Let’s talk about “Bildung”

Aileen
Die Zukunftsbauer — was ist deine Mission?
13 min readAug 19, 2019

Vor einigen Wochen fiel mir ein Artikel des Autors Sascha Lobo in die Hände, der mich wütend gemacht hat. Er fordert: “Wir brauchen weniger Bildung und mehr Erziehung in den Schulen”. Dabei ärgert mich nicht die provokante These an sich, die ich sogar teils unterstütze, sondern, dass es einmal mehr ein grundlegendes Problem in Deutschland aufzeigt: Es fehlt eine gesellschaftlich gelebte Definition davon, was Bildung eigentlich ist…

https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/schule-der-zukunft-mehr-erziehung-weniger-bildung-kolumne-a-1276675.html

Lieber Herr Lobo,

ich bin Aileen, Zukunftsforscherin, Berliner Bildungsaktivistin und Gründerin eines BMBF prämierten Bildungsprojekts, dass Menschen zu Gestaltern ihrer und unserer Zukunft macht. Von Ihnen weiß ich, dass Sie gern gesehener Gast auf Kongressen wie der Republica sind und für das ein oder andere Zitat von Ihnen habe ich mich auch schon begeistern lassen. Vorab: Ich finde ehrliche Meinungen, Provokation und Diversität großartig, denn genau das fehlt uns in unserer oft oberflächlichen Debattengesellschaft. Trotzdem sollten wir mal über Ihren letzten Artikel sprechen, denn da zeigt sich ein Problem: Wir leben leider, anders als von Ihnen behauptet, noch nicht genügend Bildung im Sinne eines humanistischen Bildungsverständnisses in diesem Land…

Inhalt Artikel:

  1. Status Quo: Die Rolle von Bildung in Deutschland — da geht noch was!
  2. Sozialisation, Erziehung und Bildung: eine Begriffsklärung.
  3. Bildung vs. Ausbildung, worüber reden wir eigentlich?
  4. Bildung = Imagination and Creation!
  5. Bildung als Erlebnis und Transformationsmoment, nicht als Zertifikat.
  6. Bildung: Die Basis für eine neue Verantwortungsgesellschaft.
  7. Wo bleibt Ihre Bildungsutopie, Herr Lobo?

1.) Status Quo: Die Rolle von Bildung in Deutschland — da geht noch was!

Liest man Ihren Artikel, entsteht der Eindruck, Deutschland sei richtig überaktiv, wenn es um das Thema Bildung geht. Hach, wenn es doch mal so wäre! Schaut man sich aber die Fakten an, dann handelt es sich viel mehr um ein Trauerspiel: Im Bereich der Bildungsausgaben schneidet Deutschland im internationalen Vergleich leider noch schlechter ab als bei PISA. Zwar sind diese seit 1995 kontinuierlich gestiegen, gemessen am BIP aber liegt Deutschland mit 4,2% sogar unter dem OECD Durchschnitt (5%)! Zudem: Die letzte große Bildungsreform liegt Jahre zurück und die meisten deutschen Schulsysteme orientieren sich noch immer an der Dreigliedrigkeit des Hamburger Abkommens von 1964 (vgl. Precht 2013, S. 51). Richard David Precht schreibt hier wie einige andere sehr passend:

„Wir brauchen keine weitere Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!“ (Precht, 2013)

2.) Sozialisation, Erziehung und Bildung: eine Begriffsklärung.

Sascha Lobo: „Ich fordere: Weniger Bildung für die Schule! Und mehr Erziehung. Zugegeben plakativ, aber es ist die Essenz der Aufgabenverschiebung, vor der die Schule der Zukunft steht.“.

