Einfach mal machen! Vom Ende des Strategiewahns.

Thomas Leppert
Wirtschaft & Soziales

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Ein Rant wider die Strategisierung aller Arbeitsbereiche. Es ist Zeit für mehr Pragmatismus und Agilität – auch wenn unsere BeraterInnen das nicht gerne hören.

Marketingstrategie, Fundraisingstrategie, Kommunikationsstrategie, Nachhaltigkeitsstrategie, Digitalisierungsstrategie, Innovationsstrategie usw. – kaum eine Organisationsaufgabe kommt heute ohne die Forderung (meist externer BeraterInnen wie mir) aus, dass man das erstmal in einen größeren konzeptionellen Rahmen gießen und planen muss, statt einfach mal loszulegen.

Schnell mal eine Pressemitteilung für die Veranstaltung rausschicken? Bitte erstmal das Kommunikationskonzept bei den PR-Kollegen vorlegen. Einfach mal eine Crowdfunding-Kampagne starten? Bitte unbedingt vorher das Finanzierungskonzept inkl. Finanzierungsmix für die Organisation in Gänze aufstellen! Für meine Dienstreise eine CO2-Kompensation leisten? Geht erst, wenn die Maßnahme durch die Nachhaltigkeitsstrategie gedeckt ist (die muss aber erst entwickelt werden). Einen Facebook-Kanal anlegen? Aber bitte doch nicht ohne Klärung der Zielgruppen, Botschaften, Bildsprache und Redaktionsplan!

Nach 15 Jahren Beratung und angesichts zahlloser – obwohl von den Organisationen selbst entwickelten – nur unzureichend umgesetzter Strategien und noch viel mehr selbst erduldeter ermüdender Strategiesitzungen zu tausend und einem Thema frage ich mich: Müssen wir im Zeitalter agiler Arbeitsweisen nicht auch bei solchen Aufgaben umschwenken und iterativ vorgehen? Müssen wir nicht eher mit kleinen Schritten anfangen, positive wie negative Erfahrungen sammeln und das dann kontinuierlich weiterentwickeln?

Oder darf eine Organisation auch weiterhin nur dann einfach mal einen Account auf der Online-Fundraising-Plattform anlegen, ganz naiv erste Tweets absetzen, eine Stellenausschreibung formulieren oder ein Logo entwickeln, wenn zuvor in aufwändigen, möglichst partizipativen (der Nachhaltigkeit wegen, denn es geht bei jedem Thema ja immer um die Köpfe der MitarbeiterInnen) und natürlich extern begleitenden Prozessen ein Fundraising-Konzept, eine Kommunikations-, eine Personal- oder eine Markenstrategie entwickelt wurde?

Ich verstehe ja nach wie vor, dass gute Planung wichtig ist und man theoretisch auch z.B. sowas wie ein Mission Statement, eine Zielgruppendefinition und Kernbotschaften braucht, wenn man beispielsweise gut kommunizieren will. Genau deswegen habe ich vor zig Jahren eine Beratung gegründet, um solche Prozesse der Systematisierung zu begleiten. In der Praxis erlebe ich aber, dass Organisationen – zumal im ehrenamtlichen Bereich – mit solchen Prozessen häufig überfordert sind und die Ergebnisse kaum systematisch berücksichtigt werden. Hinzu kommt, dass schnell für so ziemlich alle Arbeitsbereiche innerhalb einer Organisation je eigene Strategien erforderlich wären. Das kann kein Mensch leisten und schon gar nicht sind die in der Praxis dauerhaft kompatibel miteinander. Was also in der Theorie funktioniert, verbessert scheinbar nicht die Praxis (auch wenn es manches Gegenbeispiel geben mag).

Wäre ein agiles Vorgehen außerdem nicht schon alleine deshalb sinnvoll, weil sich Rahmenbedingungen, Ressourcen und Möglichkeiten rasant ändern und die Halbwertszeit von Strategien in so gut wie jedem Arbeitsbereich rapide sinkt? Und zuletzt, ganz ehrlich: Ich habe mittlerweile zuviele Organisationen gesehen, die auch ohne Dutzende Teil- und Gesamtstrategien erfolgreich sind. Handwerksbetriebe mit ihrer zupackenden, pragmatischen Art sind da oft ein gutes Beispiel (und mir zunehmend sympathischer, weil die mir den Spiegel vorhalten).

Ich frage mich daher ernsthaft: Sollten wir als Berater und Führungskräfte vielleicht mal von unserem hohen Ross und Anspruch runterkommen? Die Leute einfach mal machen lassen und dann eher bei der Auswertung und Weiterentwicklung begleiten? Womöglich sogar mit Fach- statt Prozessexpertise, warum dieses und jenes nicht funktioniert hat?

Nach meiner Erfahrung kommt der Wunsch nach Systematisierung und Strukturierung dann fast von selbst mit der Zeit, wenn die Menschen sich der Unzulänglichkeiten ihres bisherigen Handelns bewusst werden. Aber er basiert dann auf gemachten Erfahrungen und wird ernsthafter umgesetzt, als wenn vor konkretem praktischen Handeln erstmal die lange theoretische Arbeit steht – selbst wenn Sie mittlerweile gut gemeint in spielerisch anmutenden Design-Thinking- oder Serious-Play-Konzepten daherkommt.

Ist es also vielleicht Zeit für agile, pragmatische Strategieentwicklung, parallel zur erlebten Praxis und entlang der Möglichkeiten der Menschen und Organisationen?

(Bildnachweis: David Siglin, Unsplash)

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Thomas Leppert
Wirtschaft & Soziales

Schreibt über Wirtschaft, Soziales und technologischen Wandel. Geschäftsführer Heldenrat GmbH in Hamburg. Trust me, I‘m a Chancemaker.