Preußen

von Kenneth Anders

Tauwetter. Foto: Robert Balog / Pixabay

Als Kind der DDR weckte der Begriff Preußen bei mir sofort die Assoziation einer Pickelhaube. Preußen war militaristisch, laut, unsympathisch, so wurde es uns vermittelt. Da meine Eltern aus Schlesien und Hessen stammten, setzten sie dem wenig entgegen. Sie hatten genug damit zu tun, ihre Gegenwartsbeziehungen zu den westdeutschen Verwandten zu legitimieren und konnten sich nicht auch noch damit herumschlagen, die Ehre Preußens zu retten. Die späte Friedrich-Renaissance in der DDR löste bei der jungen Generation nicht mehr viel aus, sie war lediglich ein Indiz für das allgemeine politische Tauwetter.

Als junger Erwachsener las ich Sebastian Haffners „Preußen ohne Legende“. Natürlich hat dieser Text in der Rezeption manche Blessuren erfahren, wie das bei historischen Interpretationen, populär oder nicht, nun einmal so ist: Auch über die Geschichtsschreibung weht die Geschichte hinweg. Dennoch bin ich bis heute dankbar für dieses Buch. Es hat mir so viele Denkmöglichkeiten geöffnet, die meine Auseinandersetzung mit dem Thema Preußen bereichern: Die sonderbare Kontinuität der Hohenzollern und ihre zahlreichen Umwege, das sagenumwobene Gebilde Ostpreußens, die diplomatischen Umwege bei der Etablierung einer Königswürde, die innere Kolonisation der standörtlich nicht eben begnadeten Landschaften in der norddeutschen Tiefebene, die Rolle der Bürokratien, die Auswirkungen von Philosophie, Religion, Architektur und Kunst auf das entstehende gesellschaftliche Gebilde, das spezifische Selbstbewusstsein der preußischen Beamten, die besondere Emanzipationsgeschichte der Juden in Preußen und schließlich der Fluch des Erfolgs im Kontext des Kaiserreiches. Es ist wie eine unerschöpfliche Quelle, die vielleicht gerade deshalb so sprudelt, weil das politische Gebilde Preußen nicht mehr ist — eine Allmende, auf der alle ihr Stück Wiese finden, um ihren Fragen und Interessen nachzugehen, von den ganz alltäglichen Beobachtungen bis hin zu Jens Biskys Berlin-Buch. Die komplexe und faszinierende Erzählung von Preußen und die vielen Relikte, auf die man alltäglich stößt — in der Baukultur, in den Reden des eigenen Landrats, in den Konflikten mit der Landesregierung und in tausend anderen Spuren mehr — stiften Neugier und Freude. Vor allem aber ermöglichen sie eines: das Denken in Widersprüchen.

Der Mut, einen Widerspruch auszuhalten und ihn als kostbar zu verstehen, ist in der politischen Kultur unsere Gegenwart nicht gern gesehen, ja, er wird meist nicht einmal mehr verstanden. Die Öffentlichkeit bietet uns ein bekenntnishaftes Sprechen an, das der Nüchternheit eines preußischen Beamten sicher zuwider wäre. Überall wird moralisiert und bewertet, abgegrenzt und zugestimmt. Die Frage nach den Aufgaben des Staates stößt nicht mehr an jene Grenzen, die ja nur durch eine andere Frage gezogen werden können, nämlich: welche Aufgaben der Staat gerade nicht wahrnehmen soll. Dabei war es genau dieses Ringen um das, was den Staat überhaupt etwas angeht, was die preußische Entwicklung so spannend gemacht hat.

Die damit verbundenen Widersprüche sind mir am meisten aus dem Nachdenken über den preußischen Merkantilismus und die staatlichen Aktionsprogramme vertraut, mit denen eine geschützte und florierende Wirtschaft aufgebaut werden sollte. Der Versuch, die Nutzung und Entwicklung landeseigener Ressourcen staatlich zu organisieren, statt nur bestimmte Rahmenbedingungen vorzugeben, führt nämlich in eine Fülle von Widersprüchen. Die ökonomische Bilanz ist meist umstritten, und dennoch zehren wir in Berlin-Brandenburg bis heute von diesen Bemühungen, deren Spuren überall zu sehen sind. Das Oderbruch als groß angelegte Peuplierung mit einem wirtschaftlichen Aufbauplan, der den schönen Titel „General-Conception“ trug, lässt sich sowohl als faustische Kulturleistung als auch als eine Kette von Misserfolgen lesen. Aber eben darin steckt so viel Wahrheit — über unser menschliches Tun im Allgemeinen, über die Möglichkeiten des Staates im Besonderen.