Prinzipiell widerspreche ich Ihnen nicht in der Forderung nach mehr Erziehung und der Notwendigkeit einer Aufgabenverschiebung der Schule in den kommenden Jahren, sondern begrüße dies sogar. Aber: Wir vermengen hier Äpfel mit Birnen und lassen auch noch die Hälfte an Informationen weg, denn eigentlich müssten wir über den folgenden Dreiklang diskutieren: Sozialisation, Erziehung und Bildung. Nur zwei Begriffe aus dem Schulwesen zusammen zu hauen reicht für eine Debatte, die Sie eröffnen wollen, nicht aus. Hier ein kurzer Auszug aus der Wissenschaft:

„Die Verwobenheit der Begriffstriade „Sozialisation — Bildung — Erziehung“ äußert sich vor allem darin, dass mit ihnen Prozesse der Erfahrungsgenese, des Lernens und der „Kultivierung von Individuen“ umschrieben werden. Es geht also um Vorstellungen darüber, welche Fähigkeiten und Eigenschaften Menschen für ein geordnetes und sinnvolles Zusammenleben erwerben sollten. Zugleich verweisen die Begriffe auf einen anthropologischen Sachverhalt: auf die Vermittlung und Tradierung von Handlungswissen und kulturellen Praktiken in und durch Generationenbeziehungen. Zusammengenommen werden mit der Begriffstriade „Sozialisation — Bildung — Erziehung“ also Prozesse der sozialen Integration von Individuen in die Gesellschaft umschrieben sowie die sich daraus ergebende Aneignung und Weitergabe von kulturellem Wissen und persönlichen Handlungsbefähigungen, die für die gesellschaftliche Teilhabe funktional und für die Entwicklung der Persönlichkeit förderlich sind.“ (vgl. Grundmann)

Konkret heißt das (vgl. Deutschlandfunk Nova):

  1. Sozialisation meint den Prozess in unserer Entwicklung, den wir als Person in einer Gesellschaft nebenbei vollziehen, indem wir uns Verhaltensmuster abschauen z.B. von Mama abgucken wie man mit Messer und Gabel etwas isst. Oder wie in Ihrem Beispiel leider auch das Gewaltattentat.
  2. Erziehung hingegen ist ein Prozess, der mittels Sozialisationsagenten (wie zum Beispiel ErzieherInnen) passiert, damit sich etwas nicht nebenbei entwickeln soll, sondern Kinder bewusst etwas lernen z.B. Etikette und wie man zu Tisch ist. Dabei steht hier das Ziel im Vordergrund, das wir damit ein immer gleiches Verhalten evozieren. Kritisch gesehen kann man auch sagen, wir wollen den Menschen erwartbar machen. Ich bin voll bei Ihnen, dass es hier bei einigen grundlegenden Verhaltensweisen vom Guten Morgen im Fahrstuhl sagen bis zum Tür aufhalten ganz schön mangelt. Allerdings sollte man im gleichen Atemzug auch mal erwähnen, dass wir die hierfür wichtigen Berufsgruppen wie ErzieherInnen oder SozialpädagogInnen in den letzten Jahrzehnten stetig abgebaut haben und sie verglichen mit anderen Berufen nicht besonders (finanziell) wertschätzen. Und auch die Bologna Reformation tat dem Ganzen nicht besonders gut, litt doch hierunter vor allem der pädagogische Anteil im Lehramtsstudium.
  3. Und nun wird es spannend, wir kommen zum dritten Begriff: Bildung. Bildung hat im Fokus, Menschen zu befähigen ein kritisches, reflexives Bewusstsein zu entwickeln, wobei es sich hier um einen nie abgeschlossenen Prozess handelt. Sie schreiben selbst: „Kinder bilden nicht nur die positive Zukunft, sondern auch den Grad der Monstrosität ihrer Umgebung ab.“. Ist es dann aber richtig, Bildung abzuschaffen? Einen Prozess, der die Entwicklung eines eigenen, reflexiven Bewusstseins fördert?

3.) Bildung vs. Ausbildung, worüber reden wir eigentlich?

