Von Praenatests und Spätabbrüchen:

Warum Inklusion immer wichtiger wird

Julian S.
Zukunftsmusik
9 min readJun 2, 2020

--

“Wie stehen Sie zum Thema Spätabbruch? Wieso darf man Babys mit Down-Syndrom bis kurz vor der Geburt noch abtreiben? Ich finde es politisch nicht gut. Dieses Thema ist mir wichtig: Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben!”

Das sind die Worte, die die Behindertenrechtsaktivistin Natalie Dedreux an Angela Merkel richtet. Am 11. September 2017 ergreift sie in der TV-Show “Wahlarena” das Wort. Sie wird von tosendem Beifall begleitet. Natalie hat die Trisomie 21, auch genannt Down-Syndrom, den wahrscheinlich berühmtesten Gendefekt der Welt. Ihr einundzwanzigstes Chromosom ist dreifach vorhanden, genauso wie bei circa 50.000 weiteren Menschen in Deutschland.

Photo by Nathan Anderson

Sie alle weisen bestimmte Merkmale auf: kleine Nase und Ohren, sowie eine schräge Lidachse der Augen. Zudem haben sie ein erhöhtes Risiko für Organfehlbildungen und andere Krankheiten, sind meist kognitiv eingeschränkt, dafür emotional oft überaus intelligent. Die meisten von ihnen sind sehr kreativ, musikalisch und vor allem eins: spontan fröhlich und harmonieorientiert.

In ihrer Wortmeldung bezieht Natalie sich darauf, dass in Deutschland Abtreibungen teilweise noch bis unmittelbar vor der Geburt durchgeführt werden dürfen — und zwar sofern “die Schwangerschaft eine schwere Gefahr für das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter darstellt”. Das Besondere hierbei: Die Aussicht, ein Kind mit (geistiger) Behinderung zu gebären, zählt als so eine Gefährdung.

Das Thema Spätabbruch ist aber nicht das einzige, was Natalie bewegt. Anfang 2019 erstellt sie eine Petition, in der sie dafür plädiert, dass die Kosten für nicht-invasive pränatale Tests (NIPTs), wie den sogenannten “Praenatest”, nicht von den Krankenkassen erstattet werden.

“Ich will, dass die Politiker Gesetze machen. Da soll stehen, dass die Krankenkasse den Bluttest nicht bezahlt.” und “Ihr sollt nicht mehr so viel Angst vor uns haben. Es ist doch cool auf der Welt zu sein mit Down-Syndrom.” heißt es darin. Bis heute haben knapp 28.000 Menschen die Petition unterzeichnet.

Tatsächlich beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am 19. September 2019 allerdings das, wovor Natalie und viele andere sich gefürchtet haben. Von nun an werden die besagten Tests, zumindest in begründeten Fällen, von den Krankenkassen bezahlt.

Aber was hat es mit diesen Tests überhaupt auf sich — und was spricht für und gegen sie?

Die NIPTs gibt es in Deutschland seit 2012. Die Firma Lifecodexx brachte damals den sogenannten “Praenatest” auf den Markt, bei dem eine Blutprobe der werdenden Mutter untersucht wird. Hierbei wird sich zunutze gemacht, dass im Blut der Mutter immer auch Erbgut des Kindes zirkuliert. Dieses wird isoliert und genau analysiert.

Das besondere an Tests wie diesem ist, dass sie eine sehr treffsichere Aussage zu potenziellen Chromosomenanomalien ermöglichen, ohne, dass ein invasiver Eingriff nötig ist.

Und genau darin liegt ihr entscheidender Vorteil: Die invasiven Alternativen, wie die Fruchtwasseruntersuchung oder die Mutterkuchenpunktion, bergen ein zusätzliches Fehlgeburtsrisiko von knapp einem Prozent. Die Treffsicherheit hingegen ist ähnlich, genauso wie die Möglichkeiten, die ein früher Befund bietet: Zum einen wird dadurch eine bessere Vorbereitung auf die Geburt und das Leben mit einem behinderten Kind möglich, zum anderen kann die Mutter sich im Falle einer Behinderung überlegen, ob sie gut für das Kind sorgen könnte. Letzteres ist vor allem bei sehr schweren Behinderungen, wie den Trisomien 13 und 18, die meist sogar zum Säuglingstod führen, eine berechtigte Frage. Rein medizinisch sind die neuen Bluttests also sinnvoll, das ist nicht zu bestreiten.

