Lyrik ist ein Bedürfnis unserer Zeit

helena.krauser
Solettres | Universität Basel
3 min readMay 5, 2016
©Zepa Morina und Helena Krauser

Ein Beitrag von Zepa Morina und helena.krauser

Spoken Words, Poetryslam und Poesiesalon — Lyrik ist frisch, frech, politisch und kritisch. War sie das schon immer oder erleben wir zur Zeit ein neues Phänomen?

Als wir Anfang März im Seminarraum sassen und uns in Lektüregruppen aufteilten, fand die Lyrikgruppe die meisten Anhänger. „Warum nur?“ fragten manche. Aber wer hört schon nicht gerne präzise geformte Wörter, die geschickt ineinander geflochten wurden? Lyrik ist schon lange nicht mehr staubig und kompliziert. Sie ist kurz, konkret und genau so unbestimmt. Damit passt sie gut zu der Zeit unserer Generation. Gerade die Spoken Word-Kategorie erleichtert den Zugang zur Poesie. Wir bücken uns nicht mehr einsam über dicke Bücher und entziffern die schwere Vergangenheit, sondern finden in heiteren Bars zusammen, wo uns junge Leute mit Wortgewalt und spitzer Zunge erfrischen.

Die Ohren sind die ersten Adressaten

Nora Gomringer ist eine dieser jungen Sprachkünstlerinnen. Die deutsch-schweizerische Autorin “rezitiert, schreibt und liest preisgekrönt vor”. 2015 räumte sie den Ingeborg Bachmann-Preis ab und am Literaturfestival Solothurn wird sie für uns aus ihrem neuen Buch ach du je lesen. Verlegt wurde ihr neustes Werk in der Rubrik: spoken word edition beim gesunden Menschenversand. „Spoken Word, das ist der Dachbegriff für all die Formungen, die in den letzten Jahren entstanden sind und als ersten Adressaten das Ohr und nicht das Leserauge haben“, erklärt Gomringer.

Stilistisch ist das neue Buch sehr variantenreich. Manchmal bestehen die einzelnen Texte nur aus knappen, kargen Worten und manchmal erzählen sie über mehrere Seiten märchenhaft mystische Geschichten.

Die Jurymitglieder des Bachmannpreises priesen ihren Vortrag als „ein gelungenes Hörspiel mit nur einer Instrumentalistin“ und lobten den „ständigen Perspektivwechsel und die einzigartige Stimmenpolyphonie“.

Senser wird nicht von der Form beherrscht, sondern sie von ihm

Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die Palette an Lyrik in den letzten Jahren enormen Zuwachs gewonnen hat. Doch die Sprechtexte verdängen die traditionelle Lyrik nicht. Der Schweizer Lyriker Armin Senser zeigt mit seinem neuen Werk, dass traditionelle Lyrik und Spoken Word durchaus nebeneinander bestehen können. Auch wenn der Buchdeckel seines neuesten Werkes auf den ersten Blick etwas esoterisch angehaucht wirken mag, verbirgt sich dahinter doch viel mehr.

Die Gedichte in seinem Band Liebesleben — in dem der Leser immer und immer wieder die Liebe sucht, sie aber irgendwie nicht findet — sind alphabetisch geordnet, ziehen sie sich meist über mehrere Seiten. Dabei scheinen sie keinerlei Form einhalten zu wollen. Armin Senser wird nicht von der Form beherrscht, sondern sie von ihm. So scheinen seine Gedichte sehr unkonventionell aufgebaut zu sein und erinnern oftmals mehr an Prosa. Er baut viel direkte Rede ein, viele Dialoge, wobei er sehr politische, philosophische aber auch private Fragen aufwirft. Hinter einer vielleicht beabsichtigten, vielleicht unbeabsichtigten Oberflächlichkeit, in der einem seine Gedichte auf den ersten Blick erscheinen mögen, verbirgt sich ein sehr tiefer Intellekt.

Nora Gomringer und Armin Senser könnten unterschiedlicher nicht sein, und trotzdem sind sie beide Künstler. Sprachkünstler, die beide Lyrik produzieren und leben.

Poesie soll erfrischen, zum Nachdenken anregen, neue Perspektiven zeigen, einen Nerv treffen. Und unterhalten. Dafür gibt es heute etliche Möglichkeiten, wahrscheinlich mehr denn je. Lyrik heute ist eine Antwort und eine Frage an das Hier und Jetzt, eine Reaktion auf unsere Zeit, ein Bedürfnis, das befriedigt werden will. Poesie lädt ein zu einem Abenteuer.

Viel Abenteuer gibt es daher bestimmt auch an den Literaturtagen:

Nora Gomringer: Freitag, 09:00 Lesung Cantina del vino

Freitag, 16:00 Lesung Landhaussaal

Armin Senser: Samstag, 17:30 Uhr Aussenpodium Klosterplatz

Sonntag, 13:00 Uhr Poesiesalon im Stadttheater

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