Sascha Lobo: “Die Schuldebatten der Mehrheitsgesellschaft werden meist allein über “Bildung” geführt. Schon weil niemand gegen Bildung ist. Bildung als magische Rettungssoße, die man über Probleme aller Art gießt […].”

Das ist schlichtweg falsch. Denn Bildung im Sinne einer Bildung wie oben beschrieben findet sich in unserem Schulen leider wenig bis gar nicht. Aufgabenverschiebung yes, weniger Bildung no! Vielleicht einigen wir uns auf weniger Ausbildung und mehr Bildung, wie klingt das? Um den Unterschied zu verstehen, müssen wir aber etwas zurück in die Geschichte gehen… .

Die Bedeutung des modernen Bildungsbegriffs entwickelte sich aufbauend auf dem Ideal der Aufklärung dem Menschen die Möglichkeit zur Entwicklung für das Treffen eigenständiger Entscheidungen zu geben (vgl. Lotter 2017b). Als einer der bekanntesten Vertreter dieser Zeit und vor allem Vordenker im Bereich Bildung gilt hier der Preuße Wilhelm von Humboldt, der im Rahmen des Königsberger Schulplan und auf Grundlage des autonomen Individuums sowie der Idee eines Weltbürgertums das humboldtsche Bildungsideal entwickelte. Der sich davon ableitende moderne Bildungsbegriff baut dabei auf den folgenden vier Denkweisen auf (nach de Haan 2007):

  1. Mündigkeit und Autonomie des Individuums.
  2. Recht auf Selbstdurchsichtigkeit und Selbstverwirklichung.
  3. Distanz zum bloß Nützlichen.
  4. Einsicht, dass Selbstverwirklichung und Individualisierung nur im Kontext von Gemeinschaften verwirklicht werden können.

So forderte Humboldt, dass der Berufsausbildung eine allgemeine Menschenbildung vorausgehen muss, mit dem Ziel Bürger und keine Fachkräfte auszubilden (vgl. Flitner und Giel 1980). Dabei orientierte sich Humboldt an der humanistischen Bildungstradition Platons, die besagt, dass Bildung vor allem ein Selbstzweck ist und im Zentrum des Humanismus die Persönlichkeitsbildung steht. Der Institution Schule kommt hier die Aufgabe zu, die Grundlagen zu schaffen, um sich später als selbstständiger und mündiger Bürger im beruflichen und gesellschaftlichen Leben zurechtzufinden. Durch Humboldts frühes Ausscheiden aus seiner Staatsfunktion aber und aufgrund eines fehlenden Rückhalts, blieb es jedoch nur bei einem Ideal, so erschienen viele von Humbodts Ideen der preußischen Ständegesellschaft zu unrealistisch (vgl. Flitner und Giel 1980) und Humboldts Idee eines Gymnasiums als Bürgerschule hat sich über die Jahre vielmehr zu einer Schule für die Elite entwickelt.

Jetzt, mit dem Wandel der Arbeit und zunehmenden Digitalisierung, wird aber sichtbar, dass sich die Schule von heute damit an einem längst vergangenen Paradigma orientiert, in dem Bildung vor allem als eine rein strategische Ressource gesehen wurde und Wissen nur begrenzt zugänglich war (vgl. Precht 2013).

In den letzten 200 Jahren seit dem Beginn der modernen Gesellschaft hat sich die Art und Weise wie sich Menschen fortbewegen, sie konsumieren, kommunizieren und arbeiten geändert, das Konzept Schule aber ist seither gleichgeblieben und baut noch immer auf der Grundlage des preußischen Schulsystems auf. Damals aber war der Zweck der Schule ein ganz anderer und lag vor allem in der unmittelbaren, praktischen Verwertung von SchülerInnen (vgl. Flitner und Giel 1980). Bildung im Sinne der humboldtschen Bildung wurde in den deutschen Schulen also noch nie wirklich gelebt, sondern sie wurden immer als ein reiner Ausbildungsort verstanden. Das Argument, wir hätten zu viel Bildung, stimmt also nicht. Das Gegenteil ist der Fall, wir fördern zu wenig “echte” Bildung!

