Vom Gehen durch die Natur — Warum der Essay nach 160 Jahren brandaktuell ist

Oke Carstens
Zukunftsmusik
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5 min readJul 17, 2020

Das Buch

Die Zeit zu der Henry David Thoreau den Essay „Vom Gehen durch die Natur“, auf Englisch „Wandering“, schrieb, ist freilich mit der heutigen nicht vergleichbar. So hat sich auch die Gesellschaft und vor allem der Umgang der Gesellschaft mit der Natur im Verlauf der Jahre grundlegend verändert. 1862 wurde der Essay veröffentlicht, zu diesem Zeitpunkt war der Autor bereits seit einigen Monaten tot, geschrieben wurde er jedoch in den Jahrzehnten zuvor. Neben der dokumentarischen Aufzeichnung des Lebens in und mit der Wildnis in Thoreaus Buch „Walden“ ist der Essay „Vom Gehen durch die Natur“ die schriftliche Grundlage seiner Lebensphilosophie, die sich durch eine absolute Hingabe und Liebe zur Natur auszeichnet. Auf fast 80 Seiten propagiert er darin das Schlendern durch die Natur als Akt der körperlichen und geistigen Reinigung, als wirksamste aller therapeutischen Maßnahmen gegen jede Krankheit. Dabei ist er der Überzeugung, das Spazieren sei eine Kunst, die wenige beherrschen, denn: „Ambulator nascitur, non fit“ — Spaziergänger werden geboren, nicht gemacht. Thoreau selbst wanderte täglich bis zu 5 Stunden in einem Radius von fast 20 Meilen um seine Heimatstadt Concord durch die Wildnis von Massachusetts und ärgerte sich, wenn er den Gang in den Wald erst um vier Uhr nachmittags antrat. Das meditative Wandern hatte für ihn rituelle und spirituelle Bedeutung. Als Transzendentalist und Pantheist suchte er den ständigen Aufenthalt in der Natur — Seine besten Freunde waren, neben Ralph Waldo Emerson und seinem Bruder John, Blautannen und Eichhörnchen.

Erwähnter Transzendentalismus beschreibt eine von Thoreau mitbegründete liberale und natur gewandte Bewegung in Nordamerika, deren Mitglieder sich durch minimalistische Lebensgestaltung und freiheitlich, solidarische Denkweise identifizieren. Dieser Lebensstil, in ständiger und unmittelbarer Nähe zu den Wäldern und Wiesen westlich der Stadt, ließ Thoreau die menschlichen Wurzeln in der Natur finden, „Das Wildeste ist das Lebendigste“ schrieb er und verherrlichte damit die Wildnis im Menschen.

Neben der Bedeutung des Wanderns für den Autor, dessen Beschreibung den Großteil des Buches ausmacht, finden sich auch die für Thoreau bekannten, umfassenden und schönen Naturbeschreibungen von außerordentlicher Anschaulichkeit wieder. Und auch der dezente Patriotismus Thoreaus findet in dem Essay ein Ventil. So ordnet er dem „Neuen Westen“ in dem er lebt besondere historische Bedeutung zu, erklärt die Bäume Amerikas für größer und den Himmel für weiter als in Europa. Thoreau verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, der Westen, darunter vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, könnte die zukünftigen philosophischen und literarischen Größen des Planeten hervorbringen. Damit möchte er die berühmten europäischen Äquivalente wie Shakespeare oder Berkeley ergänzen bis sogar ablösen und eine “Amerikanische Mythologie” für die Zukunft erschaffen. Doch auch hier schlägt Thoreau die Brücke mit der Behauptung, es sei die ungezügelte Wildnis des Westens, die diesem über Ecken seine zukünftige Wichtigkeit beschert.

Umweltschutzbewegungen

Diese Überzeugung, auch von der eigenen Wildheit, die er in dem Essay äußerte, machte ihn seiner Zeit zum Anführer der nordamerikanischen „Umweltschutzbewegung“.

Doch diese Bewegung war Mitte des 19. Jahrhunderts äußerst überschaubar, um nicht zu sagen begrenzt. Es herrschte noch keine akute Not um das Fortbestehen der Natur. Die Wildnis war allgegenwärtig in den unzivilisierten Weiten von Nordamerika. In der Waldrodung für Städtewachstum oder der weiteren Verlegung von Schienennetzen konnte kein Nachteil erkannt werden und auch Thoreaus Pro-Natur-Argumentationen lagen mehr persönliche philosophische beziehungsweise ideologische Aspekte zugrunde.

