“Freedom to ashes” by Katja Kresnik

Dystopie — oder: warum es sich wieder lohnt, ein “grübelnder” Autor zu sein

“Anti-Utopien” schützen vor Trumpismus: Dystopien sind mehr als ein “Teenie-Hype”

Alexander Batel
Buch & Mehr
Published in
4 min readApr 23, 2017

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In den letzten Jahren schien das Genre der Dystopie - der Schreckensvision der Zukunft - nur noch darauf beschränkt zu sein, als Sinnbild dafür zu dienen, wie Heranwachsende sich gegen elterliche Autorität und Engstirnigkeit auflehnten. Meist hübsch verpackt in einer Rebellion gegen autoritäre Regime, so bei Tribute von Panem* oder der Maze Runner-Reihe*.

Positiv anzurechnen sei den Werken sicherlich, dass Diktaturen als Sinnbild der Unfreiheit plakativ dem Zuschauer präsentiert wurden. Doch tiefsinnige Gedanken und düstere Visionen der Zukunft, die einem den Schauer über den Rücken laufen lassen würden, waren zumeist gut versteckt. Ob zwischen den Zeilen versteckt oder in den Hochglanz-Covern und -Plakaten wegretuschiert.

Stefan Mesch von der ZEIT stellte bereits 2013 bissig fest, dass ein Merkmal in den bekanntesten Werken der letzten Jahre hervorstach und die Prota-gonisten zum Aufbegehren brachte:

“So lange mich krass unfaire Hegemonien beherrschen, darf ich nicht knutschen.”

Sicherlich ist diese Aussage mehr bezugnehmend auf die hochglanzpolierten Filme, die nach Möglichkeit nicht “anecken” sollen. Die Romane gewährten ihren Charakteren weitaus mehr Tiefgang, steckten auch den Finger plausibel in Wunden derjenigen, die sich nun in der Gegenwart anschicken, die Geschichte zu ihren Gunsten zu ändern.

Doch warum muss es in einer fernen Zukunft sein? Gewagte Spiele in fernen Dschungeln? Dürfen nur Kinder kämpfen und Erwachsene sollten sagen: “Tja, da kann man nichts machen…”?

Ist unsere Gegenwart etwa derart utopisch geworden, dass sie keine Grundlage mehr für Geschichten des Schreckens bieten?

Marc Elsberg hat hier eine Marktlücke gefunden:

Der dystopische Action-Thriller. Mit Werken wie BLACKOUT* oder ZERO* versucht er akribisch die Gegenwart zu analysieren und überträgt das “Machbare” in eine nahe Zukunft, die so nah und doch so fern scheint.

“Nein, so etwas kann und darf nicht geschehen”, sagt sich der verständige Mensch. Der Optimist sagt: “Ach, es wird doch nichts schlimmes geschehen. Und außerdem wissen die ja, was gut für uns ist.”

So geschah der 9.11.2016.

Gilt es jetzt nun aktionistisch Themen zu schreiben? Gar die “erwachsene” Dystopie als neues Hype-Genre anzusehen? Oder Action-Thriller à la Elsberg?

Gemach, Schreiber und Leser, gemach.

Die gute alte Schule

Thriller der Elsbergschen Schule scheinen doch nicht das “Wahre” zu sein: Ihnen fehlt eine entscheidende Komponente — die Zeitlosigkeit des Werkes und der universelle Schrecken, der allen Unrechtssystemen den Spiegel vorhält.

Wie so oft gilt es sich zunächst anzuschauen, was gerade die Großmeister der Dystopie wie Orwell mit “1984”* und “Farm der Tiere”*, oder Bradbury mit “Fahrenheit 451”*, oder Huxley mit “Brave New World”* so anders machten, dass sie zu Klassikern der Weltliteratur heranwuchsen.