4.) Bildung = Imagination and Creation!

Sascha Lobo: „Das Internet ist, trotz allem, die mächtigste jemals erfundene Bildungsmaschine. Also könnten sich die Schulen doch verstärkt auf ihren anderen Auftrag konzentrieren: Erziehung. Nötig wäre das ganz offensichtlich.“.

Absolut nicht. Das Internet hat für eine Demokratisierung des Wissens gesorgt ja, Bildung aber ist das nicht. Warum nicht? Weil Bildung mehr ist als Wissen und Wissen mehr als Information. Bildung meint keine Ansammlung von Fachwissen, sondern den gebildeten Menschen. So schrieb schon Nietzsche:

„Der wissenschaftliche Mensch und der gebildete Mensch gehören zwei verschiedenen Sphären an.“ (Nietzsche, 1872)

Bilden leitet sich dabei ab von “Bild”, sich ein Bild machen und im Englischen von “to build”, etwas formen (fun fact: Im Ausland, vor allem Skaninavien geht man total auf den deutschen Begriff Bildung ab). Ein gebildet Sein zeigt sich dabei an sechs Maßstäben (vgl. von Hentig 2005):

  1. Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit.
  2. Die Wahrnehmung von Glück.
  3. Die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen.
  4. Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz.
  5. Wachheit für letzte Fragen.
  6. Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica.

Wie das Beispiel Wikipedia zeigt, hat sich die letzen Jahre der Zugang zu und die Bedeutung von Wissen stark verändert. Das, was früher nur für gut betuchte Familien zugänglich war oder ausschließlich durch Lehrende vermittelt wurde, ist mittlerweile weltweit und öffentlich verfügbar. Wissen aber kann nicht mit Information gleichgesetzt und unreflektiert genutzt werden. Mit der Zunahme der Digitalisierung und der veränderten Rolle von Wissen steigt deshalb der Bedarf an einer Bildung, die mehr einschließt als die reine Vermittlung und neue Formen des Wissens nötig macht. Hierzu gehören laut des Erziehungswissenschaftlers de Haan (vgl. 2015) neue Wissensformen sowie ein Umgang mit verschiedenen Formen des Nicht-Wissens. Neue Formen des Wissens wiederum benötigen experimentelles Handeln, Systemdenken, abstraktes Denken und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Um eine aktive, autonome Teilhabe in einer modernen, demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft zu fördern, muss die Schule als eine zentrale Institution des Wissens Individuen diese neuen Formen des Wissens zugänglich machen und vor allem dem Einzelnen erklären, was es konkret bedeutet in einer Wissensgesellschaft zu leben, denn sonst ruiniere sich die Wissensgesellschaft selbst, wenn sie nicht aus konstruktiven Bürgern bestünde (Rudolph, 2000).

Der neue, „dynamische Wissenserwerb“ erfordere es, dass die Fähigkeit des Lernens selbst und das ständige und kritische Beurteilen der Inhalte wichtiger sind, als das Auswendiglernen alter Bildungsideale (vgl. Lotter 2017). So sei es in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhundert die Hauptaufgabe der Schule, Kinder nicht nur auf ein erfülltes Sozial- und Berufsleben in einer zukünftigen Gesellschaft vorzubereiten, sondern sie viel eher zur aktiven Lebensgestaltung zu befähigen und dazu zu ermutigen, dass sie immer lernen wollen (vgl. Precht 2013). Die Wissensgesellschaft, so de Haan (2000), müsse sich deshalb vielmehr als eine Bildungsgesellschaft verstehen.

