Das Tauziehen der Worte

Sebastian Pirling
5 min readFeb 21, 2016

Schlagworte wie “Flüchtlingskrise” und “Wir sind das Volk” offenbaren einen kulturellen Kampf um die Deutung der gegenwärtigen Flüchtlingssituation. Eine Reaktion auf Clausnitz

Wenn ich das Wort schon höre! “Flüchtlingskrise” ist ein Unwort, mit dem unser Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen und weltpolitischen Probleme verfälscht und kaleidoskopartig aufgesplittert wird. Denn mit dem Begriff “Flüchtlingskrise” werden Ursache und Auswirkung auf den Kopf gestellt und der Blick von den eigentlichen Krisen weggelenkt, die zur gegenwärtigen Flüchtlingssituation geführt haben.

Nicht die Flüchtlinge sind die Krise, sondern ein ungebremster Krieg der Weltmächte in Syrien und die strukturelle Armut unter anderem in Afrika, wie auch die Menge der Flüchtlinge zwar groß ist, unsere gesamteuropäische mangelnde Vorbereitung darauf aber in demselben Maß zu den krisenartigen Zuständen geführt hat. Wir sitzen nicht länger auf den “Brot und Spiele”-Tribünenplätzen der Weltgeschichte und dürfen uns “sicher” fühlen, sondern jetzt kommen die “Spielenden”, oder besser: die “Gespielten” des Weltgeschehens, zu uns herauf, um sich auf die freien Plätze neben uns zu setzen und uns um etwas von unserem Brot zu bitten.

Peter Sloterdijk und Botho Strauß mahnen, wir hätten unsere nationale Souveränität verloren, und damit sei unsere kulturelle Identität infrage gestellt. Wenn im ganzen Land an die Tausend Flüchtlingsunterkünfte brennen, dann sollte man allerdings nicht der Herkunft und Kultur der Flüchtlinge Schuld daran geben. Vielleicht ist es eher so, dass unsere Fähigkeit, die Brandstifter in unserer Mitte demokratisch und rechtsstaatlich zu kontrollieren, in eine Krise geraten ist. Wir als Gesamtgesellschaft haben offenbar große Schwierigkeiten, mit den Ängsten und den destruktiven Kräften überhaupt umzugehen und diese offensichtlich angst- und hasserfüllten Menschen von den radikalen Rändern wieder in unsere Mitte zurückzuholen und zu integrieren.

Der Begriff “Flüchtlingskrise” lenkt den Blick meiner Meinung zu schnell ab von diesen Problemen. Wir sollten uns nicht von den Worten irre machen lassen. Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur mangelnde Vorbereitung, Bequemlichkeit und Angst. Ja, die Flüchtlingssituation bringt uns als gesamteuropäische Gemeinschaft an unsere Grenzen. Aber mir ist unwohl, wenn die Flüchtlinge als Auslöser dieser Grenzsituation dargestellt werden, denn das verdeckt unseren Blick auf die eigentlichen Ursachen.

Angesichts der Entgleisung einer Horde von normalen, gut situierten Bürgern in Sachsen im Angesichts eines Busses mit Flüchtlingen — Männern, Frauen, Kindern, die alles verloren und aufgegeben haben und nun in einem Alptraum angekommen sind — , zeigt sich nun, wie im Schatten des zweifelhaften Begriffs “Flüchtlingskrise” ein anderes Schlagwort eine Umdeutung erfahren hat. Die Bedeutung des Rufs “Wir sind das Volk” wurde nun von den “besorgten Bürgern” gekapert und verdreht:

Wenn ich in dem Videoclip aus Clausnitz sehe, wie ein Bus eingekesselt ist von einer skandierenden Menge, die mit ihrem “Wir sind das Volk!” ganz deutlich feindselige Absichten zum Ausdruck bringt, wenn ich dann weinende Kinder und erschütterte, aufgeregte Frauen in dem Bus sehe, verzweifelte Männer, völlig passive Polizisten und einen resignierten Busfahrer, die ganz offensichtlich nicht mehr wissen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen, dann empfinde ich große Scham. Als 1979 in Sachsen geborener habe ich noch die Leipziger Montagsdemos im Fernsehen mitverfolgt, bei denen dieser Ruf das erste Mal aufkam, und dann im Herbst 1989 den Mauerfall. Und jetzt wird dieser Satz, dieser Ruf der Freiheit, korrumpiert und umgewidmet, um den lange unterdrückten rechtsnationalen Vorstellungen einen strafrechtlich statthaften Klang zu geben.

