Die Vereinigten Staaten von Europa

Oke Carstens
Zukunftsmusik
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8 min readJun 8, 2020

Garantie für ein Europa ohne Krisen?

Krisenherd Europa

Der europäische Kontinent mit seinen halben Milliarden Einwohnern war im Jahr 2019 der aktivste Wirtschaftsraum der Welt. Die Auswirkung ist Wohlstand, der Grund Frieden und Zusammenarbeit. Ein Frieden, der für uns selbstverständlich wirkt, es jedoch keineswegs ist. Denn die Völker Europas blicken auf eine lange Geschichte von Kriegen und Krisen zurück.

Angefangen hat es mit der gewaltvollen Expansion des römischen Reiches in der Antike. Rund eineinhalb Jahrtausende später raffte der Dreißigjährige Krieg fast 40 Prozent der zentraleuropäischen Bevölkerung dahin. Dann, im 20. Jahrhundert, verwüsteten zwei Weltkriege den europäischen Kontinent. All diese Kriege lassen sich als Beispiele für eine dunkle europäische Geschichte nennen. Leider ist das aber erst einmal nichts Außergewöhnliches, denn überall auf der Welt gab es ständig Konflikte, die durch die eingesetzte Gewalt selten gelöst wurden. Das besondere an der europäischen Vergangenheit sind die Entwicklungen, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg beobachten lassen. Die Völker, die sich Jahrtausende lang bekämpften, standen nun auf friedlichem Fuße zueinander.

Im Jahr 1951 wurde mit der Gründung der Montanunion der erste Schritt zu einer supranationalen Vereinigung mehrerer europäischer Staaten gemacht, damals noch aus rein wirtschaftlichen Interessen. Bis zum Jahr 2020 hat sich die Montanunion über viele Schritte zur Europäischen Union mit 27 Mitgliedsländern entwickelt. Die Zuständigkeit der Institutionen, die diese Europäische Union bilden, gehen nun auch weit über reine wirtschaftliche Interessen hinaus. So werden neben dem Erhalt einer Wirtschafts- und Währungsunion auch die Wahrung von Sicherheit, Frieden und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern als größte Ziele der EU angesehen. Die wichtigsten Institutionen der EU sind dabei das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission. Das Europäische Parlament (751 von EU-Bürgern gewählte Parteimitglieder) und der Rat der Europäischen Union (Rat aus den Ministern der Mitgliedsstaaten) bilden zusammen eine legislative Gewalt, die für Gesetzesbeschlüsse verantwortlich ist und Handelsbefugnisse innehat. Die Europäische Kommission bildet die Exekutivgewalt und damit die „Regierung“ der Europäischen Union, hat die alleinige Gesetzesinitiative und setzt die EU-Politik um.

Was nun erstmal nach einer soliden Staatenvereinigung klingt, hat jedoch nach wie vor mit vielen Problemen zu kämpfen: Flüchtlings- und Währungskrisen polarisieren europäische Bürger und spalten Gemüter. Der Brexit, der Ausstieg einer Nation aus der EU, ist ein Prozess den bis vor wenigen Jahren niemand zu träumen gewagt hätte, weil er grundsätzlich gegen die Idee europäischer Integration spricht. Schließlich und brandaktuell; die Corona-Krise, deren Folgen heute noch schwer abzuschätzen sind, mit Sicherheit aber die innereuropäische Solidarität auf den Prüfstand stellen wird.

Wie begegnen wir nun als vereintes Europa diesen Krisen? Machen wir weiter wie gehabt und hoffen, dass das bestehende EU-Konzept die Krisen überleben wird? Oder folgen wir konservativen und nationalistischen Forderungen in ganz Europa und lösen die supranationalen Institutionen auf? Dies hieße zwar auf den ersten Blick mehr Souveränität für die Einzelstaaten, auf der anderen Seite aber wären viele Errungenschaften der letzten Jahrzehnte verloren und die Mitgliedstaaten wieder lose nebeneinander liegende Interessengemeinschaften. Oder gehen wir einen neuen Weg? Folgen wir berühmten Stimmen der letzten 250 Jahre wie George Washington oder Winston Churchill und gründen wir einen europäischen Föderalismus nach Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika: Die Vereinigten Staaten von Europa?

