STIMMEN AUS MOSSUL
Einblicke in das Leben unter dem sogenannten Islamischen Staat (IS). In den Worten derer, die entkommen konnten.
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Hinter kilometerlangem Stacheldraht sitzt ein Meer von Menschen, zusammengedrängt zwischen bunten Matratzen, Decken, Kisten und überfüllten Kleidersäcken. Zwei Männer bahnen sich mit einem schweren Metallofen ihren Weg durch die Menge. „Wir wollten sicher gehen, dass wir hier kochen können“, sagt einer von ihnen. „Wir müssen uns hier zuhause fühlen — für die nächste Zeit jedenfalls.“
“Zuhause”, das ist jetzt das Khazer-Camp, ein Zufluchtsort für über 6.000 Iraker, die vor den Kämpfen um das nur 45 Kilometer entfernte Mossul geflohen sind. Die meisten kamen aus der Umgebung der Stadt Gogjali. Sie gehören zur ersten großen Gruppe von Vertriebenen, seit die Offensive am 17. Oktober begann. Obwohl das Gebiet von irakischen Sicherheitskräften zurückerobert wurde, hatten die blutigen Kämpfe ihnen keine andere Wahl gelassen, als zu fliehen — und das schnell.
Viele der Menschen, die im Lager ankommen sind erschöpft, durcheinander und hungrig. Das UN World Food Programme (WFP) heißt sie bei ihrer Ankunft mit einer warmen Mahlzeit und einer Notration Nahrungsmittel willkommen. Im Camp gibt es auch Kochmöglichkeiten und nachdem sich die Familien eingerichtet haben, erhalten sie von WFP jeden Monat Nahrungsmittel: Weizenmehl, Kichererbsen, Bohnen und Öl. Bisher konnte WFP über 66.000 Betroffene des Konflikts unterstützen. Manche von ihnen leben in Camps wie Khazer, andere entscheiden sich für temporäre Unterkünfte näher an ihrem Zuhause.
In jedem Winkel des Camps fließen Tränen, die Menschen können ihre Gefühle kaum zurückhalten, wenn sie ihre Familienmitglieder endlich wiedersehen, während andere versuchen, ihre wenigen Besitztümer zu transportieren und sich im Camp einzurichten. Dabei tragen viele eine weit schwerere Last als ihre Habseligkeiten — die Erfahrung, zwei Jahre lang unter dem IS zu leben und die Gedanken an eine unsichere Zukunft.
Einige Vertriebene waren so gut und bereit, kurz anzuhalten und uns einen Einblick in eine Realität zu geben, die nur sie selbst erlebt haben — und die der Rest der Welt nur durch ihre Worte erfahren wird.
ABDULLAH UND NAJAH
Abdullah: „Als der IS 2014 Mossul eroberte, rannten wir nur. Überall nur noch Schießereien, Kämpfe, Chaos. Irgendwie wurden wir getrennt und meine Tochter Najah blieb zurück. Nachdem ich meine halbe Familie in Sicherheit gebracht hatte, ging ich zurück, um nach ihr zu suchen, aber alle Straßen in die Stadt waren blockiert. Ich kann nicht in Worte fassen, was ich in diesem Augenblick fühlte.
Es ist zwei Jahre, zwei Monaten und sieben Tagen her, seit ich meine Tochter zum letzten Mal sah. Ich dachte jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde an sie.
Sie heute zu sehen fühlt sich an, als wäre ich neu geboren. Es ist, als hätte ich seit fast drei Jahren Durst und endlich gibt mir jemand etwas zu trinken.
Ich versuchte sie aus der Ferne zu beschützen. Ich schickte ihr heimlich Geld und arrangierte sogar eine Hochzeit für sie, mit jemandem, den wir kannten, nur damit kein Mitglied des IS sie zur Ehe zwingt.”
