Das Paradox der Konnektivität

Über das richtige Maß an Konnektivität im Homeoffice

Marlene Jost
zero360
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6 min readApr 6, 2020

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Das Corona-Virus versetzt Deutschland in den Ausnahmezustand. Kontaktsperren werden verhängt, Grenzen geschlossen und Arbeitnehmer*innen ins Homeoffice geschickt. In diesen verrückten Zeiten der Isolation erscheinen digitale Kommunikationsmittel als Allheilmittel, um die entstandene Distanz — im privaten sowie beruflichen Kontext — zu überwinden. Anstatt sich mit Freunden zu treffen, werden Facebook- und WhatsApp-Calls eingeführt. Anstelle von Teammeetings im Office, diskutiert man via Zoom, Slack oder Google Hangout von zu Hause aus. Die rasche Verbreitung des Internets und der Aufstieg mobiler Kommunikationsmittel ermöglichen es uns, jederzeit und von überall verbunden zu sein. Auf diese Weise kann dem Verlust formeller und informeller Interaktionen zwischen Teammitgliedern sowie dem Gefühl der Isolation entgegengewirkt werden.

Doch gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem. Gerade im Corona-Alltag wird die heimische Umgebung zum Office. Dieser Umstand kann zu psychischen Belastungen führen. Man steht ständig unter Strom. Das Abschalten in den Pausen gelingt nicht mehr oder es treten sogar Schlafstörungen auf. Die ständige Erreichbarkeit löst ein Gefühl der Erschöpfung aus. Wissenschaftler bezeichnen die Tatsache, dass Kommunikationstechnologien Entfernungen überwinden und doch gleichzeitig das Wohlbefinden des Einzelnen beeinträchtigen können, als das Paradox der Konnektivität (Leonardi, Treem und Jackson 2010). Es stellt sich also die Frage:

Wie viel Konnektivität brauchen wir, um die Leistungsfähigkeit virtueller Teams sowie das eigene Wohlbefinden zu optimieren?

3 Zonen der Konnektivität

Die Wissenschaftler Collins und Kolb (2012) forschen bereits seit geraumer Zeit an diesem Thema. Während sie sich mit der Frage befassten, wie viel Konnektivität auf organisatorischer und individueller Ebene für eine optimale Performance benötigt wird, entwickelten die Forscher folgenden Zusammenhang.

Zonen der Konnektivität (adaptiert von Kolb et al. 2008)

Die Darstellung oben zeigt die unterschiedlichen Zonen der Konnektivität: Hypo-Connectivity, Requisite Connectivity und Hyper-Connectivity (Kolb 2008). Gemäß der Wissenschaftler hängt die Leistung des virtuellen Teams von der Konnektivität zwischen den verteilten Mitgliedern ab.

Hypo-Connectivity beschreibt den Zustand der unzureichenden Verbindung zwischen Teammitgliedern für bestimmte Aufgaben oder soziale Ergebnisse (Kolb, Collins und Lind 2008). Beispiele sind die Nichtteilnahme an virtuellen Meetings, schlechte Erreichbarkeit oder das Verlorengehen des Teamgefühls aufgrund fehlender Gespräche. Wie auf dem Schaubild zu erkennen ist, führt dies zu reduzierter Performance.

Sobald ausreichende Möglichkeiten für den informativen und sozialen Austausch zwischen Teammitgliedern geschaffen werden, erreicht man das richtige Maß an Konnektivität, genannt Requisite Connectivity. Allerdings besteht die Gefahr, dass virtuelle Teams, bei dem Versuch den Mangel an Konnektivität auszugleichen, überkompensieren und in die Zone der Hyper-Connectivity rutschen. Das Gefühl ständig auf Abruf zu stehen oder die Erwartungshaltung 24/7 erreichbar zu sein sind Zeichen für Hyper-Connectivity. Dies führt zu Informationsüberflutung, niedriger Produktivität und geringer Team Performance (Kolb et al. 2008).

Invasive Technologien und Hyper-Connectors

Insbesondere die Smartphone-Nutzung fördert das Verhalten, jederzeit und überall mit dem Arbeitsplatz verbunden zu sein. Mobile Geräte ermöglichen eine schnellere Generierung und einen schnelleren Transport von Informationen, was zu einer erhöhten organisatorischen Erwartungshaltung führt, schneller auf neue Daten zu reagieren und sich stärker zu engagieren. Auch wenn ein hohes Maß an Mitarbeiterengagement für Unternehmen aufgrund längerer Arbeitszeiten (Dauer), effizienterer Nutzung der Zeit (Intensität) und einer stärkeren Konzentration auf organisatorische Ziele (Richtung) möglicherweise von Vorteil ist, kann die Extremversion negative Auswirkungen auf Individuen sowie Organisationen haben (MacCormick et al. 2012).

Personen, die ihr Smartphone übermäßig verwenden, auch Hyper-Connectors genannt, laufen Gefahr, aufgrund häufiger Unterbrechungen wie eingehender Sofortnachrichten, ständig abgelenkt zu werden. Insbesondere wenn tiefe Denkleistungen erforderlich sind, kann sich übermäßiges Engagement negativ auf die Arbeitseffizienz auswirken. Laut dem kognitiven Psychologen Atchley verringert Multitasking anstelle serieller Aufgaben die Effizienz um bis zu 40 Prozent und auch die Kreativität wird beeinträchtigt. Übermäßiges Engagement kann auch die zwischenmenschlichen Beziehungen schädigen, indem unrealistische Anforderungen an andere Teammitglieder gestellt werden.