Interessanterweise kommt es mit einigem zeitlichen Abstand gar nicht mehr so sehr darauf an, wie erfolgreich die preußische Tuchmacherei, die Meliorationen, die Seidenraupenzucht oder der Weinanbau wirklich waren. Denn all diese Initiativen hatten ihre Phasen der Projektierung, des Aufbaus, einer kurzen oder langen Blüte und meist auch ihres Vergehens. Sie haben dem Land eine Gestalt gegeben, in der wir heute leben und sie haben eine Idee von dem verfolgt, was kollektive Ressourcen sein können — im Zeitalter der Verbrauchsgesellschaften eine sehr aktuelle Frage.

Im Widerspruch zwischen der Teilhabe an einem globalen Markt und dem Bemühen um eigene regionale Stoff- und Energiekreisläufe stehen wir auch heute. Und wir stehen auch im Widerspruch zwischen der globalen Politik mit ihren gerahmten Großdiskursen und Alternativlosigkeiten und dem Leben in den Kommunen mit ihrem Erfahrungswissen und dem Anspruch der Menschen, ihr Leben selbst und nach eigenen Maßstäben und aus eigenen Kräften zu gestalten. Nichts hat diesen Widerspruch deutlicher und schmerzhafter gezeigt als die Coronakrise.

Wenn ich an Preußen denke, so denke ich also vor allem die produktiven Widersprüche, die mit diesem politischen und kulturellen Gebilde für uns aufgeschlossen werden können. Und ich wünsche mir, dass wir zu einer Kultur des politischen Streits kommen, in der etwas von der Klarheit und dem Mut wieder aufscheinen, die man sowohl bei preußischen Wissenschaftlern als auch bei den Beamten oder Politikern dieser Zeit und dieses Staates finden kann, und die gerade aus dem Widerspruch geboren sind — zum Beispiel, wenn es um divergierende Ansprüche an die eigenen Wälder ging:

„Die preußische Staatsforstverwaltung bekennt sich nicht zu den Grundsätzen des nachhaltig höchsten Bodenreinertrages unter Anlehnung an eine Zinseszinsrechnung, sondern sie glaubt… sich der Verpflichtung nicht entheben zu dürfen, bei der Bewirthschaftung der Staatsforsten das Gesamtwohl der Einwohner des Staates ins Auge zu fassen, und dabei sowohl die dauernde Bedürfnisbefriedigung in Beziehung auf Holz und andere Waldprodukte als auch die Zwecke berücksichtigen zu müssen, denen der Wald nach so vielen anderen Richtungen hin dienstbar ist. Sie hält sich nicht befugt eine einseitige Finanzwirthschaft … mit den Forsten zu treiben, sondern für verpflichtet, die Staatsforsten als ein der Gesamtheit der Nation gehörendes Fideikommiß so zu behandeln, daß der Gegenwart ein möglichst hoher Fruchtgenuß zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse an Waldprodukten und an Schutz durch den Wald zugute kommt, der Zukunft aber ein mindestens gleich hoher, möglichst aber ein gesteigerter Fruchtgenuß von gleicher Art gesichert wird.“

Otto v. Hagen, „Die forstlichen Verhältnisse Preußens“, Berlin 1867

Kenneth Anders Foto: Torsten Stapel

Dr. Kenneth Anders (*1969) studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Soziologie in Leipzig und Berlin. Sein zentrales Arbeitsthema sind Landschaften als Habitate des Menschen. Mit Lars Fischer gründete er das Büro für Landschaftskommunikation und den Aufland Verlag. Er lebt als freier Kulturwissenschaftler im Oderbruch, ist Programmleiter des Oderbruch Museums Altranft und Festivalleiter des Eberswalder Filmfestes „Provinziale“.

--

--

Stiftung Zukunft Berlin
Zukunftsforum Berlin-Brandenburg

Die Stiftung Zukunft Berlin ist ein unabhängiges Forum für bürgerschaftliche Mitverantwortung. https://stiftungzukunftberlin.eu