Najah: „Ich habe mich über zwei Jahre lang gefangen gefühlt — es war unmöglich, nach draußen zu gehen. Weil nur meine Mutter und ich zuhause waren, mussten wir meinen fünfjährigen Bruder auf den Markt schicken. Er musste das Essen kaufen, weil er der einzige Mann im Haus war. Die Erleichterung, hier bei meinem Vater zu sein, ist unbeschreiblich.“
HUSSAIN
Hussain ist 62 Jahre alt und sitzt neben seinem weltlichen Besitz im Khazer-Camp. „Das ist nicht alles, was ich besitze“, sagt er. „Es sind nur die wichtigsten Sachen. Einige Kleider, Nahrungsmittel und Hygieneartikel. Alles andere mussten wir zurücklassen. Das ist das zweite Mal, dass wir unser Zuhause verlassen müssen und wir haben viele unserer Sachen das letzte Mal verloren. Jetzt verlieren wir sie wieder.
Vor zwei Tagen wurde Gogjali von irakischen Sicherheitskräften zurückerobert, aber die Kämpfe gingen noch weiter. Wir hatten also keine andere Wahl, als zu gehen. Wir zögerten, aber am Ende mussten wir zwischen unserem Leben und unseren Habseligkeiten entscheiden.
Das Leben unter dem IS war tragisch.
Wir blieben unter uns und versuchten keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber es war schwierig. Mein Gehalt wurde gestrichen. Meine Söhne arbeiten beide im Import- Exportsektor, aber es war unmöglich zu handeln und das Geschäft kam zum Erliegen.
Zum Glück hatten wir Ersparnisse, also waren wir OK. Andere mussten für ihr Essen betteln — sie konnten sich keines mehr kaufen, weil es so teuer wurde. Aber weil Betteln unter dem IS verboten war, versuchten die Menschen es diskret zu machen. Am Anfang halfen wir unseren Verwandten, die kein Auskommen hatten, aber im Laufe der Zeit bekamen wir Angst, dass es für uns selbst nicht mehr reichen würde.“
FATIMA UND AMIRA
Fatima: „Hierher zu kommen war wirklich schwierig, wir wurden oft von der Armee gestoppt. Uns wurde gesagt, dass wir zurückgehen sollten. Aber wir wussten, dass unsere Gegend nicht mehr sicher ist, weil sie dort immer noch kämpfen. Deshalb flohen wir mit der ganzen Familie weiter.
Zwar haben wir nur 50 Meter voneinander entfernt im selben Dorf gelebt, aber weil wir nicht nach draußen durften, konnten wir uns nie richtig sehen.
Wir haben uns erst vor einer Stunde hier im Camp wiedergetroffen.
Es war extrem schwer, ein normales Leben zu führen. Ich war verzweifelt, hatte Angst und vermisste meine Familie. Heute sehe ich meine Schwester und meine Mutter zu ersten Mal seit zwei Jahren. Und meine Mutter sieht ihre Enkelin zum allerersten Mal!“
Amira: „Das Leben in Gojali war hart. Der IS verbietet Frauen, das Haus zu verlassen ohne voll verschleiert zu sein. Und selbst dann war man nicht sicher. Wir durften einander nicht anrufen, weil auch Handys verboten waren.“
HIKMET, SOFIAN UND QUTAIBA
„Wir verließen Gogjali gestern Morgen. Als es uns gelang zu fliehen, war es wie ein großer Festtag. Wir waren so glücklich!
Als ich hier ankam habe ich mir als allererstes den Bart abrasiert, den ich unter dem IS wachsen lassen musste. Jetzt findet mich meine Frau wieder attraktiv!
Die letzten Jahre haben sich sehr eingeschränkt angefühlt. Meine Frau Zainab war zwei Jahre lang nicht auf dem Markt. Ich habe immer die Einkäufe erledigt, weil sie das Haus nicht verlassen durfte. Dann hatte ich keine Arbeit mehr und unser Einkommen war weg. Wir mussten letztes Jahr zwei Autos verkaufen, nur um Nahrungsmittel und das Nötigste zu kaufen.
Die Jungen mussten aufhören, in die Schule zu gehen. Wir hatten sie gerade eingeschrieben, als wir herausfanden, dass sie nach den Lehren des IS erzogen werden würden, die wir völlig ablehnen. Deshalb entschieden wir uns, sie zu Hause zu behalten. Das hat mich besonders traurig gemacht — die Jungen sind mein Leben.“
Sie können die Menschen aus Mossul und anderen betroffenen Gebieten im Irak mit einer Spende unterstützen. JETZT SPENDEN
FOOTNOTES: Geschichte von Alexandra Murdoch. Fotos: WFP/Alexandra Murdoch