Man kann es schnell, ohne Umschweife, zusammenfassen:

Philosophischer und psychologischer Tiefgang. Und Allgemeingültigkeit für verschiedene Zeitepochen und unterschiedliche Machtsysteme.

Bei Orwell war es die Analyse dessen, dass Sprache ein Instrument der Macht und Unterdrückung darstellt, Lügen zu Wahrheiten zu verkehren. “Krieg ist Frieden”, “Unwissenheit ist Stärke”, “Freiheit ist Sklaverei” sind die Kernaussagen des Regimes im Roman. Die meisten Rezeptionen zum Zeitpunkt des Erscheines dieses zeitlosen Meisterwerks, sahen in den Worten einen Abgesang auf das totalitäre Überwachungs- und Unterdrückungsregime der Sowjetunion. Doch Orwell zeigte auch auf, dass Demokratien für genauso viel Leid verantwortlich sein und den Aufstieg von Demagogen begünstigen können, wie Autokratien.

Die Kunst, die dieser und andere Meister vollbrachten, war, dass diese “Essenzen der Wahrheit” unterschiedlichsten Gesellschaftsmodellen übergestülpt werden konnten und so Unzulänglichkeiten offenbart wurden.

Wie sonst soll man beispielsweise die Sprachentwicklung der US-amerikanischen Regierung verstehen:

Der SPIEGEL analysierte zutreffend, wie nun Sprache von den “Trompeten des Trumpismus” umgekehrt wird: Lügen werden zu “alternativen Fakten”, die Wirklichkeit zu einer Erfindung des linksliberalen “Establishments” erkoren. Ein Bann ist kein Bann, der Feind von gestern der Freund von morgen und umgekehrt. Hauptsache die eigene Tasche wird gefüllt.

Doch liest man heutzutage häufig:

Dystopien wünsche sich der Leser nicht. Es sei zu anstrengend, zu wenig massentauglich. Man wünsche sich “leichte Kost”.

Sicherlich wird der homo socio oeconomicus oder homo smartphonensis schnell an Grenzen stoßen, wenn er nur noch kurze Snippets und Blogbeiträge gewohnt ist. Aber denkt der Verfasser nicht zu klein und sogar schlecht von seiner potenziellen Leserschaft, wenn ihnen keine Denkaufgaben mehr zugemutet werden? Handelt nicht der Verleger gegen eigene wirtschaftliche Interessen, wenn er nur noch Konsensprodukte dem Massenmarkt andient und so das Bedürfnis nach Büchern sinkt, wenn die eigene Kundschaft nur noch in einer “Filterblase” lebt?

Dystopie in der heutigen Zeit

Bitte verwechselt Qualität nicht mit einem trockenen Zwieback:

Ein “bedeutungsschwangerer” dystopischer Roman soll nicht einer Schachtelsatzwüste gleichen oder der Vorhölle eines pedantischen Linguisten entsprungen sein, der Sätze und Romane als Folterinstrumente missversteht; aber zugleich glaubt: Als Sprachwissenschaftler schreibt man automatisch einen guten Roman, nur erkenne niemand dieses unverkannte Genie.

Man solle diesen Beitrag so verstehen, dass Leser und Schreibende risikofreudiger sein sollten. Mehr zu wagen, mehr Symbolik zu platzieren und zu suchen. Mehr davon in den Alltag zu übernehmen.

Denn eins gilt allgemein:

Im Roman beginnt die Schaffung einer besseren Realität im Hier und Jetzt. Und nur wenn wir bereit sind, den Finger auch in Wunden zu legen, so können wir gemeinsam unsere Freiheit und den Frieden bewahren.

Denn vor Taten stehen Worte. Und kluge Worte sind Messer im Fleische Drei-Wetter-Taft-liebender Trumpisten.

Für die Freiheit. Doppelplusgut.

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Alexander Batel
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Wortschmied und Buchstabenschwinger +++ Autor — SciFi & Fantasy +++ Impressum: http://on.fb.me/1KF1rIp