Mehr sehen in der Dunkelheit

Kopfkino in seiner reinsten Form

Tabea Wullschleger
Solettres | Universität Basel
2 min readMay 7, 2016

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Ein Beitrag von Livia Willi

Zum Glück gab es in der Lesung von Nora Gomringer keinen Platz mehr für mich. Ich wäre sonst nicht zur Lesung im Dunklen gegangen, die zur gleichen Zeit stattfinden sollte. In letzter Minute werde ich in den stockdunklen Saal geführt. Ja, geführt, weil das ist der Witz der Sache: Man sieht wirklich gar nichts. Nicht, wie gross der Raum ist. Nicht, wie viele Leute sich darin befinden. Gibt es Stühle hier? Es herrscht absolute Orientierungslosigkeit für einen Menschen, der sehen kann.

Ich ertaste einen Stuhl und setze mich. Doch das seltsame Gefühl des Ausgeliefertseins bleibt. Als ich schon fürchte, mich in der Dunkelheit zu verlieren, höre ich die freundliche Stimme der blinden Radiojournalistin Yvonn Scherrer. Sie nimmt mich an der Hand; alles wird gut. Sie liest Lorenz Paulis Gute-Nacht-Geschichten Rigo und Rosa in Brailleschrift. Aber sie liest nicht nur; sie erzählt. Und die Zeit vergeht wie im Flug.

In Erzählungen von Blinden hört man oft: Die anderen Sinne werden wichtiger, wenn man nichts sieht. Man riecht, hört, fühlt besser. Dies bedeutet konkret: Das Vibrieren eines Mobiltelefons stört stärker als sonst. Die Erzählerin selbst nimmt es gelassen. “Da ist aber jemand hartnäckig,” sagt sie freundlich zwischen zwei Sätzen.

Nach der Lesung will sie mit dem ebenfalls anwesenden Pauli über die Illustration des Kinderbuches sprechen. Pauli ist überzeugt, dass Scherrer etwas verpasse, weil die Bilder seiner Ansicht nach sehr gelungen sind. “Meinst du? Du weisst ja nicht, was ich sehe!”, sagt Scherrer und man hört sie schmunzeln.

Und als ich wieder draussen bin, kommt mir ein Elfchen in den Sinn:

Dunkelheit

ermöglicht uns

zu sehen was

wir sonst nie sehen

würden.

Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) bietet den Besucherinnen und Besuchern der Solothurner Literaturtage mit der “Literatur im Dunkeln” einen Literaturgenuss der besonderen Art. Im Palais Besenval finden täglich mehrere Lesungen statt.

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