschaffer zu treffen. Doch der Übergang aus unserer Welt in die der Sagen und Märchen ist nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheint. In der Welt der Chrestomathie gibt es die Casperians, Anhänger von Caspar Decurtins, der — selbst aus unserer gegenwärtigen Welt stammend — die Welt der Chrestomathie besuchte und bei seiner Rückkehr das Gesehene festhielt. Der ursprüngliche Sammler der rätoromanischen Sagen, auf welche sich der Comic intertextuell bezieht, ist hier nur ein weiterer Protagonist.

Dies tun auch Alan Moore und Jacen Burrows in ihrem Comic Neonomicon. Die Welt von Horrorautor Howard Philipp Lovecraft wird lebendig und die Protagonisten erfahren Stück für Stück, dass Lovecraft selbst nur ein irregeleiteter Chronist der unnennbaren Schrecken war, die er in seinem Necronomicon festhielt. Seine Horrorwesen treten über in unsere Welt, verselbstständigen sich, werden aktiv. So kann das literarische Vermächtnis eines Autors im Comic zu neuem Leben erweckt werden, ohne dabei zu verhehlen, dass es sich um einen intertextuellen Bezug handelt. Diese offensichtliche Fiktionalisierung eines Autors in der Geschichte schadet aber nicht dem Lesereindruck, ganz im Gegenteil: alles wird Fiktion, alle Ebenen und Zeiten verschmelzen.

Bei Crestomat wird dies jedoch anders als im Neonomicon mit einer dualistischen Welteinrichtung gemacht. Es gibt unsere Welt, und daneben, unabhängig, existiert die Welt der Chrestomathie. Irgendwo gibt es einen Riss, einen Übergang, über den man in die andere Welt und wieder zurück gelangen kann. Diese Risse und Übertritte, die den Protagonisten zum Zeitreisenden, zum Sternenfahrer oder zum Superhelden machen, kann keine Kunst so schön darstellen wie der Comic.

Wir sind gespannt, wie die Geschichte um Dr. Clau, den buttatsch von igls und die metta da fein weitergeht.

Der Comic Crestomat erscheint regelmässig auf www.crestomat.ch. Er erscheint zunächst in rätoromanischer Sprache, wird jedoch auch ins Deutsche, Italienische und Englische übersetzt.

Näheres zu den auf dem Titelbild abgebildeten Comics und Graphic Novels:
Watchmen. Autor: Alan Moore, Zeichner: Dave Gibbons Verlag: DC. Neonomicon. Autor: Alan Moore, Zeichner: Jacen Burrows Verlag: Avatar.
Tales of the Jedi. Autoren: Tom Veitch & Kevin J. Anderson, Zeichner: Chris Gosset Verlag: Dark Horse Comics.
Batman: The Dark Knight Returns. Autor: Frank Miller, Zeichner: Frank Miller mit Klaus Janson & Lynn Valley Verlag: DC.
Black Hole. Autor & Zeichner: Charles Burns Verlag: Pantheon.
Y: The Last Man. Vol. 3. Autor: Brian K. Vaughan, Zeichner: Pia Guerra & Paul Chadwick Verlag: Vertigo.
Hellboy 1. Saat der Zerstörung. Autor: Mike Mignola, Zeichner: Mike Mignola & John Byrne Verlag: cross x cult.
Der Incal. Band 5. Autor: Alejandro Jodorowsky, Zeichner: “Moebius” Verlag: Splitter.

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