Wozu Design?

Produkt ist wichtig — Design auch? Notizen vom zweiten Tag der TNW Europe 2016.

Martin Recke
Still Day One
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3 min readMay 27, 2016

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Design ist ein schwieriges Wort. Viele hören Design und verstehen Photoshop, bunte Bilder, hübsch machen, oberflächliche Ästhetik. Ein fundamentales Missverständnis, aber weit verbreitet.

In der Tech-Branche lässt sich die Bedeutung von Design an einer einfachen Relation ablesen: der Zahl der Designer pro Entwickler. Häufig liegt das Verhältnis von Designern zu Entwicklern bei 1:10. Wenn das so ist, gleicht die Arbeit von Designern mehr der von Feuerwehrleuten, die Brände löschen.

Design findet in solchen Unternehmen trotzdem statt, wird aber dann von Leuten betrieben, die dafür nicht ausgebildet sind. Andy Budd, Mitgründer der UX-Designberatung Clearleft, fordert wenigstens einen Designer pro Two-Pizza-Team, also etwa ein Verhältnis von 1:3 bis 1:6.

Dass es auch komplett anders geht, beweist Booking.com — ohne Zweifel keine schöne Plattform, eher sogar hässlich, wie TNW-Mitgründer Patrick de Laive im Gespräch mit Gillian Tans feststellte, CEO von Booking.com. „Digitaler Brutalismus“ nennt Patrick den Look der Hotelbuchungsplattform.

„Wir hören nicht auf Meinungen“, bekannte Gillian Tans freimütig. „Wir schauen, was unsere Kunden wollen.“ Booking.com sei extrem fokussiert auf seine Kunden und basiere Entscheidungen immer auf harten Daten, nicht auf Meinungen. Auch dies ist Design, wenn auch mit gänzlich anderen ästhetischen Konsequenzen.

Booking.com hat sein ästhetischer Brutalismus bis jetzt anscheinend nicht geschadet. Die Plattform wächst nach wie vor schnell und generiert derzeit eine Million Buchungen pro Tag. Und da es kein zweites Booking.com gibt, ist auch kein A/B-Test möglich, mit dem sich beweisen ließe, dass Schönheit lohnen würde.

Wenn Design das Produkt ist, wie Andy Budd meint, dann kann ein erfolgreiches Produkt offensichtlich auch hässlich sein. Jedenfalls, wenn der Kunde auf Schönheit keinen gesteigerten Wert legt. Ein User Interface (UI) und die User Experience (UX) können trotzdem funktionieren.

Ist also die von Andy Butt geforderte Quote also eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Designer? Eher geht es um ein unterschiedliches Verständnis von Design. Produktdesign ist weit mehr als oberflächliche Ästhetik. Produktdesign greift tief in die gesamten Funktionszusammenhänge ein, gestaltet Funktionen von Seiten der UX.

People first, so lautet die gestalterische Maxime von Facebook, sagt Julie Zhuo, VP of Product Design. Gutes Design löst die richtigen Probleme für die Leute. Harte Daten sind schlicht mehr Indizien, mehr Material. Um Probleme zu verstehen, ist es nötig, mit den Leuten zu reden und möglichst viel vom Kontext zu begreifen. Empathie und Intuition heißen die Stichworte.

Daten

Schauen wir uns einen zweiten Aspekt an: die Daten. Amazon-CTO Werner Vogels unterscheidet entlang der Zeitachse zwischen Daten aus der Vergangenheit (Analyse), der Gegenwart (Dashboards) und der Zukunft (Vorhersagen).

Daten aus der Vergangenheit sind der Rohstoff für Vorhersagen, die sich wiederum mittels Machine Learning (ML) erzeugen lassen. Dazu entwickelt Amazon Modelle und testet sie, bis die Ergebnisse hinreichend überzeugen können. Zahllose Funktionen vor wie hinter den Kulissen nutzen bereits ML, angefangen von den berühmten Kaufempfehlungen über die Erkennung von Missbrauch bis hin zu Prognosen, welche Empfänger wohl eine bestimmte Mail öffnen würden.

Machine Learning: learn your business rules from data (Werner Vogels)

Erfrischend nüchtern verwies Werner Vogels sowohl überzogene Erwartungen an Künstliche Intelligenz (KI) als auch dramatische Befürchtungen einer Machtübernahme durch Maschinen ins Reich der Fabel. Es ist nur Computer Science, stellte er lapidar fest. Es mag wie Magie aussehen, sei es aber nicht.

Sollten Designer programmieren können? Julie Zhuo meint, das sei in jedem Fall nützlich. Ob Programmierer auch etwas von Design verstehen müssen? Angesichts der Zahlenverhältnisse kann das jedenfalls nicht schaden. Und zwar unabhängig davon, ob die Schönheit einer Lösung nun eher in ihrer Funktionalität liegt, wie bei Booking.com, oder in ihrer Ästhetik.

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Martin Recke
Still Day One

Co-founder @nextconf, book author (“Next Level CMO”, “Parallelwelten”), blogger, journalist, political scientist, theologian, singer, father, roman-catholic.