Wie wir Pfingsten 2021 gefeiert haben

Ein hoffnungsvoller Rückblick auf Kirche und Glaube nach Corona

Andreas M. Walker, Dr.
weiterdenken
10 min readMay 14, 2020

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Endlich wieder eine gemeinsame Erstkommunion

Mai 2021, endlich können wir in unserer Pfarrei wieder eine Erstkommunion im gewohnten Rahmen feiern, endlich können wir wieder gemeinsam Eucharistie feiern - zwar nicht am Weissen Sonntag, da dort noch Versammlungsverbot galt, aber immerhin zu Pfingsten!

Wie schön ist es doch, dass wir die Erstkommunionen und Firmungen des letzten und dieses Jahrganges auf diesen Tag gelegt haben, dem erstes gemeinsamen Pfarreigottesdienst nach diesen zweiten schwierigen Frühling seit dem Ausbruch von Covid-19. Diesen Frühling 2021 kam endlich der Durchbruch, eine Impfung war da und wurde breit akzeptiert und die medizinische Fachwelt war sich endlich einig über Corona. So konnte nun, eine Woche vor Pfingsten, der zweite grosse Lockdown umfassend aufgehoben werden und gemeinsame Gottesdienste waren wieder möglich.

Übereilte Rückkehr zur Normalität 2020

Wie haben wir damals, vor einem Jahr im Frühling 2020, aufgeatmet, als die Fallzahlen in der Schweiz sanken und der Bundesrat Schritt für Schritt die Massnahmen lockerte. Massnahmen, die wir brav befolgt hatten, obwohl wir nicht sicher waren, ob der Staat uns unsere Gottesdienste verbieten durfte.

So hatten wir uns alle auf eine schnelle Rückkehr zur Normalität im Sommer 2020 gefreut. Schade war natürlich, dass dann die Fronleichnamsprozession mit den Herrgottskanonieren in Luzern, an der der ältere Bruder meiner Frau immer aktiv teilnahm, sowie die Pfadi- und Jubla-Sommerlager im Juli für unsere Kinder doch nicht durchgeführt werden konnten.

Die Rezession kam und blieb

Photo by Tim Mossholder on Unsplash

Doch dann, im letzten Sommer, wurde es bitter. Trotz den Bekundungen vieler Wirtschaftspolitiker, Volkswirte und Banker kam es nach der Wiedereröffnung der Geschäfte und Restaurants doch nicht zu einer schnellen Erholung der Wirtschaft: Die Rezession kam und blieb.

Die finanziellen Stützmass-nahmen von Bund und Kantonen im Frühling 2020 reichten nicht, und schliesslich fehlte das Geld für diverse andere staatlichen Förderungen.

Für viele von uns war der Absturz aus der Konsumgesellschaft dramatisch — zuerst durften wir nicht kaufen und nun konnten wir nicht mehr kaufen.

Erste Youtube-Clips von Influencern tauchten auf, die von der alten Kunst der Mässigung erzählten. Ebenso gingen die humanitären Spenden drastisch zurück, was gerade auch Fastenopfer und Caritas hart traf, denn erst im Herbst wurde klar, dass Corona in Afrika und auf dem indischen Subkontinent viel stärker wütete als lange angenommen.

Die Multigenerationensolidarität funktioniert

Dafür war es umso erfreulicher, dass die Solidarität in der Schweiz auch in die andere Richtung spielte. Nachdem wir uns im Frühling 2020 derart eingeschränkt hatten, um unsere Älteren als Risikopatienten zu schützen, spielte nun die Multigenerationensolidarität in die andere Richtung:

Viele Seniorinnen und Senioren fingen an, bewusster und lokaler einzukaufen, die jüngere Generation und ihre Geschäfte zu unterstützen. Das schönste Beispiel dafür war der von ihnen gegründete Corona-Fonds, in den sie 20% ihrer Renten einzahlten um Familien zu helfen, die wegen der Corona-Rezession ihr Einkommen verloren hatten.

Die Schlammschlacht bedarf der Versöhnung

Photo by Markus Spiske on Unsplash

Infolge der anbrechenden Rezession kam damals, im Sommer 2020, die mediale und politische Schlammschlacht sehr schnell.

Und diese Schlammschacht war für unsere Schweizer Kultur erschreckend aggressiv.

Jeder wusste es besser, jeder hatte eine andere Quelle und eine andere Statistik eines anderen Professors. Ich erinnere mich noch gut an die damalige Zoom-Konferenz mit den anderen Pfarreiräten: Wir waren ziemlich konfus. Was stimmte denn nun wirklich? Wem konnten wir noch vertrauen? Wie sollten wir nun mit Fehlentscheiden, mit Verantwortung und mit Schuld umgehen?