Die Realität aber sieht, wie Sie selbst erkannt haben, anders aus. Der Autor Wolfgang Lotter betont, dass sich gegenwärtig nicht mehr für Bildung selbst interessiert wird, sondern nur noch für dessen Ergebnis. Lernende würden zunehmend als Konsumenten gesehen, wobei sich diese Entwicklung im Kontext der Digitalisierung verstärkt (vgl. Biesta 2017). So erlauben MOOCs (massive open online courses) Angebote es zwar, dass sich Menschen weltweit in Form von Microcredits selbstständig weiterbilden können, Bildungsforscher aber kritisieren hier, dass dies mit Bildung im eigentlichen Sinne nicht mehr viel zu tun hat, denn Bildung findet immer im Kollektiv statt.

Der niederländische Bildungsforscher Gert Biesta sagt, dass Bildung vor allem ein offener Prozess sei, in dem sich Menschen begegnen würden und es dabei die zentrale Aufgabe des Bildungssystems sei, das Menschen in anderen Menschen den Wunsch wecken, in der Welt leben zu wollen (vgl. Biesta 2017).

5.) Bildung als Erlebnis und Transformationsmoment, nicht als Zertifikat.

Sascha Lobo: „Es fehlt den Kindern jeweils ein Teil des zivilisatorischen Wertegerüsts, dessen Vermittlung man bisher von den Eltern erwartet hat. Das Bildungssystem einer liberalen Demokratie aber ist immer nur so gut wie diejenigen mit den größten Schwierigkeiten, die es durchlaufen.”

Absolut! Werte aber entwickeln sich eben nicht rein durch Erziehung, sondern durch Bildung. Eine wertebezogene Digitalkompetenz z. B. meint, Dinge reflektieren und kritisch beurteilen zu können. Dies aber erfordert eine Diskursfähigkeit, d.h. in der Lage zu sein, den eigenen Standpunkt aufgeben zu können. So schreibt der Philosoph Nida-Rümelin, dass es deshalb ein zentrales Bildungsziel sein muss, zu lernen, dass es Gründe gibt, die bequeme Überzeugung infrage zu stellen und aufzugeben. Eine solche epidemische Rationalität, die die Grundlage der demokratischen Ordnung darstellt, ist dabei nicht an Intelligenz und Wissen gebunden, sondern vor allem eine Haltung und Ausdruck einer Entscheidung, die gelernt werden kann (vgl. Nida-Rümelin 2014). Grundlage hierfür muss eine Auseinandersetzung mit eigenen Werten und Wünschbarkeiten darstellen. So betont der Bildungsforscher Biesta (vgl. 2017), dass der eigentliche Zweck von Bildung und Schule es deshalb sein müsse, SchülerInnen darin zu unterstützen, einen Raum zwischen Wünschbarkeit und ihnen selbst zu bilden.

Das heißt, SchülerInnen muss die Möglichkeit gegeben werden, um ihre Wünsche zu reflektieren und sie in einen Dialog mit der realen Welt zu führen, um die Fragen beantworten zu können: Ist das, was ich wünsche wünschenswert? Ist es das, was ich wünschen sollte und wird mir das helfen ein gutes Leben zu haben?

Da das Leben in Gesellschaften und auf dem Planeten bestimmte Grenzen setzt, sei es hier wichtig zu lernen, so Biesta, eigene Wünsche ggf. neu zu justieren. Dabei sollte eine Pädagogik angestrebt werden, so Biesta weiter, in der Wünschbarkeiten jedoch nicht vorgegeben werden und SchülerInnen dennoch geholfen wird, Antworten auf die zentrale, normative Frage nach dem guten Leben zu finden (ebd. 2017). Was wir brauchen sind deshalb mehr Bildungsansätze im Schulalltag, die dem folgenden Dreiklang gerecht werden:

  1. Bildung für mich, im Sinne einer Selbsterforschung.
  2. Bildung für die Community, so entstand die Idee Menschheit und die kollektiven Narrative, denen wir folgen, aus der Kraft heraus, Kollektive bilden zu können.
  3. Bildung für den Planeten, denn wir leben nicht im luftleeren Raum.

