Accessibility ist mehr als nur ein Buzzword — es verändert Alltage
Welche Verantwortung wir als Designer*innen haben und warum Accessibility mehr ist als der richtige Kontrast.
Hach die digitale Welt, so bunt, so frei, so offen und zugänglich für alle… naja fast. Beim Entwickeln von digitalen Produkten arbeiten viele Unternehmen mit Personas, aber wie oft beinhaltet deine Persona Gruppe auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen (betrifft etwa 1.661.142 Menschen in Deutschland) oder Menschen mit eingeschränkten Sehfähigkeiten (etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland laut DBSV)? In den meisten Unternehmen leider immer noch viel zu selten. Dabei sind wir alle sogar gesetzlich dazu verpflichtet, barrierefreie Produkte zu erstellen… naja fast.
In den 2000er Jahren kam Bewegung in die Gesetzgebung, so wurde 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), 2006 die Barrierefreiheit-Informationstechnik-Verordnung (BITV) und 2006 — ab 2009 in Deutschland rechtsgültig — die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet. Alle drei Verordnungen besagen unter anderem, dass digitale Angebote für alle Menschen ohne Einschränkungen zugänglich gemacht werden müssen und sie demnach ihr Grundrecht auf Teilhalbe an der Gesellschaft uneingeschränkt wahrnehmen können. Die Gesellschaft ist dazu verpflichtet, dass Barrieren in allen Lebensbereichen abgebaut werden. Dies gilt für die Bereiche von Beruf und Bildung, ebenso wie für die Politik und das kulturelle Leben. Das Ziel hierbei ist, eine inklusive Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderung von vornherein mitbedacht und nicht ausgegrenzt werden. Die UN-Behindertentrechtskonvention besagt hierzu:
““Universelles Design” bedeutet, ein Design von Produkten, Umfeldern und Programmen und Dienstleistungen in der Weise, dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder eine spezielles Design genutzt werden können. “Universelles Design” schließt Hilfsmittel für bestimmte Gruppe von Menschen mit Behinderung, soweit sie benötigt werden, nicht aus”
— Artikel 2, UN-Behindertentrechtskonvention“Allgemeines Verpflichtungen
Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderung ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten:
(f) Forschung und Entwicklung für Güter, Dienstleistungen, Geräte und Einrichtungen in universellem Design, wie in Artikel 2 definiert, die den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung mit möglichst geringem Anpassungs- und Kostenaufwand gerecht werden zu betreiben oder zu fördern, ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern und sich bei der Entwicklung von Normen und Richtlinien für universelles Design einzusetzen.”
— Artikel 4, UN-Behindertentrechtskonvention
Dies war und ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, nur leider beziehen sich all diese Gesetze nur auf Ämter, Behörden und öffentliche Einrichtungen und auch diese sind oftmals nur halbherzig darum bemüht, diese Gesetze auch vollständig umzusetzen, so lange das gesetzliche Minimum erreicht wurde. Aber wird “das gesetzliche Minimum” auch wirklich den 7,8 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung (hinzu kommen noch die Personen die temporär eingeschränkt sind), die in Deutschland auf barrierefreie Produkte angewiesen sind, gerecht?
Ein Beispiel für dieses Minimum sind die Websites von manch einer deutschen Stadt. Bei denen gibt es zwar die Auswahlmöglichkeit der Leichten Sprache, jedoch bezieht sich diese nicht auf alle aktuell relevanten Nachrichten der Startseite.
Sieht man sich die Entwicklung aber jenseits dieses “gesetzlichen Minimums” an öffentlichen Einrichtungen an, scheint das Thema zumindest in Deutschland keine große Rolle zu spielen. Wirft man hingegen einen Blick in die USA, lässt sich eine andere Entwicklung beobachten. Hier werden immer mehr Accessibility Manager*innen eingestellt, um Klagen wegen nicht beachteter Barrierefreiheit zu verhindern.Ein Beispiel hierfür ist die Klage an die Sängerin Beyoncé, die 2019 große Wellen schlug, da ihre Webseite nicht barrierefrei für blinde Menschen war und somit gegen den The Americans with Disabilities Act (ADA) verstoßen hat.
Auch gehen immer mehr Unternehmen mit einem positiven Beispiel voran. So integrierte Twitter die Möglichkeit, einen bildbeschreibenden Alt-Text bei von Usern hochgeladenen Bildern zu hinterlegen, um so eine bessere Nutzung für blinde Menschen zu ermöglichen. Playstation brachte vor kurzem mit dem Spiel “The Last of Us Part 2” sogar ein Videospiel auf den Markt, welches über mehr als 60 Accessibility Features verfügen soll, die sich an die Bedürfnisse von motorisch und auditiv beeinträchtigen Spieler*innen richten und somit sogar blinden und sehbeeinträchtigten Spieler*innen ein einzigartiges Spielererlebnis ermöglichen.
Soziale Verantwortung
Um dem gesetzlichen Ziel auch Abseits von öffentlichen Auftraggeber*innen gerecht zu werden, ist es an der Zeit, dass wir als Designer*innen darüber informiert sind, was dieses ganze Accessibility-Thema überhaupt bedeutet und dass es eben kein nice to have sondern ein must have in jedem Produktzyklus ist!