Und wir erkannten, dass es dabei um grundlegende christliche Themen ging: Um Wahrheit und Vertrauenswürdigkeit. Um Friedenstiften und Versöhnung. Um Gemeinschaft und Vergebung, die wir in der Eucharistie feiern wollen.

So setzten sich immer mehr Kirchen, aber auch viele Christen als Privatpersonen, im Herbst für die politische Kultur in unserem Lande ein. Auch in unserer Pfarrei erkannten wir, dass die Bibel und die Kirche eigentlich drei christliche Tugenden lehrten: Glaube, Liebe und Hoffnung. Und wir erkannten, wie häufig Dispute um den richtigen Glauben unser religiöses Engagement geprägt hatten — und offensichtlich auch die Politik und die medizinische und ökonomische Fachwelt —

aber nun ging es eben um Liebe und Hoffnung.

Und die Enzyklika Spe Salvi von Papst Benedikt XVI war relevant wie noch nie…

Die zweite Welle im Herbst 2020

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Tragischerweise war dann im Spätherbst 2020 klar, dass wir nicht um eine zweite Welle herumkamen.

Noch immer war kein Impfstoff in Sicht. Die Situation in den armen Ländern und die Dunkelziffer in den Megacities in Asien und Afrika war weitaus dramatischer als lange gedacht.

Auch unsere katholische Kirche war davon betroffen: diverse Kardinäle, die wichtige kirchenpolitische Meinungsmacher waren, und zahlreiche Nonnen, Mönche und Priester, die sich an den Krankenbetten angesteckt hatten, verstarben.

Die Euphorie und Kompensation in den reichen Ländern nach dem Öffnen im Frühsommer führte zu Unvorsichtigkeiten, die wir nun bereuen sollten. Die zu erwartende Mutation des Virus und neue Erkenntnisse über Komplikationen bei der Genesung und langfristige Folgeschäden zeigten, dass Corona viel langwieriger und heimtückischer als lange gedacht war.

Eine bequeme und billige Lösung für alle war einfach nicht möglich.

Und unserer Spitzenmedizin, deren Fortschritt über Jahrzehnte gewachsen war, konnte einfach nicht innerhalb von wenigen Monaten etwas hervorzaubern. Zu viele Fragen waren noch offen, das Krankheitsbild und die Symptome immer wieder unklar und die Vergleichbarkeit der weltweiten Statistiken und Fallbeschreibungen blieb dubios.

Und schliesslich konnte jeder von uns von einem schweren Krankheits- oder Todesfall in seinem familiären oder kirchlichen Umfeld erzählen. Corona war keine abstruses Phänomen der Medien und Statistik mehr — die Krankheit war für jeden konkret geworden.

Kairos für die Kirchen?

War dies nun der Kairos Moment für die Kirchen? Obwohl Papst Franziskus schon im April 2020 dazu aufgerufen hatte — eine Umkehr fand nicht statt. Obwohl zahlreiche Pfingst- und Freikirchen weltweit zu Busse und Gebet aufgerufen hatten — ein göttliches Wunder fand nicht statt.

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Und doch erlebten wir schliesslich ein neues Pfingsten, ein anderes Pfingsten, eben nicht von den grossen Kirchenführern und den grossen kirchlichen Organisationen her, sondern von den Christen an der Basis her, in den kleinen Zellen unserer Paare und Familien, oder wie das nun neudeutsch hiess: in unseren Infektionsgemeinschaften.

Lehrte nicht bereits Jesus: «Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind»? Also weniger als fünf, dann war ja alles in Ordnung.

So wie bereits beim ersten Pfingsten der Heilige Geist und die Erkenntnis Gottes über alle Gläubigen ausgegossen worden war, fanden wir uns nun als die “einfachen und normalen” Leute der Basis. Es war so deutlich: Unsere Bildungs- und Wissensgesellschaft war überfordert durch Corona, weil eben Unwissen und Ungewissheit das prägende Gefühl über Monate waren.

Es konnte nicht sein, dass wir als Kirchen so viel Kraft und Geld in die Streitpunkte des richtigen Glaubens, der Dogmatik und der korrekten Rituale steckten, nein, es ging darum, dass wir als Christen wieder erkannten, wie wichtig Liebe und Hoffnung als christliche Tugenden waren.

Übrigens hatte ich ja im letzten Jahr über facebook und LinkedIn meine Jugendfreunde aus der Jungen Gemeinde wiedergefunden, die ich seit dreissig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seither tauschen wir uns regelmässig in einem ZOOM-Chat aus, wie viele christliche Werte und Tugenden plötzlich zentral geworden sind in diesen konfusen Zeiten: Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit in diesen Zeiten des Unwissens und der vielen Verschwörungstheorien. Teilen, Beziehungen, Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Geborgenheit angesichts von Versammlungsverbot, Konsumbeschränkung und Rezession.

