Elena Theis
TinyTravels
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5 min readMar 31, 2017

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La Vida Loco(more)

Let the Locomore adventure begin! Die orangefarbenen Wagons erinnern bei der Einfahrt am Bahnhof eher an einen indischen Bummelzug – zumindest stelle ich mir genauso indische Bummelzüge vor. Ob ich mit meiner Vermutung richtig liege, erfahre ich evtl. noch dieses Jahr, aber dazu ein anderes Mal.

Ich schiebe mich und mein Gepäck durch die Gänge. €35 habe ich für die Fahrt von Berlin nach Heidelberg bezahlt. Was kann man da erwarten? Der erste Eindruck ist, naja, sagen wir verhalten. Old school Reise-Feeling – könnte man es optimistisch nennen. Oh man, wann bin ich eigentlich zu solch einem Travel-Yuppie mutiert? Diese Frage vertage ich erst mal auf später… zurück zu meiner “Reise in die Vergangenheit.”

Mein in die Jahre gekommener Wagon versprüht einen Hauch von Klassenfahrt-Charme. Ebenso wie das Grüppchen, mit dem ich mir ein Abteil teile. Eigentlich hatte ich einen Platz im Großraumabteil reserviert, zumindest sah das für mich bei der Buchung so aus. Als ich jedoch bei Platz 22 in Wagen 2 ankomme, zeigt sich ein anderes Bild und so verstaue ich mich und mein Gepäck stattdessen widerwillig in einem 5-er Abteil.

Meine Begeisterung steht mir ins Gesicht geschrieben…

Mit mir nehmen noch 2 weitere Menschen im Abteil Platz. Ein Pärchen – frisch verheiratet wie ich schnell aus dem Gespräch mit der Freundin, die an der nächsten Haltestelle zusteigt, erfahre. Noch dazu ist der weibliche Teil des Pärchens hochschwanger und so dreht sich der Großteil der Gespräche um genau ein Thema. Schwangerschaft. Ich hole meine Kopfhörer aus der Handtasche und mache Musik an… Kurz darauf folgt ein kleiner Glücksmoment, als ich nämlich feststelle, dass nicht nur mein Gepäck, sondern auch noch mein Kaffeebecher und ich farblich bestens zum Interieur passen…

10 Minuten später – irgendwo in Brandenburg – gesellt sich dann Jens zu uns – ein Freund der Freunde, der auf dem Weg zu seiner Freundin in Heidelberg ist. Jippie, der erhöhte Testosteron-Spiegel im Abteil bedeutet immerhin das Ende der Schwangerschafts-Gespräche. Meine Freude hält allerdings nur kurz an, denn schnell stellt sich heraus, dass Jens bald heiratet… und somit redet man nun über — na? Richtig: Heiraten! Ich drehe die Musik lauter… Mit Bon Jovi auf den Ohren fahren wir in Wolfsburg ein. Ich freue mich über den kurzen LTE Empfang (WLan ist nämlich nicht) ebenso wie über den Windhauch, der durch den Wagon zieht, während die Zugtüren geöffnet sind. Seit wir Berlin bei 20 Grad verlassen haben läuft nämlich die Heizung in unserem Abteil – auf Hochtouren! Time for a little nap – mal schauen, welche Überraschungen mich in den nächsten 4 Stunden noch erwarten. Es sollte schneller amüsant werden, als gedacht.

Kurz hinter Hannover läuft eine attraktive Dame mit kurzem Rock und hohen Schuhen an unserem Abteil vorbei… das ist auch Jens nicht entgangen. Aber noch bevor er seinen Kopf komplett aus der Tür gereckt hat, erreicht ihn ein mahnender Schulterboxer der mitreisenden Kumpeline. „Was denn… man wird ja wohl mal gucken dürfen“, rechtfertigt sich der Bräutigam in spe. Manche Dinge erledigen sich einfach von alleine, denn über die bevorstehen Hochzeit traut sich nun keiner mehr zu sprechen — sehr zu meiner Freude, wie ich gestehen muss. Die Stille im Abteil lässt mich dann doch endlich mal kurz einnicken…

Tja, und dann kommt irgendwann dieser Moment, in dem ich eigentlich nur auf der Suche nach dem “Gastro-Wagen” bin — den es nicht gibt — und dabei ganz nebenbei feststelle, dass ich seit 3,5 Stunden zwar auf dem richtigen Platz, aber leider im falschen Wagon sitze… Oh man, typisch Theis!

Und auf einmal macht auch meine Verwirrung Sinn — und mein Locomore Bild verbessert sich schlagartig um 1000%. Mein “richtiger” gebuchter Platz im klimatisierten Großraum ist nämlich tatsächlich ein solcher und hat zudem auch noch weiche, bequem aussehende Sitze, Steckdosen und WLan. Ich überlege kurz, ob es den Aufwand lohnt, mein Gepäck aus dem Sperrsitz-Wagen am anderen Ende des Zuges zu holen — und entscheide mich dagegen.

Ja klar, hier gibt es weder WLan, noch Klimaanlage oder Steckdosen — aber dafür fühlt sich das Reisen echter und lebendiger an. Bis heute hatte ich nämlich komplett vergessen, dass es mal Zeiten gab, in denen man die Temperatur im Zug noch selbst regulieren konnte… in dem man einfach das Fenster öffnet — sogar bei voller Fahrt, verrückt! Und ja, beim Durchfahren eines Tunnels mit geöffnetem Fenster fallen einem die Ohren zu. So what? Genau das macht mir gerade unsere Reisegeschwindigkeit bewusst und erweckt eine Sehnsucht nach Lebendigkeit in mir, die weder durch Bequemlichkeit noch durch Komfort zu stillen ist. Und auch wenn ich mich noch vor einigen Minute über die Schwangerschafts- und Hochzeitsgespräche beschwerte, weiß ich diese in genau diesem Moment sehr zu schätzen, denn in unserem “Sperrsitz-Abteil” unterhalten sich tatsächlich Menschen miteinander, während in den “Luxus-Wagons” alle nur auf ihre Bildschirme starren.

Und so wandere ich zufrieden zurück zu meinem “falschen Platz”… Unterwegs finde ich dann auch doch noch den Bord-Kiosk. Hier gibt es nicht nur Bio-Kaffee, sondern auch einen super Typen, der diesen in meinen Bambus-Becher füllt. Auf dem Rückweg entdecke ich dann noch den mobilen Kaffee-Wagen, der Snacks und Getränke am Platz serviert, Themen-Abteile, in denen Menschen mit ähnlichen Interessen sitzen und sich unterhalten und schließlich den Familienwagen, in dem Kinder auf viel Platz Bücher lesen und mit Bausteinen und Holzeisenbahn spielen. Keine Spur von “Wann sind wir denn endlich da”-Gequängel, stattdessen blicke ich in strahlende Augen. So schön, dass ich mich genau hier an einem Tisch mit Steckdose und WLan niederlasse, um diese Zeilen zu tippen. Noch habe ich eine Stunden Fahrt vor mir, aber schon jetzt kann ich sagen: Das ist wirklich Bahnfahren neu gedacht und hier ist für jede/n etwas dabei — und all das fair, ökologisch und günstig!

Mein absolutes Fahrt-Highlight sind jedoch die Zugbelgeiter! Jede/r einzelne hatte ein freundliches Wort und ein Lächeln auf den Lippen.

See you again an Bord, living la vida loco(more) — Ich bin begeistert!

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Elena Theis
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The girl with the 🌺 in her hair. Berlin-based vegan writer & artist. Food, travel & coffee lover. Plant-based around the 🌏 www.anasha.de