Die US-amerikanische Historikerin Paula F. Fredriksen ist emeritierte Professorin des „William Goodwin Aurelio“-Lehrstuhls an der Universität zu Boston. Sie ist Autorin mehrerer Fachbücher und beriet die BBC bei Fernsehdokumentationen. Sie erlangte ihren Doktortitel der Philosophie im Fach der Religionswissenschaften an der Universität in Princeton und ein Diplom in Theologie an der Universität zu Oxford. 2013 wählte man sie die an die „American Academy of Arts & Sciences“. Aktuell lehrt Paula Fredriksen an der Hebräischen Universität zu Jerusalem in Israel (Foto: privat).

Historikerin Professor Paula Fredriksen:

„Paulus verstand sich als Jude!“

Die Autorin und Historikerin Paula Fredriksen unterhielt sich mit Vision-Herausgeber David Hulme über das Leben, die Zeit und die Welt des Apostels Paulus.

Thomas Raukamp
Vision Journal
Published in
12 min readNov 27, 2016

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Im englischen Original von David Hulme, Übersetzung von Thomas Raukamp

David Hulme | Professor Fredriksen, viele Gelehrte sehen Paulus nicht als Christen, da das Christentum zu seiner Zeit noch gar nicht existierte. Was würden Sie darauf antworten?

Paula Fredriksen | Wir sehen Paulus gemeinhin als Christen, weil wir auf zwanzig Jahrhunderte Entwicklung des Christentums zurückblicken. Aus seinen eigenen Briefen wird jedoch klar, dass er die Welt in zwei Gruppen unterteilte: Die eine Gruppe bildete Israel, die zweite bestand aus allen anderen. Die Gemeinde Christi existierte innerhalb beider Gruppen.

Paulus Weltsicht bestand also aus Juden und Nichtjuden. Und auch den Nichtjuden, wie Paulus sie sah, stand die Verehrung des Gottes Israels durch Christus offen.

Betrachte ich all diese Dinge als Ganzes, glaube ich, dass Paulus sich selbst als Juden betrachtete.

„Paulus war Pharisäer und wurde zum Mitglied einer Gruppe, die sich zu ,Jesus, dem Messias’ bekannte. Er verließ damit aber nicht das Judentum.“

Ist er „konvertiert“?

Paulus konvertierte nicht vom Judentum zu irgendetwas anderem. Er schloss sich vielmehr einer jüdischen Gruppe innerhalb des Judentums an. Er war Pharisäer und wurde dann zum Mitglied einer Gruppe, die sich zu „Jesus, dem Messias“ bekannte. Er verließ damit aber nicht das Judentum.

Von Gottesfürchtigen und Tempel-Touristen

In der Apostelgeschichte lesen wir, dass Paulus auf Leute traf, die Lukas als „Gottesfürchtige“ bezeichnete. Wer waren diese Menschen?

Die Juden der Antike, die in Städten außerhalb ihres eigenen Landes lebten, organisierten sich in Synagogen. Eine Synagoge kann zwar auch ein Gebäude bezeichnen, normalerweise handelt es sich aber um eine Gemeinschaft. Juden, die in Kulturen lebten, die hauptsächlich von Nichtjuden bevölkert waren, luden diese in ihre Gemeinschaften ein, wenn sie sich für sie interessierten. Nicht nur die Apostelgeschichte bezeichnet diese Menschen als Gottesfürchtige.

Es gibt Aufzeichnungen von antiken Heiden, die aus der Bibel hörten und sie verehrten. Und sie hörten daraus, da es ihnen erlaubt war, in die Synagoge zu gehen — genauso wie Juden die damaligen Bäder, Theater, Sportwettkämpfe und Gerichte besuchten, wo die Götter all dieser anderen Nationen fast immer in irgendeiner Form involviert waren. In den Städten der Antike schaute man also gern über den eigenen Tellerrand hinweg und pflegte nicht zuletzt deshalb eine gute Nachbarschaft.

Das antike Judentum ist mehr ein Lebensweg als eine Religion, eine Art und Weise, die Welt und alles in ihr zu betrachten. Wie änderte sich das Leben eines Gottesfürchtigen, der sich von Paulus’ Botschaft überzeugen ließ?

Paulus ging regelmäßig am Sabbat in eine Synagoge irgendwo in der jüdischen Diaspora — und unter seinen Zuhörern waren sicher auch einige Nichtjuden, die das Judentum interessant genug fanden, um ihm zuzuhören. Was sie zu hören bekamen, war eine für sie extreme Form des Judentums, die behauptete, dass der Messias erschienen war und das Ende der Welt nah sei. Aber sie verstanden, worüber Paulus redete, denn sie hatten die hebräischen Schriften ja bereits in der Synagoge kennengelernt.