Darüber hinaus handelt es sich hier um eine Frage der sozialen Gerechtigkeit: Warum sollte der Test gerade den ärmsten Menschen nicht ermöglicht werden, während die wohlhabenden ihn einfach trotzdem machen? Das Ergebnis wäre, dass gerade die Menschen Kinder mit Behinderungen bekommen, die ihnen vermutlich am wenigsten die finanzielle und soziale Stabilität bieten können, die sie benötigen.

Zuletzt ist auch noch die Selbstbestimmung der werdenden Mutter anzuführen, die durch den Beschluss entscheidend gefördert wird: In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sollten die Eltern selbst entscheiden können, ob sie sich das Großziehen eines Kindes mit Behinderung zutrauen — denn natürlich bedeutet ein behindertes Kind meist großen Pflegebedarf und zusätzliche Kosten.

Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, dass der Test durch den einfachen Zugang via Kassenleistung zur Normalität wird, und somit immer weniger Kinder mit Down-Syndrom und anderen Behinderungen geboren werden.

Die Zahlen in Dänemark, wo die Bluttests seit 2004 zugelassen und kostenlos verfügbar sind, zeigen genau das. Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl der geborenen Kinder mit Downsyndrom daraufhin mehr als halbiert — von 65 auf 30 pro Jahr. Heutzutage machen 97% der werdenden Eltern den Test, wobei sich bei dem Befund “Trisomie 21” 95% für eine Abtreibung entscheiden.

Hierbei handelt es sich eindeutig um eine Form von Selektion — welche denen, die trotz allem noch auf die Welt kommen, regelrecht ins Gesicht sagt: “Menschen wie dich wollen wir nicht, wenn es sich verhindern lässt”.

Darüber hinaus warnen auch Befürworter des Tests, wie Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, vor “Pseudo-Perfektionismus”. Die Befürchtung ist, dass die Selektion von “gesunden” gegenüber “behinderten” Kindern nur der Anfang ist: dass aufgrund von menschlichem Perfektionismus schließlich auf allen möglichen Merkmalen basierend selektiert wird. Zum Beispiel könnten Embryonen bevorzugt werden, die Merkmale besserer körperlicher Konstitution, größerer Intelligenz oder schlichtweg besseren Aussehens aufweisen. Wenn man diesen Gedanken weiter spinnt, artet das dann schnell in dystopische Fantasien aus, à la Brave New World.

Eine weitere große Sorge ist, dass die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses die Akzeptanz von Behinderten als gleichwertige Menschen in unserer Gesellschaft verringern könnte. Diesen Effekt könnten die verminderten Geburtenraten von Kindern mit Trisomien und anderen Behinderungen indirekt mit sich bringen: Weniger Kinder mit solchen Einschränkungen bedeutet faktisch, dass es zu noch weniger Begegnungen zwischen anderen Menschen und ihnen kommt. Mit persönlichen Begegnungen, allerdings, steigt im Normalfall die Akzeptanz — umso früher im Leben, umso besser. Fallen diese Begegnungen weg, führt das dazu, dass sich immer mehr werdende Eltern bei einem vorhandenen positiven Befund gegen ihr Kind entscheiden, und sich letztendlich ein Kreislauf formt.

Ich persönlich bin trotz dieser Argumente ein Befürworter des Tests als Kassenleistung bei Risikoschwangerschaften. Die rein medizinischen Vorteile überwiegen hier die Nachteile. Nicht der Test an sich, sondern das, was sie Gesellschaft aus ihm machen könnte, ist das Problem. Und genau das kann und sollte man verhindern.

Wie? Die Antwort ist Inklusion.

Das Ziel muss sein, Menschen mit Behinderung in die Mitte unserer Gesellschaft zu rücken. Inklusion ist klar abzugrenzen von Integration, welche davon ausgeht, dass es an der Einzelperson hängt, sich an die Gesellschaft anzupassen. Inklusion hingegen hat das Ziel eines weitreichenden gesellschaftlichen Wandels mit der Folge, dass “Integration” gar nicht mehr nötig ist.

In den letzten Jahren gewann dieser Gedanke immer mehr an Zuspruch, wobei die wichtigsten Meilensteine die folgenden waren:

1994: das Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung im Grundgesetz

2002: das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, mit dem insbesondere die Benachteiligung durch Träger öffentlicher Gewalt verboten und Maßnahmen für die Schaffung von Barrierefreiheit im Gesetz verankert wurden.

2008: die UN-Behindertenrechtskonvention, durch die der neue Ansatz der Inklusion im Gegensatz zur Integration völkerrechtlich verankert wurde. In Deutschland trat das entsprechende Gesetz 2009 in Kraft.