Heute hingegen plagen uns als komplette Gesellschaft der Klimawandel und seine Auswirkungen. Damit sind die aktuellen Nöte rational erfassbar und ein umweltschonender Lebensstil lässt sich logisch begründen. Und trotz dieser Logik, trotz Massenbewegungen für den Klimawandel, beweisen aktuelle Erhebungen und Statistiken wachsenden Konsum und damit mehr umweltschädliches Verhalten der Gesellschaft. Natur schützende Ideen, wie in den Fridays-For-Future-Demonstrationen verarbeitet, verwandeln sich trotzdem zumindest in Europa in Massenbewegungen. Der Widerspruch, dass die westliche Gesellschaft als weltweiter Hauptverbraucher von Konsumgütern auch die aktuell größten Umweltbewegungen anführt, spricht für eine Spaltung dieser Gesellschaft in solche, die Massenkonsum statt Umweltdemonstrationen unterstützen und solche, die nach Thoreau ähnlichen minimalistischen Maßstäben leben und sich bereits vollständig naturbewusst verhalten. Dazwischen liegen wie in jeder Gesellschaft die Gemäßigten, Meinungsneutralen oder Meinungslosen, die wahrscheinlich den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. In jedem Fall aber fehlt es an der einen oder anderen Stelle der Gesellschaft an Bewusstsein für die Umwelt und die Natur, ob aus privat ökonomischen oder sogar persönlichen philosophischen Gründen.

Wie das Zeit in der Natur verbringen nach Thoreau unser Bewusstsein ändern könnte

Ich möchte mir nun die Frage stellen, ob eine die Gesellschaft umfassende, naturgewandte Alltagsgestaltung das umweltschädliche Massenverhalten ändern könnte. Ob das Verbringen von Zeit in der Natur auf Thoreau-Art die aktuellen Umweltprobleme lösen, vermindern oder anders bekämpfen könnte. Würde es etwas an unserem Umgang mit der Umwelt und Natur ändern, wenn wir dem Beispiel Thoreaus folgen würden? Ohne die volle Radikalität seines Lebensstils zu kopieren, könnte ein naturnäheres Verhalten durch regelmäßige ausführliche Spaziergänge oder Wanderungen in naheliegenden Wäldern oder Parks uns unseres natürlichen Habitats bewusst machen. Ein solches Bewusstsein würde die Menschen für die grausamen Bilder von brennenden Wäldern und schmelzenden Eiskappen möglicherweise empfänglicher machen. Wenn der Mensch den persönlichen Wert der Natur erkennt, erklärt er sich wohl eher dazu bereit seinen Lebensstil in Richtung Umweltverträglichkeit zu verändern. Wenn wir mit wilden Tieren in Kontakt treten, sie als wertvolle Lebewesen und nicht als potentielle Nahrung erkennen, würde das nicht unsere Empathie den Tieren gegenüber soweit vorantragen, dass es uns leichter fallen würde einen fleischlosen Lebensstil einzuschlagen? Würden wir uns nicht eher um weniger Plastikverbrauch und Müllproduktion bemühen, wenn wir die perverse Verschmutzung der Natur mit eigenen Augen sehen könnten?

Es bedarf nicht der gezwungenen Selbstdisziplin, die ein tägliches fünfstündiges Wandern in der Natur erst möglich macht, um sich mit eben dieser Wildnis näher verbunden zu fühlen. Das meditative und spirituelle “Schlendern” Thoreaus war für ihn von ideologischem und religiösem Wert. Brechen wir dieses jedoch herunter auf aktives, bewusstes Zeit in der Natur Verbringen — ohne die religiöse Verbindlichkeit — ist eine wachsende Naturverbundenheit mit der Zeit sicherlich zu erwarten. Ein großer Teil der europäischen Bevölkerung hat durch das Leben in der Großstadt nicht den ungehemmten Zugang zu der Natur, geschweige denn der echten Wildnis, um sich mit ihr vertraut zu machen. Ich denke aber, dass es jedem Konsumenten und damit indirektem Verursacher der Umweltbedrohungen möglich ist, ein näheres Verhältnis zur Natur aufzubauen und damit einen Schritt in Richtung Umwelt- und Naturbewusstsein zu gehen.

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Oke Carstens
Zukunftsmusik

17 years old / Berlin is my neighbor / interested in art, books, wandering and any kind of knowledge