Der Unterschied zu ihren bisherigen Erfahrungen mit dem Judentum war der, dass Paulus lehrte, dass sie ihre eigenen Götter fortan nicht mehr verehren durften. Dass sie Fleisch, das ihren eigenen Göttern geopfert war, nicht mehr essen durften. Dass sie ab sofort nur noch den Gott Israels verehren sollten — und zwar, indem sie sich in seinen Sohn Jesus Christus taufen ließen.

„Paulus sagte den Nichtjuden im Grunde genommen, dass sie sich wie Juden verhalten sollten. Dann würde auch ihnen die Erlösung zuteil werden.“

Paulus sagte ihnen im Grunde genommen, dass sie sich wie Juden verhalten sollten. Diesen Nichtjuden erzählte Paulus, dass sie ihre Traditionen über Bord werfen und ihre bisherigen Götter vergessen sollten. Dann würde auch ihnen die Erlösung zuteil werden.

Wovon sollten sie erlöst werden?

Auf der einen Seite haben wir es hier mit dem ganz normalen Judentum zu tun. Paulus stand dabei auf dem Höhepunkt einer jahrtausendealten jüdischen Tradition, die vorhersah, dass Nichtjuden Teil des Reiches Gottes würden; während Israel aus dem Exil erlöst werden sollte, würden Nichtjuden von der Anbetung ihrer falschen Götter erlöst.

Paulus verlangte jedoch von ihnen, die Anbetung dieser Götzen bereits in diesem sonderbaren Winkel der Zeit zwischen der Auferstehung und dem zweiten Kommen Christi, also noch bevor das Reich Gottes auf Erden erreichtet sein würde, einzustellen. Diese Forderung war weitaus strenger als die, die eine normale Synagogen-Gemeinschaft an ihre nichtjüdischen Sympathisanten richtete. Er sagte im Klartext: „Ich dürft nicht länger euren eigenen Göttern folgen!“ Normale Synagogen würden dies nie tun. Es war daher sehr viel schwieriger — und zudem sozial destabilisierender — als Nichtjude in der Bewegung von Paulus zu leben als im damaligen „Mainstream“ einer herkömmlichen Synagogen-Gemeinschaft.

„Es war sehr viel schwieriger — und zudem sozial destabilisierender — als Nichtjude in der Bewegung von Paulus zu leben als im damaligen ,Mainstream’ einer herkömmlichen Synagogen-Gemeinschaft.“

Im Jerusalem der damaligen Zeit hielten sich besonders zur Zeit des Passahfestes viele nichtjüdische Touristen auf. Wer waren diese Leute? Und was wollten sie?

Imperien verfügen über ein gutes Kommunikationssystem — und in der Antike bedeutete dies: Man baute Straßen. Herrschte Frieden im Land, konnte man Reisen unternehmen.

Und genau das taten die Menschen auch. Im Jerusalem des ersten Jahrhunderts unserer Zeit wurde zum Beispiel der Tempel des Herodes so entworfen, dass er leicht zu Fuß begehbar war. Der große Innenbereich war der „Hof der Völker“ und war auf viele Besucher eingestellt. Es gab einen Rundgang, der die Touristen durch mehrere Tempel führte. Auch die Tempel in Ägypten waren schon damals als „ewige“ Touristenattraktionen angelegt.

Besuchte man nun einen dieser Orte, erwies man den darin verehrten Gottheiten ganz natürlich die Ehre — schließlich glaubten die Menschen in der Antike, dass Götter in Tempeln lebten. Der Gott Israels etwa war gegenwärtig in seinem Altar — er lebte ganz wortwörtlich in seinem Tempel. Jesus nimmt darauf etwa in den Erzählungen von Matthäus Bezug, wenn er sagt, dass derjenige, der beim Tempel schwört, eigentlich bei demjenigen schwört, der darin lebt.

Tempel und Götter waren also auch eine Touristenattraktion?

War man Tourist, gebot es schon die Höflichkeit, dem Gott Respekt zu erweisen, dessen Wohnstätte man besuchte. Und wenn Nichtjuden das jüdische Pilgerfest besuchten (und das taten sie, wie der römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus berichtete), erwiesen sie eben dem Gott der Juden ihre Verehrung. Sie blieben aber trotzdem Heiden.