Die Idee eines europäischen Bundesstaates

Momentan ist die Gründung eines europäischen Bundesstaates noch Zukunftsmusik. Sollte diese jedoch ein echter Teil der Debatte um die europäische Zukunft werden, wären Volksabstimmungen unter allen EU-Bürgern zu erwarten. Die Länder, deren Mehrheiten dabei für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ stimmen, würden sich dann, je nach geografischer Realisierbarkeit, zu einem gemeinsamen föderalistischen Staat vereinigen. Folgende große Entwicklungen würden sodann eintreten:

Eine neue Europäische Verfassung würde erarbeitet werden und schnell in Kraft treten. Diese würde, neben sozialen und wirtschaftlichen Neuerungen zu den Verfassungen der heutigen EU-Mitgliedstaaten, ein komplett neues politisches Konzept beinhalten.

Die bereits bestehenden supranationalen Institutionen wie das Europäische Parlament oder die Europäische Kommission würden an Souveränität gewinnen, wohingegen die bisherigen Staatsregierungen in ihrer Souveränität auf eine Stufe herabgesetzt würden, die sich mit den heute bestehenden Regierungen deutscher Bundesländer vergleichen lässt. Das Parlament würde an Macht gewinnen und Parteien in ganz Europa mit gleicher Ausrichtung würden sich vereinen. Die Europäische Kommission hätte in der neuen Rolle der „Regierung“ Europas ausgeprägte Entscheidungsgewalt und müsste demokratisch neu gewählt werden. Der große Unterschied bestünde letztendlich aber hauptsächlich darin, dass die EU-Institutionen über die reinen Wirtschafts- und Sozialpolitischen Aufgaben hinaus nun die absolute politische Repräsentation der vereinigten Staaten übernehmen würde, womit aus vielen kleinen Staaten ein großer entstünde, quasi nach der Maxime „E Pluribus Unum“ — „Aus Vielen eines“ — der Wappenspruch der Vereinigten Staaten von Amerika.

Über die Umverteilung von Aufgaben der bestehenden Institutionen hinaus, käme es auch zu der Entstehung neuer Organe. Ein gemeinsames europäisches Militär wäre dabei realistisch. Viele Medienkanäle würden zentralisiert, um, in verschiedenen Sprachen, eine neue europäische Öffentlichkeit und Identität zu schaffen.

Welche Probleme könnte der europäische Bundesstaat lösen? Welche möglicherweise verschärfen?

Die stärkste Veränderung, die bei einer Verbindung der EU-Staaten zu einem europäischen Bundesstaat eintreten würde und internationalen Einfluss hätte, bestünde in einer gemeinsamen Repräsentation nach außen. Meint, ein neuer Bundesstaat könnte sich gegenüber internationalen Mitstreitern wie China oder den USA besser hervortun. Für die heutigen EU-Staaten mit kleiner Landesfläche und wenigen Landesbürgern ist das enorm schwierig. Ein „Superstaat“ aus den europäischen Ländern mit über 500 Millionen Einwohnern hätte kein Problem mehr damit ernst genommen zu werden, zumal er nicht nur mehr Einwohner hätte als beispielsweise die USA, sondern auch aus ökonomischer Sicht an die globale Spitze träte (Mit gemeinsamem Militär wäre der Staat auch nicht mehr Abhängig von den USA, die unter Trump so oder so keine NATO-Fans mehr sind).

Jedoch ist eine Verbindung aller EU-Staaten direkt zu Anfang nicht besonders realistisch. Eher denkbar wäre ein Staat bestehend aus Frankreich, Deutschland und den Beneluxstaaten sowie Österreich, den EU-Kernländern also, als Experiment zur Funktionalität dieser heute utopischen Vereinigung. Wäre es erfolgreich könnten noch weitere EU-Staaten beitreten. Doch auch ein Zusammentun jener 5 Staaten hätte als Produkt ein Land mit fast 180 Millionen Einwohnern.