Darüber hinaus fanden Wissenschaftler heraus, dass eine ständige Erreichbarkeit zu Schlaf- und Sportmangel führen kann sowie das Risiko erhöht, zu viel zu essen, in Übermengen Alkohol zu trinken oder Schlaftabletten zu nehmen (Hewlett und Luce 2006). Auch die verschiedenen Indikatoren für die Nichtverfügbarkeit von Skype (away, not available, do not disturb, invisible, offline) spiegeln das Bedürfnis nach Pausenzeiten wider. Ein Mangel an Erholung kann langfristig also negative Auswirkungen auf das psychische und körperliche Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen haben, was wiederum zu Stress am Arbeitsplatz, Erschöpfung und sogar zu professionellem Burnout führen kann.

Man muss also lernen das richtige Maß an Konnektivität zu finden — doch wie gelingt das im Homeoffice?

Kommunikationsrichtlinien für die strukturierte Online-Zeit

Virtuelle Teams sollten sogenannte Distance Policies oder Kommunikations-richtlinien festlegen, um das richtige Maß an Konnektivität zu ermöglichen. Und zwar, indem die Teammitglieder gemeinsam beschließen, auf welche Weise und zu welchen Zeitpunkten sie in Verbindung stehen wollen. Die Balance zwischen “Connection” und “Disconnection” sollte so gewahrt werden (Collins und Kolb 2012). Der Dialog über Konnektivität ist unerlässlich, um die impliziten Erwartungshaltungen bezüglich wann und wie kommuniziert werden soll, explizit zu machen. Nur so kann ein Konsens gefunden werden.

Gerade für Teams, die im Innovationskontext virtuell zusammen arbeiten, ist es besonders wichtig, den Wert der Nichtverfügbarkeit zu erkennen. Denn gemäß Nurmi und Hinds (2016) hängt das Lern- und Innovationspotenzial virtueller Teams von der Erholung außerhalb der Arbeitszeit ab. Für kreative und kritische Denkprozesse ist die mentale Erholung in Isolation eine wichtige Voraussetzung (MacCormick et al. 2012; Murphy 2007). Teammitglieder sollten es daher vermeiden in einem “hyper-connected“ Zustand zu verharren (MacCormick et al. 2012).

Offizielle Kommunikationsrichtlinien, welche Phasen der Nichtverfügbarkeit zur Reflexion und Regeneration unterstützen, können dabei hilfreich sein. Beispiele sind täglich terminierte Team Check-ins und Check-outs, klare Pausenzeiten sowie abgesprochene Reaktionszeiten auf Mails oder Slack-Nachrichten. Denn Homeoffice darf nicht mit ständiger Erreichbarkeit und Arbeit rund um die Uhr einhergehen.

Abgrenzungsmechanismen für die erholsame Offline-Zeit

Neben Kommunikationsrichtlinien für die strukturierte Online-Zeit, können Abgrenzungsmechanismen helfen, erfolgreich in die Offline-Zeit zu gelangen. Die Studie von Leonardi und Kollegen (2010) zeigt, dass Individuen, welche unter zu viel Konnektivität gelitten haben, neue Verhaltensmuster entwickelten, um dem Gefühl von Stress oder Invasion, welches durch den Einsatz neuer Technologien ausgelöst werden kann, entgegenzuwirken. Manche schalten ihre Mail-Programme aus, andere das WLAN, um ihre Konzentration und mentale Flexibilität wiederzuerlangen.

Ein weiterer Mechanismus, die Grenze zwischen online und offline zu ziehen, ist die Regel keine Handys oder Laptops im Schlafzimmer abzulegen. Anstatt unmittelbar nach dem Aufwachen E-Mails, Slack-Nachrichten oder LinkedIn-Posts zu lesen, kann so der Morgenroutine volle Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese Mechanismen können helfen, der Versuchung süchtig machender Technologien zu widerstehen. “In unserem Bestreben nach dem richtigen Maß an Konnektivität, suchen wir nach genügend Konnektivität für unsere beabsichtigten Zwecke, aber nicht in dem Ausmaße, dass sie unsere Leistung untergräbt, in unseren persönlichen Raum eindringt, Zeit verschwendet und / oder Stress und Angst erzeugt” (Kolb et al. 2008, S. 186).

Literaturverzeichnis
Atchley, P. (2010) You can ́t multitask, so stop trying. Harvard Business Review.

Collins, P. and Kolb, D. (2012) Innovation in distributed teams: The duality of connectivity norms and human agency, in C. Kelliher and J. Richardson (eds.), New ways of organizing work: Developments, perspectives and experiences, New York: Routledge, pp. 140–159.

Hewlett, S. A. and Luce, C. B. (2006) Extreme Jobs: The Dangerous Allure of the 70-Hour workweek. Harvard Business Review, 84(12): 49–59

Kolb, D. (2008) Exploring the Metaphor of Connectivity: Attributes, Dimensions, and Duality. Organization Studies, 29(1): 127–144.

Kolb, D., Collins, P. and Lind, E. (2008) Requisite Connectivity: Finding flow in a not-so-flat world. Organisational Dynamics, 37(2): 181–189.

Leonardi, P., Treem, J. and Jackson, M. (2010) The Connectivity Paradox: Using Technology to Both Decrease and Increase Perceptions of Distance in Distributed Work Arrangements. Journal of Applied Communication Research, 38(1): 85–105.

MacCormick, J., Dery, K. and Kolb, D. (2012) Engaged or just connected? Smartphones and employee engagement. Organisational Dynamics, 41(3): 194–201.

Nurmi, N. and Hinds, P. (2016) Job Complexity and Learning Opportunities: A Silver Lining in the Design of Global Virtual Work. Journal of International Business Studies, 47(6): 631–654.

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Marlene Jost
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