Es gibt drei große Handlungsfelder: Das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und die physische Barrierefreiheit.

Im Hinblick auf die physische Barrierefreiheit wurde in den letzten Jahren vieles erreicht. So sind die meisten Gebäude heutzutage gut für Rollstuhlfahrer zugänglich, öffentlich rechtliche Sendungen wie die Tagesschau mit Gebärdensprachdolmetscher*in zu sehen und fast alle Handys mit einer Sprachsteuerung ausgestattet. Ich werde mich daher in dem folgenden vor allem auf Menschen mit geistigen Behinderungen beziehen, wobei körperliche Behinderungen damit natürlich oft einhergehen und teilweise die gleichen Problematiken mit sich bringen.

Wie sieht es am Arbeitsmarkt aus?

Aktuell besuchen die meisten Kinder mit (geistiger) Behinderung eine Förderschule und machen danach eine Ausbildung bei einem Berufsbildungswerk oder fangen an, in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten. Letztere haben das übergeordnete Ziel, einen Übergang ins “normale” Arbeitsleben zu ermöglichen. Dementsprechend erhalten Betriebe, die Menschen beschäftigen, die andernfalls (und zuvor) in so einer Werkstatt tätig wären, seit 2018 langfristige finanzielle Unterstützung.

Trotzdem schaffen weniger als ein Prozent der Beschäftigten den Sprung in den allgemeinen Arbeitsmarkt, wobei Experten wie Dirk Gerstle, Geschäftsführer der Lebenshilfe Berlin, davon ausgehen, dass vermutlich weit mehr von ihnen eigentlich dazu in der Lage wären. Das Problem ist, dass die Werkstätten ihre Arbeitskräfte oft gar nicht loswerden wollen — und zwar gerade diejenigen nicht, die am produktivsten sind — denn trotz allem sind Werkstätten abhängig von den Aufträgen großer Firmen und müssen daher möglichst effizient sein.

Dazu kommt, dass eine Beschäftigung in einer Werkstatt nur als “arbeitnehmerähnlich” angesehen wird, weshalb das Mindestlohngesetz nicht greift und die Stundenlöhne häufig unter zwei Euro liegen (durchschnittlich 160€ im Monat bei meist ca. 35h/Woche laut Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e. V.). Es besteht für die Werkstätten also kein wirklicher Anreiz, besonders fähige Menschen mit Behinderung zu motivieren, sich nach anderen Arbeitsmöglichkeiten umzusehen.

Insgesamt ist die Arbeit in Werkstätten leider häufig monoton und für viele der dort Beschäftigten zu einfach, da die Komplexität der Arbeit meist an die Fähigkeiten der Schwächsten angepasst wird. Trotzdem muss man natürlich sagen, dass die Werkstätten ein geschütztes Umfeld ohne Leistungsdruck bieten, was für viele sicherlich genau das richtige ist.

Für die anderen allerdings gibt es im allgemeinen Arbeitsmarkt genug ähnlich einfache oder wenig schwerere Aufgaben, die den behinderten Menschen aber dennoch in eine reale Wertschöpfungskette und ein Kollegium einbinden, was ein Gefühl von Sinnhaftigkeit vermitteln kann. Zum Beispiel könnten handwerkliche Aufgaben übernommen, oder im Einzelhandel Regale eingeräumt werden.

Ein möglicher Ansatz wäre hier, finanzielle Unterstützung für Unternehmen bei der Beschäftigung behinderter Menschen zu erhöhen. So könnte man schließlich jedem behinderten Menschen eine geförderte Arbeitsstelle zuweisen oder anbieten, in der er in ein bestehendes Gefüge integriert und je nach Fähigkeiten Aufgaben zugeteilt bekommt. Ein ähnliches System besteht zum Beispiel in Schweden, das in Sachen Inklusion oft als Musterland angesehen wird.

So eine Umstrukturierung des Arbeitsmarktes hätte den Effekt, dass immer mehr Personen überhaupt in Kontakt mit Menschen mit den verschiedensten Behinderungen kämen und diese Begegnungen zur Normalität würden. Somit würde man hierbei die wohl tatsächlich größte Baustelle, wenn es um Inklusion geht, angehen: die Gedanken der Menschen.

Denn tatsächlich sollte das übergeordnete Ziel nicht nur gleicher Zugang behinderter Menschen zu physischen Orten, Jobs oder Einkommen, sondern natürlich vor allem auch soziale Inklusion sein: Menschen mit Behinderung sollen von anderen Menschen als gleichwertig angesehen werden, Begegnungen mit ihnen sollen etwas Normales und Schönes sein.