Daraus ergeben sich aber nun offensichtlich die Argumente der Ablehner eines europäischen Bundesstaates. In Frankreich, einem Gründungs- und Kernland der EU und damit unverzichtbarem Teil eines vereinten Europas, ist die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht besonders gern gesehen. Denn die Verbindung wäre auch ein deutlicher Machtverlust für die heute bestehenden Regierungen. Ihre Souveränität würde eingeschränkt, die heutigen Staatsregierungen hätten sodann Plätze im Europäischen Rat, der Legislativgewalt neben dem Europäischen Parlament. Für Frankreich hätte das einen Verzicht auf ein exklusives Vetorecht im UN-Sicherheitsrat zur Folge. Dies ist eine machtvolle Position, die Frankreich nicht aufgeben möchte. Stattdessen ginge dieser Sitz wahrscheinlich an den europäischen Bundesstaat als Gemeinschaft. Ein Vorschlag des deutschen Finanzministers Olaf Scholz, bei dem dieser Platz ständig von einem Franzosen belegt würde, kam im französischen Außenministerium nicht gut an.

Die Corona-Pandemie, die in Europa derzeit die verheerendste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht, verdeutlicht einen weiteren entscheidenden Vorteil, den ein vereinigter europäischer Staat mit sich ziehen würde: Europa könnte einer Krise als vereinte Gesellschaft stärker entgegen treten. Die Handlungsfähigkeit der europäischen Regierung wäre wenig eingeschränkt und deutlich effizienter, was bessere, vor allem aber schnellere Lösungen auf Probleme möglich macht. Diese Regierung könnte eine sinnvolle Verteilung von Flüchtlingen auf die Länder verwirklichen, wodurch es weniger überlastete Regionen gäbe. Als Folge hoffentlich auch weniger Rassismus und mehr Solidarität. Was Währungskrisen betrifft, so könnte ein europaweit einheitliches Steuer- und Finanzsystem das Ungleichgewicht des Euros zwischen Nord- und Südeuropa wieder gleichschalten. Diese potenziellen Problemlösungen sind aber selbstverständlich nur dann realisierbar, wenn die Mitgliedsländer des europäischen Nationalstaats sich in gewissem Maße von der europäischen Regierung bevormunden lassen.

Heute besteht Europa aus vielen komplett unterschiedlichen Staaten, einerseits aufgrund unterschiedlicher Kulturen und Öffentlichkeit, andererseits aber auch aufgrund wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit. So sind beispielsweise Deutschland und die Niederlande wirtschaftlich aktiver und produktiver als Griechenland oder Spanien. Daraus entsteht die Angst, dass diese produktiveren Staaten für Versäumnisse der unproduktiven Staaten aufkommen müssten. Die Angst vor einer solchen Vergemeinschaftung von Schulden (oder anderer Probleme) ist seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 und der damit eingeleiteten Eurokrise gut begründet. Sie war auch einer der Hauptgründe für die Unzufriedenheit der Briten und den daraus folgenden Brexit. Die wirtschaftsstarken EU-Staaten wären in der Hinsicht von einem geeinten Europa also geschwächt.

