Notenprophezeiungen & drei Fächer in der Oberstufe — Eigenschaften und Auswirkungen des englischen Bildungssystems

Konrad Bertram
Zukunftsmusik
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5 min readMay 24, 2020

Ein Kommentar

© Victoria Heath

Die Engländer machen es gerne anders. Egal ob es sich um die Straßenseite handelt, auf der man fährt, die Währung, mit der man bezahlt oder um das Verständnis von Europa, die Engländer machen es gerne anders.

Diese Feststellung trifft auch auf das System der Hochschulreife und der damit verknüpften Universitätsbewerbung zu, zwei Dinge, die in England so stark von dem deutschen System abweichen, wie man es in Anbetracht der geographischen und kulturellen Nähe kaum vermuten würde.

Fächerwahl und Festlegung

Die Differenz der beiden Systeme keimt schon bei der Fächerwahl vor dem Eintritt in die sogenannte Oberstufenphase oder “Sixth Form” auf: Während man in Deutschland verpflichtet ist, zwischen neun und zwölf verschiedene Fächer zu wählen, von denen Pflichtfächer wie Deutsch, Mathe oder Geschichte, sowieso schon vorgeschrieben sind, wählt man in England in der Regel vier Fächer. Von denen wird dann eins nach einem Jahr meist “gedroppt”, sodass die Schüler*innen bei dem Erlangen der Endqualifikation meist nur drei Fächer belegt haben. Diese in England früher als in Deutschland stattfindende Verengung des Bildungsspektrums bedeutet für die Schüler*innen konkret, dass sie bei der Wahl ihrer Fächer immerhin eine grobe Idee für den weiteren Verlauf des Bildungs- und Berufsweges haben müssen, da die Universitäten für bestimmte Studienfächer spezifische Fachbelegungen fordern und somit die bei der Oberstufenkurswahl in der Regel sechzehnjährigen Schüler*innen vor die indirekte Entscheidung der Studienfachwahl stellen. Kann man von einem sechzehnjährigen Menschen erwarten, dass schon Klarheit über die spätere Karriere besteht oder drängt man die jungen Schüler*innen nicht ungewollt in eine Richtung, die vielleicht den Erwartungen der Eltern und des Umfelds, sowie den eigenen unvollendeten Kenntnissen über den eigenen Charakter sowie Interessen entspricht?

Wie auch immer die Antwort darauf lauten mag, konträr dazu verfolgt man in Deutschland den Ansatz der breit gefächerten Allgemeinbildung mit einer möglichst späten Festlegung des weiteren Bildungsweges. Die Fächerwahl für das Abitur ist in so gut wie keinem Studiengang relevant für die Zulassungsbedingungen, sodass die schwerwiegende Entscheidung der Studienwahl an einen Zeitpunkt im Leben verlagert wird, in dem die Schüler*innen de facto zwei Jahre älter, erfahrener und vor allem sicherer sind, wer sie denn jetzt nun sind und was sie interessiert. Wie wenig Sicherheit dann immer noch besteht, zeigt die Anzahl der “Gap Years“, „Selbstfindungsreisen“ und der Leute, die nach dem Abitur „erstmal entspannen und gucken“ wollen.

Das System der “predicted grades”

Eine weitere Besonderheit der beiden Bildungssysteme ist die Art der Universitätsbewerbungen: Während man sich in Deutschland nach Erhalt der finalen Abiturnote bei verschiedenen Unis bewerben kann, läuft das Ganze in England über die sogenannten “predicted grades“, einer bei genauerer Betrachtung ziemlich absurd erscheinenden Geschichte. Denn die Schüler*innen bewerben sich im Vereinigten Königreich nicht mit ihren tatsächlichen Abschlussnoten, sondern mit ihren vorhergesagten Noten, also denen, die die Lehrer*innen ihnen prophezeien. Sobald die Schüler*innen ihre Noten vorhergesagt bekommen haben, können sie sich bei den Unis bewerben, die in der Regel auch mal ein Auge zudrücken, sollte jemand die “predicted grades” nicht erreichen. Dies ist in Anbetracht einer Studie des britischen „Institute of education“ auch relativ oft vonnöten, da in 75,4% der Fälle die vorhergesagten Noten besser sind als die im Endeffekt wirklich erreichten und in nur 16% der Fälle die “predicted grades“ auch den “actual grades“ entsprechen. Eine andere, etwas ältere, Studie zeigt zudem, dass bestimmte Faktoren wie z.B der ethnische Hintergrund, das Geschlecht, das Alter und auch der Schultyp die Vorhersage der Noten beeinflussen. Schüler*innen mit dunkler Hautfarbe hatten laut der Studie die niedrigste “prediction accuracy“, männliche Schüler wurden deutlich häufiger “overpredicted“ als weibliche Schülerinnen, und es fand sich auch eine Korrelation zwischen Alter der Schüler*innen und der Genauigkeit der Notenvorhersagen.