Der Soziologe Hartmut Rosa, Begründer der Resonanztheorie, fordert hierfür ein lebendiges Lernen und, dass die Schule sich zu einem Resonanzraum entwickelt, so wie es in Finnland mittels Phänomenunterricht bereits erfolgreich vorgelebt wird. So sieht er die Schule als einen zentralen Ort, an dem sich Weltbeziehungen (Resonanzen) entwickeln und herausbilden:

„Schule muss neugierig machen auf die Welt und ihr Leben in dieser Welt.“ (Rosa 2016)

In einem Resonanzraum werden Dinge zum Sprechen gebracht und es kann auch mal „knistern“, es gibt Interaktionen zwischen allen und muss auch mal Meinungsverschiedenheiten geben. Dies ist vor allem für Jugendliche wichtig, da die Pubertät selbst bereits eine Entfremdungsphase darstellt. So schreibt er, „junge Menschen wollen nicht bestätigt werden, sondern herausgefordert.“ (vgl. Rosa 2016). Dies erfordert aber auch, dass sich SchülerInnen auf Resonanzbeziehungen einlassen können, offen und neugierig sind und keine Angst vor Neuem oder Anderen haben. Dies bringt eine gewisse Verletzlichkeit mit sich, wofür die Schule eigentlich den nötigen Schutzraum bieten würde. Erziehung wie von Ihnen gefordert aber erinnert an Druck und alles andere als einen Schutzraum. Dabei kann sich Resonanz nicht in Form einer Kompetenz angeeignet werden, da ein aneignen nur eine Bereicherung im Sinne einer Ressourcenerweiterung meinen würde. Stattdessen weist Rosa darauf hin, dass im Mittelpunkt eine Anverwandlung stehen muss, d.h. Dinge müssen sich zu eigen gemacht werden. Anverwandlung wird dann erreicht, wenn eine Situation oder ein Moment einen „existenziell berührt oder sogar tendenziell verändert“ (vgl. Rosa et. al. 2016, S. 16). In den Worten des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard:

„Der Augenblick ist jenes Eigenartige, darin sich Vergangenheit und Zukunft flüchtig berühren.“. Es dient der „Selbstwirksamkeitserwartung“ und dem Gefühl von „ich gestalte mit“

Anverwandlung ist nicht auf die gleiche Weise messbar wie Aneignungen. So zeigt sich eine erfolgreiche Anverwandlung vor allem in einem Augenleuchten. Als Teil der Resonanzpädagogik fordert Rosa zudem einen „Resonanzkompass“, also ein Instrument, was aufzeigt, wo für das einzelne Subjekt Lösungen zu finden sind, der einem Orientierung gibt und auf einer persönlichen Ebene hilft zu beantworten: „Was genau habe ich mir vom Leben versprochen, was fehlt mir?“ (Rosa et. al. 2016, S. 96).

6.) Bildung: Die Basis für eine neue Verantwortungsgesellschaft.

Neben der Persönlichkeitsbildung und dem individuellen Zweck, nimmt Bildung vor allem eine entscheidende Funktion beim gesellschaftlichen Zusammenhalt ein. Richard David Precht geht sogar noch weiter und schreibt:

In Gesellschaften, „die nicht vorrangig durch Religion zusammengehalten werden, stellt Bildung eine der wichtigsten Zutaten für den sozialen Kitt“ dar (Precht 2013).

So zeigt die Forschung, dass ein wesentlicher Risikofaktor für den Besuch der Hauptschule nicht der Migrationshintergrund oder der soziale Status ist, sondern die Bildungskarriere und der Erfolg der Eltern. Kinder aus akademischen und „heilen“ Elternhäusern hätten demnach höhere Chancen, beruflich erfolgreich zu sein (vgl. Molitor 2017). Bildung umschließt also weitaus mehr, als nur junge Menschen auszubilden. Vielmehr bedeutet Bildung auch Folgendes:

“Changing the path of economic development. Decisions about education by both policy makers and individuals will influence how the future will unfold“ (Wilson 2013)

Dabei handelt es sich bei Bildung um ein öffentliches und kulturelles Gut und die zentrale Aufgabe der Bildungspolitik besteht darin, ein System zu schaffen, welches allen Menschen die Chance gibt, Gestaltungsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft tatsächlich nutzen zu können.