Denn unsere Designentscheidungen und Beratung dem Kunden gegenüber, kann darüber entscheiden ob 28,5 Millionen Deutsche auf Grund ihrer Weitsichtigkeit ein Problem mit unserer zu klein gewählten Schrift bekommen, 3,2 Millionen Männer mit einer Rot-Grün-Schwäche Probleme mit falsch gewählten Kontrasten bekommen, ist unsere Website nicht per Tastatur steuerbar, so können sie ca. 3,8 Millionen Menschen, die von Blindheit oder motorischen Beeinträchtigungen betroffen sind nicht nutzen und beinhaltet unsere App oder Webseite eine schlecht durchdachte Navigation, brechen potenziell 1,6 Millionen Menschen mit einer kognitiven Einschränkungen frustriert die Nutzung ab.
“Disability is the inability to accommodate poor design”
— Prof. Gregg Vanderheiden, University of Wisconsin
Diese Beispiele ließen sich noch um viele Punkte erweitern. Wichtig ist, dass alle Menschen, die Produkte, Räume, Anwendungen u. ä. für andere gestalten und entwickeln, sich bewusst machen, welche Verantwortung sie tragen. Denn in den meisten Fällen wird Behinderung im Entwicklungsprozess konstruiert.
Barrierefreiheit ist zudem nicht nur ein Thema für Menschen mit Behinderung, sondern auch Senior*innen und auch temporär eingeschränkte Personen profitieren davon. Es ist auch nie auszuschließen, dass man selbst nicht irgendwann auf barrierefreie Dienste und Anwendungen angewiesen sein wird.
Digitale Teilhabe
Vielen Menschen ist garnicht bewusst, welchen wichtigen Stellenwert digitale Anwendungen für Menschen mit Behinderung haben. So herrscht immer noch bei vielen das Bild im Kopf, dass zum Beispiel Menschen mit einer geistigen Behinderung keine online Medien oder Apps nutzen und dazu eventuell auch gar nicht in der Lage wären. Laut eines Forschungsbericht der Aktion Mensch aus dem Jahr 2016 nutzen 43% der befragten Personen mit einer geistigen Beeinträchtigung ohne erweiterte Lesefähigkeiten das Internet (62% mit erweiterten Lesefähigkeiten) und 36% der befragten verfügen über ein Smartphone. Es ist davon auszugehen, dass im Laufe der vergangenen Jahre diese Zahl noch weiter gestiegen ist.
Kein Gerätetyp war jemals so erfolgreich und verbreitet wie das Smartphone. Durch das Smartphone und Tablet bieten sich für Menschen mit einer Behinderung ganz neue Möglichkeiten. Da sie ohne weitere Hilfsmittel wie Maus oder Tastatur bedient werden können, kommen beispielsweise manche Menschen mit einer geistigen oder motorischen Beeinträchtigung teilweise besser mit der direkten Bedienbarkeit zurecht. Die gesellschaftliche Teilhabe funktioniert immer mehr über diese Geräte und digitale Medien. Menschen nutzen das Internet, um sich über aktuelle Geschehnisse, Hobbys, Politik und Freizeit zu informieren. Es bietet uns aber auch eine große Hilfe im Alltag beim Online Banking, Fahrauskünfte einholen, online Arzttermine buchen oder online Shopping etc. So erleichtern online Terminvergaben wesentlich den Alltag von Menschen mit einem Verlust des Hörvermögens, da diese nicht mehr auf telefonische Terminabsprachen angewiesen sind. Das Internet und seine Anonymität bietet dabei auch Schutz vor der Stigmatisierung anderer.
Eine Behinderung des Zugangs zu diesen Möglichkeiten ist auch immer eine Beeinträchtigung der Teilhabe an der Gesellschaft und kann auf lange Sicht zu einem Ausschluss von dieser führen. Die Notwendigkeit der Vermeidung solcher Barrieren wird in den kommenden Jahren noch steigen, wenn voraussichtlich noch mehr menschliches Personal durch technische Alternativen ersetzt werden.
“Menschen werden von ihrem sozialen Umfeld und ihrer aktuellen Situation behindert oder eben nicht. Verändern sich die äußeren Einflussfaktoren, ändern sich gleichzeitig der Grad oder die Art der “Behinderung” für die Betroffenen.”
— Christina Schwarzer, Lebenshilfe Berlin
Da Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Einschränkung auch immer Experten*innen in eigener Sache sind, ist es besonders wichtig, sie bereits früh im Design Prozess wie z. B. bei User-Testings und Interviews zu integrieren. Wir müssen deutlich mehr darauf achten, dass unsere Personas und Fokusgruppen diverser werden, um so den Bedürfnissen aller ansatzweise Gerecht werden zu können.
Accessibility bedeutet nicht nur sicher zu gehen, dass die Schrift groß genug ist oder der Kontrast stimmt, sondern auch dass unsere Produkte mit assistiven Technologien wie einem Screen Reader, einer Braille Zeile oder einer Umgebungssteuerung nutzbar sind.
Und hier noch ein Tipp: Wenn du dir nicht sicher bist, ob deine Webseite oder App barrierefrei ist, dann ist sie es vermutlich nicht! 🤷♀️