Gottes Werk — und Hollywoods Beitrag

Dieses Bild unterscheidet sich sehr von dem, was wir aus Filmen kennen, in denen sich die verschiedenen Gruppen eigentlich nie miteinander vermischen.

Das Bild der meisten Menschen von der Antike ist tatsächlich von der Filmindustrie geprägt. In diesen Filmen unterscheiden sich die Römer schon allein durch ihre Kleidung von allen anderen Volksgruppen. Sie sprechen auch oft mit einem britischen Akzent, während die guten, freiheitsliebenden Sklaven einen amerikanischen Akzent haben. Es gibt also in der Industrie so etwas wie einen Sprachkodex für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.

In der britischen Fernsehserie „Ich, Claudius — Kaiser und Gott“ etwa kehrt Herodes Agrippa mit Gebetslöckchen aus Palästina zurück, wie sie ein polnischer Jude im 18. Jahrhundert getragen hat. Die Serie musste aber in wenigen Sekunden den Charakter vermitteln. Der historische Herodes sah aber wahrscheinlich wie jeder andere Römer aus — genau wie Paulus, der daher wahrscheinlich glattrasiert war. Beide waren Menschen, die sich ganz normal und der damaligen Zeit angemessen kleideten.

Warum trennt die Filmindustrie dann beide Gruppen so strikt?

Die Idee, Bevölkerungsschichten optisch auseinander zu dividieren, entspringt dem Bedürfnis, sie einem bestimmten Kodex zuzuordnen. Im historischen Sinne versucht man so zwischen ihnen zu unterteilen. Und im Film ist es dadurch weitaus einfacher, die Story schlüssig zu erzählen. Das ändert aber nichts daran, dass all diese Menschen im wirklich Leben sozusagen alle in demselben Pool schwammen. Zudem nutzte die jüdische Bevölkerung im Westen zumeist Griechisch als Umgangssprache — da ist es ganz normal, sich an die entsprechenden Gewohnheiten anzupassen.

Der römische Satiriker Juvenal machte sich im zweiten Jahrhundert über seine Landsleute lustig, da sie sich etwa an den Sabbat und die Speisegesetze gehalten haben …

Besonders patriotische Römer der oberen Gesellschaft fürchteten sogar, dass die eigene Kultur durch die Annahme fremder Gebräuche besudelt würde — zum Beispiel Juvenal und der Historiker Tacitus behaupteten, dass sich dies für Römer nicht schickte. Daran zeigt sich, dass Römer sich durchaus für fremde Götter interessierten.

Verstand sich denn die christliche Gemeinde des ersten Jahrhunderts anders als jüdisch?

Wenn Paulus an die verschiedenen Versammlungen schrieb, benutzte er oft ein griechisches Wort, dass nichts weiter als „die Gruppe“ bezeichnet und im Deutschen gemeinhin als „Kirche“ übersetzt wird: „ekklesia“. Wenn wir aber heute das Wort „Kirche“ hören, denken wir zunächst an eine Organisation oder ein Gebäude. Damals gab es aber noch keine christliche Kirche wie ab der Zeit, in der der römische Kaiser Konstantin der Große beschloss, eine bestimmte christliche Ausprägung zu unterstützen — jedenfalls nicht in der Form, wie wir sie heute verstehen.

„Paulus sprach von Menschen, die sich versammelten — und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie dies woanders als in der Synagoge taten. Wo sonst sollten sie auch Geschichten aus der Bibel hören?“

Paulus sprach hingegen von Menschen, die sich versammelten — und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie dies woanders als in der Synagoge taten. Wo sonst sollten sie auch Geschichten aus der Bibel hören? Kaum jemand in der Antike besaß eigene Bücher.

In der Tat gibt es nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass die Nichtjuden um Paulus ausgerechnet dann, als sie sich dem Gott Israels zuwendeten und ihre eigenen Gottheiten dafür fallen ließen, aufgehört hätten, in die Synagoge zu gehen, um dort aus den hebräischen Schriften zu hören. Schließlich lernten sie doch genau dort die jüdische Sichtweise auf Gott kennen, indem sie aus den damaligen Schriften hörten und sich das notwendige Vokabular aneigneten.

Wie sahen sich diese Menschen denn selbst?

Ich sehe die Gruppe, die Paulus als „ekklesia“ anspricht, als eine sehr spezielle Untergruppe im Schatten der Synagogen in der Diaspora. Aber ich denke nicht, dass sich diese Gruppe selbst irgendwie anders als jüdisch betrachtete. Immerhin war der Gott, für den sie sich trafen, um ihn zu verehren, exakt der Gott Israels.

