Kevins unstillbare Sehnsucht nach der neuen Welt.

Thomas Leppert
Wirtschaft & Soziales
4 min readMay 9, 2019

Kevin Kühnert drückt mit seinem Bild einer gerechteren Gesellschaft aus, was viele schon lange fühlen. Und doch ist es vielleicht unsere eigene Bequemlichkeit, die uns von großer Veränderung abhält.

Nein, weitere Beistandsbekundungen braucht Kevin Kühnert wegen seiner kürzlich geäußerten Visionen mit Sozialismus-Anklang wahrlich nicht. Alleine in meiner Filterbubble tendiert die Anzahl der Kritiker gen Null, ich lese täglich dutzendfache Zustimmung. Wenn doch ein kritischer Beitrag auftaucht, dann nur als Zitat, versehen mit der Kommentierung über die darin zum Ausdruck kommende Borniertheit und Kurzsichtigkeit. Wenn er also so viel Recht bekommt – was gäbe es da noch zu sagen?

Zweierlei: Da wäre zum einen der Hinweis auf den gesellschaftlichen Nährboden, auf den seine Gedanken fallen. Themen wie Ungleichheit, Mietenwahnsinn, Altersarmut, Bildungsgerechtigkeit und Wohlstandsverteilung dominieren mittlerweile schon seit Jahren die Debatte. Die Angst, davon betroffen zu sein, hat sich mittlerweile als Grundmuster deutscher Befindlichkeit etabliert. Das ist nicht gut. Weil diese Angst zugleich auch Nährboden für allzu einfache Erlösungsphantasien aus sehr rechten und sehr linken Ecken bietet.

Aber wer genau In diese Befindlichkeit hinhört, kann an vielen Stellen der Gesellschaft eine zunehmende Unzufriedenheit mit der Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems und seiner Verflechtung mit dem politischen System erkennen. Das de-facto Primat der stetigen Umsatz- und Gewinnmaximierung vor anderen sozialen und gesellschaftlichen Zielen stößt vielen Menschen zunehmend sauer auf. Sie erleben zu häufig, dass trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse das „sozial“ in der sozialen Marktwirtschaft immer mehr an Gewicht verliert und gesellschaftliche, politische Entscheidungen zu häufig an Unternehmensinteressen ausgerichtet sind. Daran ändert auch keine kosmetischen Einzelmaßnahmen wie die DSGVO zum Schutz von Verbrauchern etwas. Und sie reagieren darauf: Ob Forderungen nach Postwachstumsgesellschaft oder nach mehr Demokratie in Unternehmen, ob New Work oder soziales Unternehmertum, ob Veganismus oder Unverpackt-Läden, ob Fridays for Future oder auch – nur scheinbar thematisch abseitig – die MeToo-Debatte: Immer häufiger geht es darum, alte Gewissheiten der Organisation gesellschaftlichen Lebens unter den Bedingungen zumeist ökonomischen Machterhaltes zu hinterfragen.

Es ist daher kein Wunder, wenn Menschen wie Kevin Kühnert oder Greta Thunberg als Vertreter einer neuen, ungeduldigeren Generation trotz der scheinbar ökonomischen Unmöglichkeit ihrer Forderungen (q.e.d.) soviel Beifall finden. Sie treffen die Sehnsucht einer zunehmend größeren Gruppe von Menschen, Gesellschaft nach anderen Prinzipien als ökonomischer Wohlstandsmehrung ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Verluste zu organisieren. Sie stellen die Frage nach dem guten Leben neu und überkommene Massstäbe der Nachkriegszeit zählen für sie nicht mehr. Es wäre der Beginn einer Debatte, die nicht nur zu Hause geführt wird, sondern bestenfalls im ganzen Land, ja gar in Europa, das sich so sehr als Wertegemeinschaft versteht: Wie wollen wir in Zukunft leben?

Gleichwohl muss man aber – und das ist die zweite Anmerkung zur Diskussion um Kühnert’sche Visionen – fragen: Kehren wir auch vor unserer eigenen Haustür? Es ist ja nämlich so: Wir haben es uns bequem gemacht in diesen Prinzipien der Ungerechtigkeit und kurzfristiger Sichtweise und profitieren vielfach davon. Viele von uns, die wir die Verhältnisse ändern könnten, müssten subjektiv empfunden verzichten, wenn Visionen wie die von Kühnert ernsthaft realisiert werden. Auf individuelle und jederzeitige, unbegrenzte Mobilität. Auf Miet- und Aktieneinnahmen. Auf exotische Gemüse und Früchte. Auf Vielfalt im Warenangebot. Auf Einkommen und Luxus. Auf Genuss und Bequemlichkeit. Auf Privilegien und vieles mehr. Suffizienz und solidarisches Teilen sind gefragt. Mit dem Ersatz von Plastikstrohhalmen durch Bambusröhrchen und mit Kleidertausch ist es nicht getan. Niemand sollte glauben, dass die Abkehr von ökonomischen Wohlstandsprinzipien ohne Verlust von materiellem Wohlstand und von Priviligien gelingt. Und natürlich fangen die Probleme da an. Denn wir wissen ja nur allzusehr, wie einfach die Forderung nach Änderungen im Großen und bei Anderen im Vergleich zur praktischen Verhaltensänderung bei uns selbst ist. So absurd es klingt: Aber individueller Verzicht ist die größte Hürde für gesellschaftliche Veränderungen hin zu mehr Gerechtigkeit.

Es ist diese Bipolarität, die die neu aufkommende Debatte brisant macht. Die Sehnsucht nach einem neuen Gesellschaftsvertrag unter geänderten Ausgangsvoraussetzungen und neuen Werten steht im Gegensatz zum individuellen, nur allzu verständlichen Wunsch nach kurzfristiger Nutzenmaximierung. Beide Pole ergeben ein schwieriges Spannungsfeld für eine konstruktive Diskussion, die statt Parolen auch konkrete Veränderungen produziert. Es wäre der Debatte daher zu wünschen, dass sie ernsthaft und abseits von Extremismusvorwürfen geführt wird. Das Experiment, der Versuch neuer gesellschaftlicher Praktiken könnte ein Weg sein, dringend notwendige Transformation zu erzeugen. Ganz gewiss brauchen wir soziale Innovation auf sehr großer Ebene, wenn nicht alles beim Alten bleiben soll. Zu hoffen bleibt, dass wir uns da nicht mit unserer eigenen Bequemlichkeit im Wege stehen.

(Bildnachweis: OpenClipart-Vectors, Pixabax.com)

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Thomas Leppert
Wirtschaft & Soziales

Schreibt über Wirtschaft, Soziales und technologischen Wandel. Geschäftsführer Heldenrat GmbH in Hamburg. Trust me, I‘m a Chancemaker.