Die besten Möglichkeiten hierzu bietet das Bildungssystem.

Warum? Die Erfahrungen, die wir als Kind machen, prägen uns unser ganzes Leben lang. Und es geht ja auch gerade darum, die Akzeptanz langfristig und in den zukünftigen Generationen zu verbessern, die momentan noch unsere Kindergärten und Schulen besuchen, oder noch gar nicht geboren sind.

Positiv ist die Entwicklung der letzten Jahre zu sehen, weg von isolierten Förderschulen, hin zu gemeinsamen Inklusionsschulen. Es gibt schöne Beispiele für gelungene Inklusion in Schulen, wie zum Beispiel im Film “Klassenleben” zu sehen. Für ihn hat der Regisseur Hubertus Siegel ein halbes Jahr lang den Alltag einer Inklusionsklasse an der Fläming-Grundschule in Berlin verfolgt und gefilmt. Das Ergebnis ist ein berührender Film, der Hoffnung auf die Zukunft gibt.

Faktisch fehlt es leider aber häufig an Geldern, um den behinderten Kindern in Inklusionsklassen die Förderung zu bieten, die sie benötigen. Für eine erfolgreiche Inklusion braucht es mindestens eine/-n zusätzliche/n Lehrer*in oder Pädagog*in, die/der sich um die Belange der Kinder mit besonderen Bedürfnissen kümmert — aber häufig nicht vorhanden ist. Daher ist es nur verständlich, dass viele Eltern von Kindern mit Behinderung sich trotz der heutigen Möglichkeiten entscheiden, ihr Kind auf eine Schule mit besonderem Förderschwerpunkt zu schicken. Vor allem Grundschulen sollten daher deutlich größere Fördersummen erhalten, um Inklusionsmöglichkeiten zu schaffen.

In der weiterführenden Schule werden die Schwierigkeiten schließlich noch größer, da diese sehr leistungsorientiert sind. Mit unserem jetzigen System ist eine Inklusion über die Grundschule hinaus praktisch unmöglich, da das System regelrecht darauf ausgelegt ist, zu selektieren. Inwiefern hier generell ein Systemwandel nötig ist, bleibt zu diskutieren. Stand jetzt ist es aber gerade deshalb wichtig, über die typische, “volle” Inklusion in Schulen hinauszudenken und auch andere Ansätze in Erwägung zu ziehen.

Eine Möglichkeit wäre eine Zusammenlegung von Gymnasien bzw. “normalen” Schulen und Schulen mit besonderen Förderschwerpunkten auf einem Gelände. Entscheidend wäre hierbei, nicht bloß eine räumliche Nähe zu schaffen, sondern auch, zum Beispiel in Form von “Patenschaften”, tatsächlichen Kontakt herzustellen und in den Schulalltag zu integrieren.

Weitere Möglichkeiten wären staatlich finanzierte Social Media Kampagnen oder die stärkere Einbeziehung von behinderten Menschen zumindest in öffentlich rechtlichen Medien, wie dem ARD und dem ZDF. Toll wäre es natürlich, wenn auch private Unternehmen anfangen würden, behinderte Menschen zum Beispiel in Werbespots zu integrieren.

Also…?

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass es sich bei der Inklusion um ein Mammutprojekt handelt. Inklusion strukturell herbeizuführen ist leider nicht so einfach, wie man es gerne hätte und eine Aufgabe, die zu bewältigen noch viele Jahre dauern wird.

Dass Natalie und ihre Mitaktivist*innen mit dieser Aussicht zufrieden sind, wage ich zu bezweifeln. Letztendlich sind Praenatest und Co. aber nun einmal da, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Wie immer beim Fortschritt in Wissenschaft und Forschung muss der Mensch lernen, mit den neuen Möglichkeiten umzugehen, damit sie ihm am Ende nicht selbst schaden. In diesem Fall ist es umfassende Inklusion in allen Lebensbereichen, die wir benötigen. Die Aufgabe des Staates ist es, sie auf struktureller Ebene zu fördern und herbeizuführen.

Bis dahin liegt es aber auch an jedem Einzelnen von uns, behinderten Menschen offen und ohne Scham entgegenzutreten — auch wenn es nur ein Lächeln in der U-Bahn ist — und uns somit dem großen Ziel, einer Gesellschaft für alle, näherzubringen.

--

--