Von Defoe zum App— wie Kinder lesen

Zukunftsatelier: Wie verändert sich das Leseverhalten der Kinder und was heisst das für die Zukunft?

valerie.muhmenthaler
Solettres | Universität Basel
2 min readMay 7, 2016

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Die Thematik des Vortrags von Christine Tresch ist ambitioniert, die darin enthaltenen, grossen Fragen heute kaum zu beantworten. Vielmehr geht es darum, zur Diskussion anzuregen und Beboachtungen aufzustellen.

Christine Tresch führt uns souverän durch die Geschichte der Kinder- & Jugendliteratur, von Commenius über Basedow zu Wisst, Defoe, Rousseau und H. Meyer. Das Kinder- oder Jugendbuch entsteht als Sachbuch im 17. Jahrhundert als pädagogischer oder theologischer Versuch, dem Kind die Welt näher zu bringen. Heinrich Hoffmanns Struwelpeter (1845) kann als Urtypus des illustrierten Kinder – & Jugendbuches bezeichnet werden. Die Bilder sind hier integraler Bestandteil der Geschichte und nicht mehr nur Anhängsel des Geschriebenen. In den 1960er gewinnt das Bild durch die Massenmedien zusätzlich an Bedeutung. Die Kinder-& Jugendliteratur kann auch als Spiegel der Gesellschaft gedeutet werden.

In heutiger Jugendliteratur wird das noch aus früheren Zeiten stammende Format der Vignette wieder aufgegriffen, die dazu dient, den Text zu illustrieren, ihn zu unterstützen (etwa bei Rose Lagercrantz). Oder die Jugendliteratur dynamisiert den Text ergänzend wie bei Viola Rohner und Dorota Wünsch. Auch die Buntheit und die steigende Frechheit ist zu bemerken, die vor 20 Jahren sicher noch nicht so existierte.

In Sherman Alexies Buch Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers, ein auf wahren Begebenheiten basierender Jugendroman, wird alles bildlich dargestellt. Vor allem die Illustration, die die Gegensätzlichkeit des jungen Sherman und eines weissen Mitschülers verdeutlicht, ist interessant.

Copyright: Valerie Muhmenthaler

Der Roman ist einer der ersten Comic-Romane. Gregs Tagebücher von Jeff Kinney stellen eine erweiterte Form dieses Typus dar. Das Kind hat nach der Lektüre des dicken Buches das Gefühl, viel Gelesen zu haben, obwohl sich die Textmenge in Grenzen hält, weil es im Comic-Stil verfasst ist. Dies ist vor allem für die Leseförderung ein beliebter Effekt. Jedoch ist das Bild kein unproblematisches Medium. Es muss interpretiert, analysiert und gemeinsam erfasst werden.

Der Einfluss der neuen Medien ist heute unübersichtlich. Kinder beschäftigen sich lieber mit Computerspielen und Emma Watson, anstatt Hermine Granger auf dem Papier kennen zu lernen, lautet das allgemeine Vorurteil. Jedoch ist nicht zu vergessen, dass ein Computerspiel oder sogar eine App die Kreativität und visuelle Vorstellungskraft eines Kindes unterstützen können. Laut Tresch ist es wichtig, dass sich Eltern und Kinder gemeinsam mit dem Medienkonsum auseinandersetzen. So lässt sich auch der für Kinder meist schwierige Einstieg ins Buch durch die Kombination von verschiedenen Medien erleichtern — wenn man zum Beispiel zuerst den Film zum Buch schaut. Neue Medien können also durchaus auch etwas Gutes bedeuten.

Christine Tresch gelernte Literaturwissenschaftlerin, arbeitet am schweizerischen Institut für Kinder-& Jugendmedien in Zürich und war u.a. als Redaktorin für die WOZ und SRF2 tätig.

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