Wie erkennt man die wirklich wichtigen Trends?
Ein Interview mit Raphael Gielgen
Raphael Gielgen ist Trendscout für Future of Work beim Möbelhersteller Vitra. Für seinen Job reist er quer durch die Welt (wenn eine Pandemie ihn nicht gerade zuhause auf seinem Bauernhof in der Nähe von Regensburg hält) und sucht nach Trends, die unser (Arbeits-)Leben verändern. Damit füllt er ein „Panorama“, das einen Einblick in unsere mögliche Zukunft gibt. Wir haben uns mit ihm darüber unterhalten, wie man es schafft, die wirklich relevanten Trends zu erkennen.
Du bist Trendscout. Das heißt, du musst Dinge erkennen, die andere noch nicht wahrnehmen. Wie erhältst du dir einen frischen Blick auf die Dinge?
Mein Job ähnelt dem eines Menschen, der die Wettervorhersagen macht. Der betrachtet das Wetter immer wieder neu, schaut sich die Parameter an und die daraus entstehenden Kombinationen. Auch in der Welt der Trends verändert sich immer etwas. Da kann gar keine Routine oder Langeweile aufkommen. Und mit jeder Entdeckung lernt man etwas dazu. Das heißt, das eigene Vermögen, Dinge anders zu denken, neue Fragen zu stellen und das Bild größer aufzuziehen, wächst immer weiter.
Du hast mal gesagt „Groß Denken ist schwierig“. Wie schaffen wir es trotzdem?
Mit dem „groß Denken“ ist es wie mit dem Marathonlaufen. Was Menschen davon abhält, einen Marathon zu laufen, ist die Anstrengung. Was die Menschen davon abhält, groß zu denken, ist ebenfalls die Anstrengung. Denn die Frage ist: Warum sollte ich das tun? Was bringt das, wo ich doch sowieso keinen Einfluss habe? Die Sinnhaftigkeit der Aufgabe, groß zu denken, erschließt sich den Menschen einfach nicht. Da fängt es an. Wenn du aber den Wunsch hast, Dinge zu begreifen, dann fällt dir auch die Anstrengung nicht mehr schwer. Mich treibt das Verstehen an — ich habe einen unendlichen Wissensdurst. Darum fällt es mir nicht schwer, groß zu denken.
Aber wie verliert man sich beim groß Denken nicht in Details?
Wenn ich mich mit einem neuen Thema beschäftige, kann es nötig sein, erst alle Detailinformationen aufzunehmen und dann das Relevante zu identifizieren. Ein Beispiel: Bei Smartphones muss ich nicht wissen, wie die Geräte technisch aufgebaut sind. Ich muss allerdings den Kontext verstehen, den Smartphones in die Welt bringen. Wenn ich mich bei einem Thema gut auskenne, muss ich hingegen nicht so viele Informationen sammeln. Ich kann direkt auf meiner bisherigen Erfahrung aufbauen. Es geht darum, ein Gefühl zu entwickeln, wann ich mich auf etwas einlassen muss und wann ich mein bestehendes Wissen nutzen kann. Das ist elementar.
Du beschäftigst dich intensiv mit der Zukunft der Arbeit. Wie identifizierst du die für deine Kunden relevanten Trends in diesem Bereich?
Wenn mich jemand fragt „Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus“, zeige ich mein Panorama. Das ist eine Darstellung der wichtigsten Zukunftstrends und ermöglicht es mir, Muster und Kontexte aufzuzeigen, die unsere Zukunft bestimmen werden. Das führt zu einem Dialog, der dem Kunden hilft, die Zukunft zu identifizieren, die er für wahrscheinlich hält. In diesem Dialog lade ich dazu ein, Was-wäre-wenn-Fragen zu stellen. Denn oft stellen die Menschen Ja-Nein-Fragen, wie etwa „bleiben wir im Büro?“. Fragen der Zukunft beantwortet man allerdings nicht mit Ja oder Nein. Stattdessen formuliert man so: Was wäre, wenn ein Großteil der Mitarbeitenden zukünftig ihr Zuhause als Arbeitsplatz bevorzugt? Aus dieser einen Frage leiten sich dann viele Unterfragen ab: Was bedeutet das für unsere Zusammenarbeit? Was bedeutet das für die Art und Weise wie wir führen oder geführt werden? Was bedeutet das für den physischen und den virtuellen Raum der Arbeit? All das kommt aus einer einzigen Was-wäre-wenn-Frage. Diese Fragen sind so toll, weil sie provozieren. Sie führen uns in eine andere Zeit, ohne dass sie uns wehtun — weil sie im Konjunktiv gestellt werden. Sie haben etwas Spielerisches oder Kindliches, bei dem die eigene Vorstellungskraft gefragt ist.
Die Frage nach der Zukunft der Arbeit wird seit Beginn der Corona-Krise immer lauter gestellt. Der Arbeitsalltag vieler Menschen hat sich radikal verändert. Wie finden wir einen Weg aus der Krise in eine positive Zukunft der Arbeit?
Wir sollten uns in den nächsten Wochen Zeit lassen, unsere Umgebung immer wieder neu zu entdecken und zu begreifen. Es gibt gerade keine schnellen Antworten. Wir betreten den größten Strukturwandel der Wissensarbeit. Jetzt gilt es, neue Handlungsweisen von spannenden Organisationen oder Protagonisten zu entdecken und zu sammeln. Aus der Summe der vielen Entdeckungen und Sammlungen entsteht dann ein größeres Bild. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist allerdings schwieriger. Er besteht daraus, den Klebstoff von den Füßen zu bekommen. Damit meine ich, dass wir uns von der Schwerkraft der existierenden Geschäftsmodelle lösen müssen: von dem jetzigen Zustand der Firma, der Kunden, der Bezahlsysteme, der Schlüsselaktivitäten und so weiter. Was wir eigentlich in diesem Gedankenspiel erreichen müssen, ist Schwerelosigkeit. Das erfordert eine ungeheure mentale Anstrengung. Aber das ist das Wichtigste: Wir müssen aus der Business Gravity raus und uns trauen, ganz neu zu denken. Nur so können wir die Potentiale der Krise nutzen.