Unternehmen brauchen mehr gute Geschichtenerzähler!

Wie Storyteller Orientierung in der Veränderung bieten können

Sören Krüger
5 min readFeb 13, 2018
Foto: Alan Chen / unsplash.com

Storytelling gewinnt in Unternehmen seit einigen Jahren an immer mehr Relevanz. Während sich viele Organisationen mit der Frage auseinandersetzen, welche Inhalte eine Geschichte braucht, zeigt eine aktuelle Studie jetzt: Es braucht vor allem gute Geschichtenerzähler*innen.

Geschichten sind fester Bestandteil unseres Lebens

Wenn ich mich an meine Kindheit zurückerinnere, dann fallen mir unter anderem einige schier endlose Abende an der holländischen Nordseeküste ein. Mit Schnupfen, Heiserkeit und Mittelohrentzündung verbrachte ich an diesen Abenden gefühlt Stunden vor der Rotlichtlampe. Mit Zwiebelsäckchen auf den Ohren ließ ich die Qualen über mich ergehen. Meine Eltern griffen dann oft zum letzten Strohhalm, um mich von meinen Leiden abzulenken: Geschichten. Ob Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Räuber Hotzenplotz oder das Sams: Noch heute verbinde ich mit den Helden meiner Kindheit ganz konkrete und sehr emotionale Erinnerungen.

Seit Anbeginn der Zeit vermitteln wir Menschen Inhalte und Sinn über Geschichten. In Zeiten, in denen an den Buchdruck noch nicht zu denken war, dienten Geschichten sogar als zentraler Weg, um Werte, Normen und Informationen über Generationen hinweg weiterzugeben. Ein gutes Beispiel hierfür sind Legenden und Mythen.

Es gibt viele gute Gründe, warum Geschichten so wirkungsvoll sind (vgl. auch Jäger 2016):

  • Mit ihrer bildhaften Sprache und ihren Protagonisten wecken sie bei uns Emotionen. Oft identifizieren wir uns mit den Akteuren in den Geschichten, weil sie Erinnerungen an eigene Erlebnisse oder Sehnsüchte wecken.
  • In Geschichten gibt es meistens eine klare Einteilung der Protagonisten in Gut und Böse. Diese schwarz-weiß-Zeichnung ist für uns einfach zu verstehen und zu verarbeiten — und bietet damit gerade in einer Welt, die immer komplexer und unvorhersehbarer wird, eine willkommene Erleichterung.
  • Geschichten regen unsere Phantasie an und erschaffen Welten in uns, die neue Perspektiven ermöglichen und uns dem Alltag entfliehen lassen.
  • „Und die Moral von der Geschicht‘“ vermittelt uns Werte, soziale Standards und Normen — und bietet uns somit Orientierung, wie wir uns in unserer Gesellschaft verhalten sollen.

Weitere Argumente liefert die Wissenschaft: Die Neurowissenschaft (Jäger 2016) zeigt, dass wir Informationen, die über Geschichten vermittelt werden, wesentlich besser aufnehmen als klassische „Facts“. Dies liegt unter anderem daran, dass durch Geschichten aufgrund der genannten Eigenschaften wesentlich mehr Bereiche unseres Gehirns aktiviert werden.

Storytelling hält Einzug in die Unternehmenspraxis — dabei stehen die Inhalte im Mittelpunkt

Auch in Unternehmen gewinnt die Kunst, gute Geschichten zu erzählen an immer mehr Relevanz. Das Schlagwort heißt Storytelling. Führungskräfte besuchen Storytelling-Workshops, Agenturen entdecken Storytelling als Beratungsansatz und große Konferenzen widmen sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven (zum Beispiel die Veranstaltung „Beyond Storytelling“ — interessante Eindrücke gibt es auf der Event-Website). Dabei gilt im Allgemeinen die Annahme, dass Menschen durch gute Geschichten für die Veränderung begeistert werden können.

Über den Sinn und Unsinn von Storytelling-Ansätzen im Unternehmen, insbesondere mit Blick auf den manipulativen Charakter von Geschichten, gab es bereits vor etwa zehn Jahren eine Debatte in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung (vgl. Hegele-Raih 2007, Erlach 2008, Loebbert 2008). So äußert sich Cornelia Hegele-Reih skeptisch zu der Frage, ob Storytelling als Treiber der Veränderung wirken kann: Ein Blick in die Forschung lasse daran zweifeln, dass Geschichten tatsächlich einen positiven Effekt auf das Verhalten von Menschen in Organisationen haben. Vielmehr zeige sich, dass Geschichten oftmals wenig informativ und mit Klischees beladen sind, zudem vermitteln sie nach Ansicht von Hegele-Raih überholte Vorstellungen und wirken deshalb eher konservierend als mobilisierend (Hegele-Raih 2007: 51). Auch beim Storytelling gelte, dass Kommunikation und Verstehen nicht steuerbar seien (ebd.).

Loebbert zeigt wiederum, dass Geschichten durchaus kulturprägend wirken können, insbesondere wenn es darum geht, eine erste Vorstellung von der Zukunft einer Organisation zu vermitteln (Loebbert 2008: 94). Oder um es mit Antoine de Saint-Exupéry zu sagen: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

Ich mag diesen Ansatz, der darauf setzt, Menschen für die Veränderung in Richtung Zukunft zu begeistern. In vielen Unternehmens-Narrativen zur Veränderung kommt das emotionale Momentum noch zu kurz, wird vielmehr rational auf Basis von Zahlen, Daten und Fakten argumentiert.