Diakonie statt Dogmatik

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Und immer wieder staune ich— tatsächlich sind wir als Kirchen und Christen in der Schweiz vor Ort enger zusammengerückt. Die konkrete Herausforderung zu alltäglicher Diakonie in der Nachbarschaft und zu Nächstenliebe in der eigenen Familie hat vieles in uns wachgerüttelt.

Der staatlich erzwungene Verzicht auf unsere gewohnte Liturgie und auf die Eucharistie hat uns zu einer Neuorientierung geführt, wobei manche sehr unter diesem Verlust litten und immer wieder auf den geistlich nicht zu unterschätzenden Wert der Sakramente hinwiesen. Gerade unsere Frauen taten sich eher leicht, sei es in der Alltagsdiakonie im Quartier, sei es im Gespräch via WhatsApp und Zoom.

Unkompliziert und konkret lebten sie einfach ihren Glauben im Alltag ohne grosse Formalitäten und Organisationen.

Die grosse Umkehr und Busse, zu welchen der Papst und viele freikirchliche Prediger schon im Frühling 2020 aufgerufen hatten, sind nicht gekommen. Erstaunlicherweise wurden solche Appelle von den Medien kaum aufgegriffen und ausgeschlachtet.

Aber zwischen uns Christen liefen die Diskussionen sehr intensiv: Dürfen die Kirchen solche Zeiten von Ängsten und Krisen denn überhaupt für Aufrufe zur Umkehr nutzen, also eigentlich zu Marketing-Zwecken? Oder ging es eben nicht vielmehr um Nächstenliebe und Barmherzigkeit gegenüber den Isolierten und Hilfsbedürftigen?

Also darum, ihnen einfach bedingungslos und ergebnisoffen zu helfen, auch wenn gar keine Aussicht bestand, dass sie jemals Mitglied unserer Kirche werden würden? Und so merkten wir, wie allmählich eine diakonische Kirche in uns erstarkte.

Basis-Spiritualität

Und auch unsere Spiritualität durchlief einen bemerkenswerten Wandel. Rom war so weit weg, der Bischof war auf den elektronischen Kanälen kaum spürbar, die kirchenpolitischen Dispute zwischen den formellen Vertretern der Ökumene waren aufgrund des Versammlungsverbotes verhindert.

Aber wir mussten in unseren Familien und in der Nachbarschaft einen Weg finden, wie wir mit der Ungewissheit, mit der Langeweile, mit den Einschränkungen und den zahlreichen schwelenden Konflikten aufgrund der erzwungenen Nähe zu recht kamen.

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Nach einer ersten Phase des offensichtlich überbordenden TikTok-, Netflix- und heimlichen Porno-Konsums wurde dies einfach langweilig und wir begannen wieder zu suchen und zu lesen. Corona hat uns entschleunigt und lehrte uns nach Jahren des Konsums und der Ablenkung wieder zu sinnieren.

Wir wollten nicht mehr über den formell und dogmatisch richtigen Glauben der verschiedenen Kirchen und Konfessionen streiten. Wir hatten ja im Disput über medizinische Fragen zu Corona und über die Angemessenheit der staatlichen Verfügungen gemerkt, wie viel wir und die Fachleute einfach nicht wussten.

Wir suchten etwas, das uns einfach Mut und Hoffnung gab. Etwas, das uns Hoffnung gab, dran zu bleiben und Lebenswille und Lebensfreude zu behalten, auch wenn vieles einfach mühsam und unklar blieb.

Und da die Quängeleien mit unseren Teenagern und der Ehezwist unterschwellig immer irgendwie da war, suchten wir etwas, das uns ein friedliches und positives Zusammenleben ermöglichte. Und dazu waren die bisher grossen Themen der offiziellen Theologie nicht hilfreich, sondern wir wurden auf die zentrale Frage geworfen:

Was bleibt von Kirche übrig — ohne Gottesdienst, ohne Eucharistie und ohne Priester?

Und so begannen wir in der Nachbarschaft über den Zaun oder beim Warten vor einem Geschäft miteinander auszutauschen, nicht im Streit über Politik oder Religion, sondern im Austausch, was uns konkret half, diese mühsame und ungewisse Zeit auszuhalten.

Zusammenrücken an der Basis

Und so sind wir schliesslich in den vielen Mühseligkeiten der ersten und schliesslich der zweiten Welle als Menschen näher zusammengerückt, obwohl wir auch im zweiten Winter 2020/21 viele Einschränkungen und ein erneutes Gottesdienstverbot als mühsam und schikanös empfunden haben.

