Mehr als 100 Morde: Warum Niels H. so lange töten konnte

Eva Tepest
upday DE
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3 min readOct 30, 2018

Es ist die wohl größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Am Dienstag gestand der ehemalige Krankenpfleger und verurteilte Mörder Niels H. vor dem Landgericht Oldenburg den Mord an 100 Patienten. Warum wurde er nicht früher aufgehalten?

Niels Högel zum Prozessauftakt in Oldenburg. Foto: Julian Stratenschulte/dpa Pool/dpa

Am Dienstag begann der zweite Prozess gegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels H. Bereits 2015 wurde er wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Zum Prozessauftakt in der Oldenburger Weser-Ems-Halle gestand Niels H. nun, 100 weitere von ihm betreute Patienten getötet zu haben. Er spritzte ihnen Medikamente, die Herzversagen auslösten. “Es war der Stress”, so Niels H. zu Beginn des Mammutprozesses.

Mindestens sechs Jahre lang hatte Niels H. während seiner Tätigkeit Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst Patienten vergiftet. In Delmenhorst überraschte ihn 2006 eine Krankenschwester dabei, wie er einem Patienten ein unerlaubtes Medikament spritzte. Zwischen 2006 und 2008 musste er sich zum ersten Mal vor Gericht verantworten und wurde zunächst wegen Totschlags verurteilt. Während des Prozesses blieb Niels H. auf freiem Fuße und arbeitete als Altenpfleger. “Süddeutsche.de” mit einer Chronologie des Falls.

Ans Licht kam das Ausmaß der Verbrechen erst, als die Tochter eines Opfers nachzuforschen begann. Kathrin Lohmann wurde misstrauisch, als sie von der ersten Verurteilung des Pflegers erfuhr. Sie hakte bei Ermittlern und Staatsanwaltschaft nach — und veranlasste durch ihre Unbeirrtheit, dass Ende 2008 das Grab ihrer verstorbenen Mutter exhumiert wird. “NDR.de” mit einem Porträt von Kathrin Lohmann.

Bereits 2015 wurde Niels H. zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Eine härtere Strafe ist im deutschen Strafrecht nicht vorgesehen. Dennoch wird weiter verhandelt, weil die Hinterbliebenen der Opfer Gerechtigkeit wollen. Viele von ihnen sind beim Prozess anwesend, der aufgrund des großen Andrangs in der Oldenburger Weser-Ems-Halle stattfindet. In der “ARD”-Sendung “Panorama 3” berichten Angehörige davon, wie sie mit ihrer Trauer umgehen.

Niels H. gestand beim ersten Mordprozess 2015, dass er nach einem “Kick” suchte und sein handwerkliches Können bei Reanimationen unter Beweis stellen wollte. Wer ist der Mann, der den Tod so vieler Menschen als “Kick” empfindet und der — im Februar 2000 — als 24-Jähriger seinen ersten Mord begeht? Die “Nordwest-Zeitung” über die frühen Jahre des “Todespflegers”.

Niels H.s “Kick” war seine Macht über Leben und Tod. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Patientenmörder vor, aus Langeweile und Geltungsdrang gehandelt zu haben. Davon geht auch der Psychiater Karl H. Beine im Gespräch mit “SPIEGEL ONLINE” aus. Beine glaubt zudem, dass es viel mehr vermeintlichen Helfer gibt, die in Krankenhäusern und anderen medizinischen und Pflegeeinrichtungen ihre Macht tödlich missbrauchen.

Hinweise werden nicht ernst genommen, getreu dem Motto, “so etwas kann es geben, aber nicht bei uns.” Dann entsteht eine Arbeitsatmosphäre, in der die Mitarbeiter, die sich Gedanken gemacht haben, ihre Bedenken nicht mehr äußern.

Niels H. wurde, nachdem ihm in Oldenburg nach mehreren Verdachtsmomenten gekündigt worden war, dennoch in Delmenhorst angestellt. Deutsche Krankenhäuser zogen bislang keine Konsequenzen aus dem Fall. Eugen Brysch, der Vorstand der „Deutschen Stiftung Patientenschutz“, fordert deswegen ein anonymes Meldesystem und eine höhere Zahl amtsärztlicher Leichenschauen.

Das Land Niedersachsen hat immerhin ein neues Krankenhausgesetz verabschiedet, das kommendes Jahr in Kraft treten soll. Es verpflichtet Krankenhäuser dazu, bis 2022 sogenannte Stationsapotheker einzusetzen. Sie sollen Ärzte und Pfleger bei medikamentösen Therapien beraten und darauf achten, wie diese mit Arzneimitteln umgehen. Allerdings ist noch völlig unklar, wer das bezahlen soll.

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Eva Tepest
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Mobile Editor bei Upday Deutschland, evatepest.de, Twitter @EvaTepest