Ein Blick über den Tellerrand zeigt: Es kommt auf die Storyteller an

Oft steht bei der Diskussion über die Wirksamkeit von Storytelling der Inhalt im Fokus. Also die Frage: „Welche Geschichte erzähle ich, um für Veränderung zu begeistern?“ Eine im Dezember 2017 erschienene ethnologische Studie zeigt nun: Es kommt vor allem auch darauf an, wer die Geschichte erzählt.

Im Artikel „Cooperation and the evolution of hunter-gatherer storytelling“ (Smith/Schlaepfer/Major et al. 2017), der im Fachmagazin „nature communication“ erschienen ist, stellen die Wissenschaftler*innen die Ergebnisse eines lang angelegten Forschungsprojektes vor. Das Forschungsteam hat untersucht, welchen Einfluss das Geschichtenerzählen auf die Kooperationsfähigkeit von Gruppen hat. Dazu haben sie Aeta-Stämme auf den Philippinen begleitet. In der Kultur der Aeta besitzt das mündliche Vermitteln von Geschichten einen herausragenden Stellenwert. Die Geschichten handeln von guter Zusammenarbeit, von der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder aber von sozialer Gerechtigkeit. Die Forscher*innen kommen unter anderem zu folgenden Ergebnissen:

  • Geschichten leiten das soziale Verhalten von Gruppen, indem sie Normen und Werte vermitteln. Geschichtenerzähler*innen übernehmen hierbei eine entscheidende Rolle, weil sie die Geschichten in Gruppen tragen.
  • Umso mehr gute Geschichtenerzähler*innen in einer Gruppe sind und umso besser dementsprechend Normen und Werte gestreut werden, desto kooperativer sind diese Gruppen.
  • Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, steigert die Reputation der Personen und macht sie sozial attraktiv und angesehen (im Falle der Aeta sogar attraktiver als die Fähigkeit, Fische zu fangen!)

Betrachtet man diese Ergebnisse in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, dass gutes Storytelling im Falle des Aeta-Volkes einen Mehrwert sowohl auf Gruppenebene (bessere Kooperation) als auch auf individueller Ebene (soziale Anerkennung) führt. Die Forscher*innen schlussfolgern: „From simple storytelling to complex religion, and later formal institutions such as nation states, the evolution of storytelling may have been pivotal in organising and promoting human cooperation.” (ebd.) Sie betonen gleichzeitig aber auch, dass zusätzliche Forschung notwendig ist, um den Einfluss des Storytellings auf die Kooperationsstärke von Gruppen tiefer zu ergründen.

Transfer ins Unternehmen: Mehr gute Storyteller gesucht!

Angenommen, man könnte die Studien-Ergebnisse auf moderne Organisationen übertragen — dann ergeben sich daraus für mich folgende Thesen:

  • Geschichten können in Unternehmen Normen und Werte vermitteln. Dafür braucht es gute Geschichtenerzähler*innen.
  • Je mehr gute Geschichtenerzähler*innen ein Unternehmen hat, desto kooperativer ist es.
  • Die Kompetenz gute Geschichten zu erzählen, erhöht das soziale Ansehen in der Organisation.

Übertragen auf Veränderungsprozesse bedeutet das:

  • Es ist wichtig, gute Geschichtenerzähler*innen frühzeitig zu identifizieren und für die Veränderung zu begeistern, um so Promotoren zu gewinnen.
  • Es macht Sinn, die Storytelling-Kompetenz auf Vorstands-, Führungskräfte- und Mitarbeiter-Ebene zu fördern, um die Kooperationsfähigkeit zu stärken und so vertrauensvolle und robuste Zusammenarbeit zu unterstützen.

Welche Erfahrungen habt Ihr mit Storytelling in der Veränderung gemacht? Und was denkt Ihr: Brauchen Unternehmen mehr gute Geschichtenerzähler*innen, um Transformation erfolgreich zu gestalten? Ich freue mich auf Euer Feedback und den Austausch.

Literaturhinweise

Erlach, Christine (2008): Und Geschichten können doch jede Menge! In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung 02/2008, S. 96–98.

Hegele-Raih (2007): Vorsicht, Geschichten! In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung 02/2007, S. 51–59.

Jäger, Silke (2016): Storytelling — Das Gehirn will Geschichten. Abgerufen am 13.02.2018 unter http://www.wissenskurator.de/storytelling-das-gehirn-will-geschichten/.

Loebbert, Michael (2008): Geschichten, was nutzen sie? In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung 02/2008, S. 92–95.

Smith, Daniel / Schlaepfer, Philip / Major, Katie et. al (2017): Cooperation and the evolution of hunter-gatherer storytelling. In: Nature Communications 8. Abgerufen am 13.02.2018 unter https://www.nature.com/articles/s41467-017-02036-8.

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Sören Krüger

Experte für wirkungsvolle Zusammenarbeit. Facilitator, Analytiker & Macher. Leidenschaft für innovative Methoden. @wearecovolution | www.covolution.eu