Haben wir also wirklich genug Bildung?

7.) Wo bleibt Ihre Bildungsutopie, Herr Lobo?

Sascha Lobo: „Die Umrisse der Schule der Zukunft werden deutlicher, einer Erziehungs- und Bildungsinstitution im Wandel zwischen Digitalisierung, Integration und Vorbereitung der Kinder auf ein chaotisches Jahrhundert.“

Ich stimme zu, aber: ein schwacher Abschluss! Wie lautet denn eine mögliche Utopie oder Vision, ein Ideal? Ich mache mal einen Vorschlag: Die britische Pädagogin Katrin Facer fordert in ihrem Bildung 5.0 Konzept, dass Schulen ihre Funktionen komplett überdenken müssen und sich zu einem „laboratory of the future” entwickeln müssen, welches auf drei Säulen aufbaut:

  1. Build capacity to play with time.
  2. Use subjects to face the future not the past.
  3. Nurture friendship, love and community.

Denn die Schule muss verstehen, dass sie nicht auf eine vorhersehbare, stabile Welt vorbereiten kann. So schreibt ein finnisches EdStartup:

“No one knows what skills are needed in the future — the best we can do is give kids a set of creativity, engineering, discovery and excitement to help them navigate in a world that is not built yet.“ (Meckahit 2018)

Schulen müssen sich daher folgende neue Ziele setzen: Aufgrund der zunehmenden Spezialisierung und Individualisierung, muss die Schule der Ort sein, an dem mehrere Entwicklungen zu einer Vision zusammengeführt werden. Dabei muss Diversität geschützt und gefeiert werden und unterschiedliche Arten des Lernens und des Wissens akzeptiert und gefördert werden, weil niemand weiß, welcher Ansatz in Zukunft gebraucht wird. Die zweite Aufgabe sieht Facer darin, dass Schulen eine Art „Geburtshilfen-Funktion“ einnehmen sollen, d.h. neue Zukünfte in die Welt tragen sollte, die die erwachsene Welt so nie hätte antizipieren können (vgl. Facer 2017).

Ich verstehe die Kritikpunkte, die Sie ansprechen und gehe bei einigen auch mit. ABER: Ein solcher Artikel von Ihnen bringt nichts als Unmut und ganz viel Frust und Traurigkeit bei Menschen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben für Bildung im Sinne der Bildung zu kämpfen. Ich habe die letzten zwei Jahre so viele tolle Menschen und Projekte kennenlernen dürfen, die leider null Anerkennung bekommen für ihr Tun. Ich würde mir wünschen, dass Sie Ihre Reichweite und Ihren Einfluss nutzen, um diese Menschen zu unterstützen, statt nur Öl ins Feuer zu kippen. Denn Kritik ist immer einfacher und schneller ausgesprochen, als selbst umsetzbare Lösungen zu entwickeln.

Aileen Moeck ist Zukunftsforscherin und Gründerin der Initiative Die Zukunftsbauer. Die Texte stammen zum Teil aus ihrer Masterarbeit “Zukunft als Lehr- und Handlungsfeld”, welche sie 2018 am Institut Futur verfasste. Auch die Quellen finden sich in dieser Arbeit. Mehr Denkanstöße finden sich in der Medium Publikation Die Zukunftsbauer.

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Aileen
Die Zukunftsbauer — was ist deine Mission?

Futurist, visionary & strategic mind, founder & activist, transformation, innovation and imagination @dieZukunftsbauer & @DasZukunftsbauerInstitut