Wie viele andere vor ihm protestiert Stefan Kuzmany auf Spiegel Online gegen diese Verwendung des Protestrufs von 1989:

Ihr seid nicht “das Volk”. Ihr habt kein Recht, Euch mit diesem Satz zu schmücken. Er gehört den Menschen, die sich 1989 friedlich gegen die SED-Diktatur erhoben haben, mit Euch hat dieser Satz nichts zu tun.

Das ist der ehrenwerte Versuch, die ursprüngliche, freiheitliche Bedeutung dieses Satzes vor ihrer Perversion zu retten und zurückzufordern. Leider funktioniert das aber sowohl psychologisch als auch sprachlich nicht, und der Aufstieg von Pegida, AfD und dieser ganzen Strömung beweist das eindrücklich.

Slavoy Žižek erklärt das in seinem Film The Pervert’s Guide to Ideology anhand der NS-Ideologie und einem Auftritt der Band Rammstein. Ein Großteil dessen, was wir heute mit der Nazi-Ideologie und dem Hitler-Faschismus verbinden — die Massenaufmärsche, die Zeltlager der Jugendorganisationen, die Verknüpfung von Militarismus und Musik — sind eigentlich Elemente, die aus der linken Arbeiterbewegung übernommen wurden. Heute kann man sie nicht mehr “naiv” verwenden, denn sie sind für immer durch die Greuel des Nationalsozialismus korrumpiert.

Es sei denn, man deutet sie ironisch um, wie das Rammstein in ihren Auftritten bewusst gemacht haben. Der “Genuss” an den einzelnen Elementen (Kleidung, Sprache, Ikonografie) wird hier wieder möglich, weil ihr ursprünglicher Zusammenhang gebrochen wurde und die Elemente in einen neuen, kritischen Kontext gestellt werden.

Das Perverse an dem Ausruf “Wir sind das Volk” in Clausnitz ist, dass diese Leute den Ruf von 1989 einfach umdeuten, um damit ihre Absichten, die bislang von ihnen unterdrückt wurden (da sich nicht “politisch korrekt” sind), nun endlich in einem neuen Kontext Ausdruck geben zu können. Das Verständnis von Volk und Identität dieser Horden ist ein Märchenschloss brauner Ideologie, und wie das Schloss Neuschwanstein heute weder ein Ort zum Wohnen noch ein Ort historischer Bedeutung ist, sondern vor allem eine Stein gewordene Fantasie, so zeugt auch der Ruf der Pegida-Anhänger von einer Märchen-Identität, die gerade Gefahr droht, immer stärker Gestalt zu gewinnen.

Die rechte Ideologie von Pegida, AfD und “Flüchtlings-Demonstranten” ist deshalb so perfide, weil sie sich der demokratischen Mittel der Parteiengründung und der Demonstration bedient (und an dieser Stelle empfehle ich dringend die Lektüre von Viktor Klemperers Tagebüchern aus der Anfangszeit des Dritten Reiches). Deshalb hilft es nicht, ihnen diese Mittel — und der Ausruf von 1989 gehört dazu, er ist gewissermaßen die demokratische Trumpfkarte dieser Neo-Nazis — einfach zu verbieten. Ein “Du darfst das aber nicht!” hat noch kein dunkles Begehren zum Schweigen gebracht.

Das ist also unsere Krise. Ich habe oben ganz bewusst den riskanten Begriff “nationale Identität” benutzt — denn genau die wird momentan gekidnappt von einer Bewegung, die mit “national” vor allem Ausgrenzung und mit “Identität” vor allem antidemokratische Ideologie meint. Und ich bin nicht bereit, mein Selbstbewusstsein als Deutscher — hier stelle ich mich neben Lessing, Heine, Mendelssohn-Bartholdy, Einstein, Freud, Bonhoeffer, Tillich und Ahrendt — von diesen Horden für ihre eigenen braunen Ideen piratisieren zu lassen.

Deshalb empfehle ich die Rammstein-Strategie als Reaktion auf Clausnitz: Warum gehen nicht wir alle anderen auf die Straße und machen diesen Satz wieder zu unserem: “Wir sind das Volk!”? Warum gehe ich nicht raus, den Flüchtlingen entgegen, und sage: Ich bin das Volk — herzlich Willkommen!

Warum hören wir nicht endlich auf, in konturlosem Duckmäusertum vor den rechten Parolen zu erzittern — und lassen endlich die Muskeln unseren eigenen, offenen, europäischen Selbstbewusstseins spielen?

Zeit wird’s. Denn wir sind das Volk, yeah!

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Sebastian Pirling

Autor von »Der Planet der verbotenen Erinnerungen« // Lektor für Fantasy & Science-Fiction bei Heyne // https://linktr.ee/winterstumm