Heute vertreten viele Gelehrte daher die Ansicht, dass Paulus seit 2000 Jahren falsch dargestellt wird.

Es ist sehr leicht, Menschen, die eine historisch wichtige Rolle spielen, falsch darzustellen — eben weil sie kulturell so bedeutend sind. Ihr Bild muss immer wieder von neuem Sinn ergeben. Und so wird aus Paulus eben ein Protestant, wenn das passend erscheint. „Genau wie ich hatte Paulus etwas gegen all diesen überflüssigen Rituale“, mag etwa Luther gedacht haben. Genauso leicht lässt sich Paulus aber in einen orthodoxen Christen verwandeln; als der spätantike Kirchenlehrer Augustinus im vierten Jahrhundert seinen Kommentar über Paulus schrieb, sah er ihn quasi als seinen eigenen Vorläufer.

Wie haben sich diese Ansichten gewandelt?

Die Forschungsarbeit der vergangenen fünfzig Jahre über das späte Judentums seit der Erbauung des zweiten Tempels half uns, ein historisch passenderes Bild von Paulus zu erstellen. Paulus in einem jüdischen Kontext zu betrachten hat Historikern ermöglicht zu begreifen, wie ein und derselbe Mensch zur gleichen Zeit ein überzeugter Jude und ein ebenso leidenschaftlicher Apostel der Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus sein konnte, ohne selbst verwirrt zu sein.

„Paulus in einem jüdischen Kontext zu betrachten hat Historikern ermöglicht zu begreifen, wie ein und derselbe Mensch zur gleichen Zeit ein überzeugter Jude und ein ebenso leidenschaftlicher Apostel der Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus sein konnte.“

Streng genommen folgte Paulus einer extremen Form des Judentums. Rückblickend wissen wir, dass genau diese Form des Judentums das nichtjüdische Christentum hervorbrachte. Paulus selbst konnte dies aber nicht ahnen.

Was ist die herkömmliche Sicht auf Paulus?

Die herkömmliche Auffassung von Paulus ist, dass er zum Christentum konvertierte und dies etwas ganz anderes bedeutete als jüdisch zu sein. Ich kenne zum Beispiel einen „christlichen“ Comic, in dem sich Paulus auf dem Weg nach Damaskus befindet und dabei die typische Kopfbedeckung eines männlichen Juden trägt: die Kippa. Dann fällt er zu Boden, ein gleißendes Licht erscheint über ihm — und für den Rest des Comics trägt er keine Kippa mehr. Aus, Schluss, vorbei: Paulus ist ein Christ!

Das Christentum lässt sich ziemlich einfach als das genaue Gegenteil des Judentums stilisieren — eben weil das Christentum das Judentum so über Jahrhunderte präsentiert hat. In Paulus’ eigener Zeit lässt sich das Christentum aber nur als extreme Form des Judentums verstehen. Paulus selbst betrachtete sich als Jude — andernfalls müsste man ihn als Heiden verstehen.

Politisches Kalkül

Sie haben erwähnt, dass die Teilung von Judentum und Christentum politische Gründe hatte und aus Konstantins Favorisierung des römischen Christentums entstand. Unter ihm wurde auch der christliche Ruhetag offiziell vom Samstag auf den Sonntag verlegt.

Wir sprechen häufig von der Konvertierung Konstantins zum Christentum — es wäre aber angebrachter, von der Konvertierung des Christentums unter Konstantin zu sprechen. Eine bestimmte Ausprägung des Christentums wurde unter seiner Schirmherrschaft favorisiert und Teil der imperialen römischen Kultur. Man gewährte ihr Steuererleichterungen, sie wuchs und auf Kosten der Öffentlichkeit vervielfältigte man Manuskripte ihrer heiligen Schriften. Sogar die imperiale Post durfte sie kostenfrei nutzen.

„Wir sprechen häufig von der Konvertierung Konstantins zum Christentum — es wäre aber angebrachter, von der Konvertierung des Christentums unter Konstantin zu sprechen.“

Diese favorisierte Gruppe bat Konstantin, die Führer anderer christlicher Gruppen aus der Stadt zu vertreiben. Die Menschen, die also am schlimmsten darunter zu leiden hatten, dass Konstantin der Patron dieser einen christlichen Strömung wurde, waren die anderen Christen. Man verfolgte mehr Christen nach der sogenannten Konvertierung Konstantins als vorher, weil sie in das Visier eines bestimmten Zweigs der Kirche gerieten.

Was hätte Paulus zu diesen Dingen gesagt?