Wir haben erkannt, wie hilfreich die kleinen Freuden der Nachbarschaftshilfe waren, egal ob jemand katholisch oder reformiert, Landeskirche oder Freikirche, Moslem oder Atheist war. Wir haben gespürt, wie wichtig Versöhnung und innerer Friede waren. Die mediale und politische Schlammschlacht um die Verteilung der staatlichen Gelder, um das wirtschaftliche Überleben und um die Frage, was denn nun medizinisch wirklich stimme, waren mit der Zeit einfach nur wüst und mühselig.

Die Frage nach dem Gottesbild

Anfangs war es zwar mühsam, ohne die Hilfe unserer Priester und Pfarrer miteinander über unseren christlichen Glauben zu reden.

Die Freikirchler waren so aufdringlich konkret in ihrem Verständnis von Gottesbeziehung. Die Pfingstler und Charismatiker wollten um Wunder beten, die aber nicht eintraten. Dafür machten in unseren Migrantenkirchen Geschichten von Marienerscheinungen und Wunderheilungen in ihrer Heimat die Runde, was wiederum die Pfingstler in Bedrängnis brachte. Die Atheisten spotteten wie üblich, wie denn ein allmächtiger Gott der Liebe nach den Gräueln des 2. Weltkriegs, den nicht endenden Kriegen in Afrika und im Mittleren Osten und dem Elend in den Flüchtlingslagern nun ein Comeback von Seuchen als Geisel der Menschheit zulassen könne. Oder ob dies etwa bereits der vier apokalyptischen Reiter seien?

Dabei erkannten wir, dass neben den Aussätzigen in der Bibel und Pest im Mittelalter in der europäischen Geschichte eben zahlreiche Infektionskrankheiten wieder und wieder zu unzähligen Toten geführt hatten. Aber wir kamen nicht darum herum: auch in den beiden Corona-Jahren erlebten wir keinen wundertätigen Gott, sondern mussten uns mit dem Phänomen des abwesenden Gottes auseinandersetzen.

Aber wir wurden herausgefordert von einem Gott, der sich in der konkreten, diakonischen Nächstenliebe offenbarte.

Und wir erkannten, dass wir das Elend von Ungewissheit, Krankheit, Ausgeliefert-sein und Angst vor der Rezession weder an unsere Kirche noch an unsere Priester delegieren konnten, sondern dass wir als Christen in unseren Familien und in unserem Quartier selber mutig in diese Bresche springen mussten.

Und wieder fiel das unseren Frauen viel leichter, wie schon damals in den Geschichten der Bibel: sie standen einfach in natürlicher und selbstverständlicher Weise näher bei Jesus. Unsere Frauen durften in unserer Tradition und Kultur einen direkten Zugang zu ihren Emotionen haben, so konnten sie in diesen beiden Corona-Krisen einfach agiler und innovativer mit den Problemen umgehen und natürlich darüber reden. Vielen von uns Männern stand aufgrund unserer traditionellen Männerbildern, unserer Erziehung und Berufstätigkeit einfach immer unser Kopf im Weg, wir suchten ein bezahlbares Konzept und eine rationale Theorie.

Da wir aufgrund des Gottesdienstverbotes nicht mehr regelmässig zur Heilige Messe gehen konnten, wurde bereits ein zweites Mal das Sonntagsgebot aufgehoben.

So begannen wir schliesslich, anstelle der Eucharistie, mit einfachen liturgischen Hausandachten, ergänzt durch die Briefe befreundeter Priester. Wir hatten auch ein altes Stundenbuch, die Familienbibel und die gesammelten Heiligenerzählungen unserer Omi wieder ausgegraben. Schliesslich erkannten wir, dass Leiden, mühseliges Ausharren und Krankheit in der Bibel und in den alten Geschichten schon immer ein Thema waren. Und trotzdem haben die Menschen ihren Glauben nicht aufgegeben.

Und unser Gottesbild begann sich zu wandeln: Als konsumverwöhnte und ungeduldige Christen suchten wir keinen wundertätigen und schicksalswendenden Gott mehr, sondern wir fanden einen mitleidenden und mittragenden Gott, der uns trösten und uns Hoffnung spenden konnte, weil uns gerade auch die Bibel und unsere Heiligenlegenden so viele Geschichten erzählen, in denen gerade auch Jesus gelitten und ausgeharrt hat.

Ein Jesus, der sich trotz eigenem Leid immer wieder in Diakonie und Nächstenliebe offenbarte.

Photo by Zac Durant on Unsplash

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Andreas M. Walker, Dr.
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