Marken sind die neue Religion!

Charlotte Marxen
DIE VERANTWORTLICHEN
3 min readDec 9, 2018

Über die schier unfassbare Verantwortung, die Marken eigentlich tragen (müssten). Oder: wie mich ein zwei Jahre alter Artikel an meinem kritischen Verstand zweifeln ließ.

Marken soweit das Auge reicht, im Zentrum unseres Alltags. Photo by Joshua Earle on Unsplash

Ich bin schockiert. Ich gebe offen und ehrlich zu, dass ich mich selten so über meine eigene Einschätzung und Wahrnehmung erschrocken und zur selben Zeit geschämt habe. Doch schenken Sie mir zunächst einen Absatz lang Ihre Aufmerksamkeit, um Ihnen zu erklären wie dieser peinlich berührte Schockmoment zustande kam.

“Super Artikel — unbedingt lesen!”, mit diesen Worten leitete ich noch vor gut einem Jahr begeistert und überzeugt einen Artikel an einen meiner Founder weiter, zu dieser Zeit arbeitete ich als Brand und Content Managerin eines jungen, schnell wachsenden Startups. “Mehr Rückgrat: Marken müssen (wieder) zu Kulturträgern werden!”, lautete der fordernde und scheinbar plausible Titel des Artikels. Verfasst wurde der Gastbeitrag von Vincent Schmidlin und Jonas Gorris, Chief Startegy Officer und Strategy Consultant der Beratung Vorn Strategy Consulting. Zusammengefasst beschreiben die beiden Autoren das enorme Potenzial für Marken in einem gesellschaftlichen Kontext Relevanz zu erlangen, indem sie mit starken Werten eine verlässliche Marke bilden.

Klingt so weit harmlos, oder? — Ja, das dachte ich auch. Meine Begeisterung verschaffte sich der Artikel nämlich durch die scheinbar harmlose Grundidee, dass Unternehmen klare Werte vertreten sollten, mit dem Ziel mehr zu sein als eine simple Palette von Produkten, sondern eben Kulturträger, eine Institution, die in der Gesellschaft Diskurs schafft, soziale Verantwortung trägt und positive Weltbilder prägt. Dies ist übrigens, bis heute, eine Grundidee, die ich vertrete und verteidige. Was mich an diesem Artikel jedoch schockierte ist die Erklärung für die Grundlage, die Unternehmen eben dieses Potenzial zur Entwicklung zu Kulturträgern und gesellschaftlich relevanten Institutionen verschafft. So erklären die Autoren:

“Wir leben in unsicheren Zeiten: Kriege, Terror, Flüchtlinge. Brexit, Trump, Höcke. Hass, Abneigung, Spaltung. TTIP, Diesel-Gate, Digitalisierung — Unruhe allerorten. Dabei waren die Einschläge immer näher gekommen und erreichten uns im letzten Jahr nun endgültig. Unsere heile Welt, unser subjektiver Mikro-Kosmos der Glückseligkeit wurde ernsthaft erschüttert. …
Diese gesellschaftliche Spannung bietet Marken selten dagewesenes Potenzial, Bedeutung im Leben ihrer Kunden zu erlangen. Denn starke Marken sind Kulturträger. Sie können eine Ideologie vertreten und unmissverständliche Werte verkörpern. So können sie sich zu kulturellen Symbolen entwickeln und Teil einer Bewegung werden, sie sogar führend mitgestalten.”

Auf der Suche nach einem neuen Leitbild? Photo by Zoe Holling on Unsplash

Also, wenn ich das richtig verstehe, sollen Marken nun ihren Kunden, ja der Gesellschaft, Halt und Leitbild bieten — in Zeiten von Kriegen, Trump, AfD und Co.? Doch warten Sie … gab es da nicht eigentliche andere Körperschaften, die sich um den Zusammenhalt, Sicherheit und das Wohlbefinden einer Gesellschaft kümmern sollten? Wie zum Beispiel ein demokratisch gewähltes Parlament, eine unabhängige Presselandschaft und meinetwegen, wenn auch in den letzten Jahrzehnten immer öfter in Frage gestellt, die eigene Religion?

Erst die Frage nach der hiermit einhergehenden Verantwortung ließ mich diesen Artikel und diese Forderung aus einem radikal anderen Blickwinkel betrachten. Und so kam ich nicht umhin mich zu fragen: Bedeutet diese ‘Leitbild-Lücke’, dieses neue Potenzial für Unternehmen etwa, dass sich Journalismus und Politik nicht mehr in der Verantwortung sehen? Oder wurden sie dieser schleichend beraubt? Oder trauen wir, die Gesellschaft, Marken heute mehr als unseren eigens demokratisch gewählten Vertretern?

Zwar bin ich immer noch der Überzeugung, dass auch Unternehmen — besonders in unsicheren Zeiten — Haltung zeigen und starke Werte vertreten sollten, eben weil sie in der Gesellschaft agieren und somit eben auch gesellschaftliche Verantwortung tragen müssen, ob sie wollen oder nicht. Jedoch habe ich für mich entschieden, dass ich mich viel öfter fragen sollte, weshalb bestimmte Institutionen große, gesellschaftlich relevante Verantwortung tragen, und vor allem was sie mit dieser Verantwortung und all ihren unterschiedlichen Motivationen anstellen.

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Charlotte Marxen
DIE VERANTWORTLICHEN

Digital Consultant, (former) Journalist at heart, Constantly Searching For “WHY”