Paulus hätte klar gesagt, dass das Christentum, das Konstantin unterstützte, sich sehr von dem unterschied, dass er selbst verkündet hatte. Dass Konstantins Christentum auch noch für sich beanspruchte, das zu sein, das Paulus lehrte, hätte seinen Schock wohl noch verstärkt. Konstantins offizieller Biograf behauptete gar, dass das christliche römische Reich den Frieden hervorbringen würde, den der Prophet Jesaja im Alten Testament vorhersah. Als Paulus über das Reich Gottes schrieb, dachte er dabei bestimmt nicht an das römische Reich.

Gibt es denn überhaupt irgendeine Form der Kontinuität in der christlichen Praxis zur Zeit Paulus’ und des vierten Jahrhunderts?

Die nichtjüdischen, also die heidnischen und irgendwann christlichen Populationen des Mittelmeerraums, gingen weiterhin in die Synagoge. Erst als einige Christen eine ideologische Überzeugung von dem trennenden Unterschied zwischen Judentum und Christentum entwickelten, wurde der Synagogenbesuch ihnen ein Dorn im Auge. Bischöfe des vierten und fünften Jahrhunderts klagten darüber in ihren Predigten, Kirchenkonferenzen des fünften, sechsten und siebten Jahrhunderts erließen Gesetzestexte dagegen.

In all dieser Zeit hörten die Synagogen aber nie auf, den Gott Israels zu verehren, in Griechisch aus der Bibel zu lesen und ihre heidenchristlichen Nachbarn wie auch die nichtjüdischen Heiden bei sich willkommen zu heißen. Und das, obwohl die Bischöfe abscheuliche Dinge über sie verbreiteten — indem sie etwa ihre Synagogen als „Hurenhäuser“ bezeichneten, in denen Satan leben würde, und behaupteten, dass die Juden Christus getötet hätten.

Wir stellen uns meist vor, dass Paulus die Synagoge verließ, dass auch jüdische Christen sie nicht mehr besucht hätten. Oder dass Heiden, die zum Christentum konvertierten, von einer Sekunde auf die andere damit aufhörten. Und dass die Kirche und die Synagoge von Anfang an zwei komplett unterschiedliche Institutionen dargestellt hätten. Aber dieses Bild ist falsch.

Welche Folgen hat dieser Anachronismus auf die verbreitete Sicht auf Paulus?

Für mich als Historikerin ist die eigentliche Erbsünde der Anachronismus ans sich. Wenn man eine Person aus ihrem historischen Kontext herausreißt, um sie in einen anderen Kontext zu verpflanzen, wird man sie fraglos falsch interpretieren. Wenn wir uns Paulus also als orthodoxen Christen vorstellen, werden wir ihn umso mehr fehlinterpretieren.

„Paulus lebte in einer Zeitperiode, in der er nicht in einem trinitarischen Kontext dachte — der Begriff der Trinität war noch nicht einmal erfunden.“

Paulus lebte in einer Zeitperiode, in der er nicht in einem trinitarischen Kontext dachte — der Begriff der Trinität war noch nicht einmal erfunden. Seine Briefe sprechen von Jesus Christus, sie sprechen von Gott, dem Vater, und er schreibt über den Geist Gottes. Dies sind zwar die Texte, die später für die Formulierung der Trinitätslehre herangezogen wurden, aber Paulus selbst dachte nicht trinitarisch.

War Paulus der „Gründer“ der Christentums, wie vielfach behauptet wird?

Viele Menschen lesen Paulus mit der Vorstellung, dass er dem Judentum gegenüber feindlich gesinnt war, weil er der Gründer des Christentums gewesen sei. In Wahrheit aber verstand er sich nach wie vor als Jude und lehrte das Christentum in Kontinuität mit dem Judentum.

Die Tatsache aber, dass Paulus eine derart wichtige Person innerhalb des Christentums ist, macht es uns nahezu unmöglich, ihn nicht anachronistisch zu interpretieren. Denn seine Botschaft soll auch für das heutige Christentum relevant sein. Gestehen wir uns jedoch ein, wie genau seine Botschaft mit der jüdischen des ersten Jahrhunderts konform ging, müssen wir die Vorstellung einer direkten Verbindung zwischen der jüdisch-messianischen Bewegung und der heutigen etablierten Kirche aufgeben.

Dieser Artikel erschien im Original in der Printausgabe von Vision vom Herbst 2010 und findet sich parallel auf der deutschsprachigen Webseite des Magazins. Es handelt sich um eine überarbeitete Übersetzung des englischsprachigen Originals.

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Thomas Raukamp
Vision Journal

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