Dieses Problem lässt sich in erster Linie durch eine striktere Finanzpolitik in Krisenstaaten lösen. Diese ginge mit hoher Wahrscheinlichkeit aber mit sozialen Unruhen einher. Eine andere Maßnahme wäre die Folgende: Eine Trennung zwischen Nordeuropa und Südeuropa, bei der sich die produktiven „Nordstaaten“ zu einem gemeinsamen Land vereinen und finanziell nicht geschwächt würden. Dagegen käme es zu einer Vereinigung der „Südstaaten“, die durch eine gemeinsame Politik die Krisen bekämpfen könnten. Damit käme es auch zu zwei voneinander unabhängigen Währungsunionen. „Nordeuropa“ und „Südeuropa“ ständen aber weiterhin in regem Austausch miteinander, mit der Erwartung und Hoffnung in der Zukunft möglicherweise doch auf ein Level zu treten und das große gemeinsame Europa zu verwirklichen. Dabei würde sich jedoch die Frage stellen, welche Staaten nun dem Norden und welche dem Süden angehören. Einige Länder lassen sich in diese Trennung klar einordnen: Skandinavien fände sich komplett im Norden wieder. Deutschland, die Beneluxstaaten und auch Österreich ebenfalls. Das südliche Europa würde sich dagegen aus Italien, Griechenland, Portugal und Spanien zusammensetzen. Auch die Osteuropäischen Staaten fielen größtenteils in den Süden. Doch was ist beispielsweise mit Frankreich? Bei ähnlicher Steuerpolitik wie Deutschland sind die Franzosen annähernd genauso produktiv wie die Deutschen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in Frankreich nur circa 12 % niedriger als in Deutschland. Dagegen war Frankreich im Jahr 2018 mit 98 % des BIP enorm hoch verschuldet. Ist es also Teil des europäischen „Nordens“, oder des „Südens“? Diese Trennung wäre zu definieren.

Mit einem Blick auf die aktuelle internationale Politik und Wirtschaft wird klar, dass Europa unter den Druck gerät, einen gemeinsamen Weg einzuschlagen. Die offensive Wirtschaftspolitik Chinas wartet auf eine euphorische Zustimmung der EU zu ihrer „Neuen Seidenstraße“. Im Westen trennt sich die USA zunehmend von bestehenden Organisationen wie der NATO oder UNO ab. Das macht eine Neuorientierung Europas im globalen Geschehen notwendig. Ein geschlossenes Europa wäre von den USA unabhängiger und könnte auf einer Augenhöhe mit der Volksrepublik China verhandeln. Innereuropäische Krisen könnten besser gelöst werden, der Verlust der Souveränität der Einzelstaaten wäre durch einen Föderalismus kontrollierbar.

Insofern kann ich mich persönlich deutlich für die Gründung eines europäischen Bundesstaates aussprechen. Momentan halte ich es sogar für nötig, dass einer supranationalen Vereinigung der europäischen Staaten mehr politische Macht zufällt, um der destruktiven Haltung nationalistischer EU-Ablehner erfolgreich zu begegnen. Eine Rückkehr zu europäischer Kleinstaaterei ist aufgrund der Konflikte, die das mit sich ziehen würde, eine große Gefahr.

Ich glaube wir befinden uns in der EU momentan an einem Punkt, an dem aufgrund der Krise die erwähnten nationalistischen Stimmen zu viel Gehör finden könnten. Mehr EU-Ablehner fühlen sich motiviert, die aktuelle Europäische Union aufzulösen, weil sie diese für den Ursprung der Probleme halten. Und ganz falsch liegen sie dabei nicht, denn die EU ist zwar mit Sicherheit nicht Schuld an Problemen und Krisen, momentan jedoch auch nicht fähig gegen diese vorzugehen. Deshalb halte ich aber eine gegenteilige Bewegung von vermehrter europäischer Integration für den richtigen Weg. Eine Auflösung der EU wäre ein Schritt in die Vergangenheit. Die Gründung eines europäischen Bundesstaates wäre dagegen natürlich eine große Herausforderung für den Anfang und ein Appell an die Solidarität. Diese Herausforderung gilt es aber zu meistern, um zukünftig als starkes Europa mit gemeinsamer europäischer Identität auftreten zu können. So möchte ich mit den Worten des ehemaligen Premierministers Großbritanniens Winston Churchill schließen, der 1946 ein “Heilmittel” für die Probleme suchte und lieferte, die seit jeher den europäischen Kontinent spalteten: „Welches ist dieses Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa gründen“

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Oke Carstens
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17 years old / Berlin is my neighbor / interested in art, books, wandering and any kind of knowledge