Fairerweise muss man natürlich auch die Vorteile dieses unkonventionellen Systems beleuchten, schließlich besteht eine Unibewerbung in England nicht nur aus der reinen Abschlussnote, sonder auch aus Motivationsschreiben (“Personal Statement”), Empfehlungsschreiben und in manchen Fällen sogar Interviews, was für die Universitäten natürlich einen komplexeren und zeitaufwendigeren Administrationsprozess bedeutet. Die Existenz des “predicted grades-systems” ist daher hilfreich, da es den Unis mehr Zeit einräumt, um die Bewerbungen zu prüfen. Während in Deutschland meist nur die Abinote entscheidend ist, können Studienbewerber in England hingegen auch auf der persönlichen und menschlichen Ebene punkten, wobei diese Komponente unter Anbetracht der massiven externen, teils kommerzialisierten, Hilfe beim Schreiben des Motivationsschreibens etc. zu relativieren ist.

In conclusion…

Dass England und Deutschland verschieden sind, ist keine Neuigkeit. Das wird sich so schnell auch nicht ändern. Ich persönlich denke aber nicht, dass ein 16-jährige Teenager vor die Entscheidung gestellt werden sollte, wohin sein weiterer Bildungs- und Berufsweg einmal gehen sollte. Daher befürworte ich an dieser Stelle das deutsche System, wobei die in England früher stattfindende Verengung des Bildungsspektrums für entschiedene und reflektierte Schüler*innen sicherlich eine tolle Chance ist, um nervige Fächer loszuwerden.

Was die “predicted grades” angeht, denke ich jedoch, dass in England seit Jahren an einem System festgehalten wird, das trotz öffentlicher Kritik, Änderungsversuchen und einer Vielzahl an Statistiken, die die Mängel aufzeigen, irgendwie weiter besteht. Was erstmal unverständlich scheinen mag, lässt sich jedoch vielleicht im Kontext des britischen Gesamtsystems erklären: Die Bildung ist in England nämlich von Grund auf deutlich elitärer aufgebaut als es in vielen europäischen Staaten der Fall ist. Klar, es gibt “public schools” und “state funded education“, aber die vielen privaten Schulen, bei denen Eltern schnell mal 35 000 bis 45 000 Pfund pro Jahr zahlen, sind natürlich ein deutlich besseres Sprungbrett, um in das noch elitärere Unisystem reinzukommen. 41.8% der Studenten der Oxford University haben beispielsweise zuvor eine private Schule besucht, wobei nur 7% der Gesamtschülerschaft im Vereinigten Königreich privat unterrichtet wird. Dass eine gewisse Korrelation zu erwarten ist, sollte nicht überraschend sein, jedoch ist die Dimension des aufgezeigten Zusammenhangs erschreckend hoch.

Ich verfolge mit dem Schreiben dieses Artikels sicherlich kein “Bashing” des englischen Schulsystems. Das zentralisierte Curriculum ist ja beispielsweise auch etwas, das im Gegensatz zum förderalistischen Ansatz hierzulande durchaus seinen Reiz hat. Im Endeffekt denke ich, dass ein Mittelding bzw. Kompromiss die Lösung sein könnte. In Deutschland könnten wir uns durchaus einiges zum Thema Bildungswegverengung abgucken, immerhin geht bei einem Stundenplan, der in der deutschen Oberstufe bis zu zwölf verschiedene Fächer enthalten kann, die Tiefe verloren, die aus zeitlichen Gründen oft nicht erreicht werden kann, sodass man oft zwar sehr viele verschiedene Fächer und Themen abdeckt, jedoch dabei nur an der Oberfläche herumkratzen kann.

Zukunftsmusik?

Was die Zukunft angeht, denke ich, dass tiefer gehende Bildungsreformen in beiden Ländern von Nöten sind, ganz unabhängig von Bildungswegverenggung und Notenvorhersagen. Dass Frontalunterricht und fächerspezifisches Lernen nicht dem natürlichen Lernprozess von Jugendlichen entspricht, haben etliche Studien und Untersuchungen belegt. Hier weiter in die Tiefe zu gehen, wäre einen Artikel an sich wert. Mir geht es darum aufzuzeigen, wie unterschiedlich und in Teilen absurd die beiden Systeme sind, und was das für die Schüler*innen der beiden Länder bedeutet. In puncto Bildungsreform sehe ich persönlich aber wenig Engagement von „oben“, das Thema wird also weiterhin eher als leise „Zukunftsmusik“ zu vernehmen sein und weniger als Oratorium eines Gegenwartsorchesters.

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Konrad Bertram
Zukunftsmusik

Berliner mit großen und unspezifischen Plänen sowie einer Leidenschaft für Philosophie, Fotografie und Ökonomie :) Editor & Writer bei Zukunftsmusik