_2 “Hear, O Internet” — das Cluetrain Manifesto 1999 und 2015

Vor 16 Jahren haben Doc Searls, David Weinberger, Rick Levine und Christopher Locke sich zusammengesetzt und 95 berühmt gewordene Thesen zum Internet und seinen Folgen für Unternehmen verfasst. Es war ein pionierhafter Wurf, manch einer mag sich gefragt haben, wovon sie sprechen. Es ging darum, Grundprinzipien des Netzes verständlich zu machen, nicht zuletzt um etablierte Unternehmen aufzurütteln. Im neuen, 2015 erschienenen Manifest, das Searls und Weinberger verfasst haben, wollen die beiden explizit zwei Gruppen ansprechen, erstens die „Plünderer”, die das Internet für ihre egoistischen Zwecke und nur zur Gewinnmaximierung nutzen und zweitens uns alle, die „User”.

Schon im ersten Manifest war von der Vernetzung der Massen und deren immensem Einfluss auf Unternehmen und ihre Beziehungen zu Kunden die Rede. Viele der Thesen nahmen Diskurse vorweg, die heute entlang von Begriffen wie Customer Centricity, Transparenz, Heterarchie oder Kollektivität geführt werden. Wir haben im Folgenden einige der zentralen Thesen von 1999 und 2015 ausgewählt, um deren Inhalte und Stoßrichtungen beispielhaft vergleichen zu können. Für uns ist vor allem deutlich geworden, dass Searl und Weinberger von der grundsätzlichen Reflexion über Phänomene und antizipierte Entwicklungen 1999 zu einer sehr viel konkreteren Analyse 2015 gelangen. Zugleich birgt diese Konkretheit wenig Neues oder Innovatives, viele der Impulse sind bereits im Bewusstsein von Unternehmen und Nutzern verankert (z.B. Vorsicht in Bezug auf sensible Daten im Web). Wahrscheinlich ist es schwieriger geworden, etwas Bahnbrechendes zum Diskurs der Digitalisierung beizutragen, das Thema ist besser und differenzierter erforscht, es ist an einem anderen Punkt als vor 16 Jahren.

„Märkte sind Gespräche” — das war der Kern und rote Faden der Thesen von 1999. Sears und Weinberger knüpfen 2015 daran an, wenn sie die Wichtigkeit zwischenmenschlicher Interaktion für das Internet betonen, an die Grundwerte des Netzes erinnern (die allerdings recht unkonkret bleiben) und vor der Macht und den Interessen großer Internet-Konzerne warnen. Der Appell an die User, die Rolle aktiver Gestalter einzunehmen und sich nicht daraus verdrängen zu lassen, geht darüber hinaus und ist ein Leitmotiv der 121 „new clues”. Tatsächliche Orientierung und über Warnungen hinausgehende Vorschläge bleiben sie aus unserer Sicht allerdings weitgehend schuldig. — Machen Sie sich selbst ein Bild! Wir haben einige Thesen beider Manifeste zusammengestellt, sodass beispielhaft ein Gefühl für deren Inhalte entstehen kann. Es geht dabei nicht um eine Gegenüberstellung einzelner „clues”. Sie finden die vollständigen Manifeste hier: http://www.cluetrain.com (1999); http://newclues.cluetrain.com (2015).

Schreiben Sie uns, wie Sie zu den Thesen stehen! Wie gut passen sie zu Ihrem Erleben im digitalen Arbeits- und privaten Alltag? Welches Kunden- und User-Verständnis wird in Ihrem Unternehmen gelebt? Wo findet Reflexion über die großen Entwicklungslinien der Digitalisierung statt? Und wo Übersetzungsarbeit für die Praxis der Unternehmensentwicklung und die Gestaltung von Arbeitsbeziehungen im Alltag? Woran haben Sears und Weinberger nicht gedacht?

1999

Es gibt keine Geheimnisse mehr. Die vernetzten Märkte wissen über die Produkte der Unternehmen mehr, als die Unternehmen selbst. Ob die Nachricht gut oder schlecht ist, sie wird weitergegeben.

Unternehmen, die nicht realisieren, dass ihre Märkte jetzt von Mensch zu Mensch vernetzt sind, deshalb immer intelligenter werden und sich in einem permanenten Gespräch befinden, verpassen ihre wichtigste Chance.

Heute besteht das Organigramm aus Hyperlinks, nicht aus Hierarchien. Der Wert praktischen Wissens löst die Bedeutung abstrakter Autorität ab.

Beide Gespräche (intern und am Markt) suchen den Diskurs miteinander. Sie sprechen dieselbe Sprache. Sie erkennen einander an der Stimme.

Millionen von Menschen, die heute im Internet unterwegs sind, nehmen die Unternehmen nur noch als fadenscheinige Konstrukte wahr, die sich der Vernetzung dieser beiden Diskurse in den Weg stellen.

Den traditionellen Unternehmen mögen die vernetzten Gespräche/Konversationen verworren und verwirrend erscheinen. Aber wir organisieren uns schneller als sie es tun. Wir haben die besseren Werkzeuge, mehr neue Ideen und keine Regeln, die uns aufhalten.

2015

Das Internet ist wie Gravitation wertfrei in seiner Anziehung. Es zieht uns alle an und zusammen, die Guten und die Schlechten.

Im Netz sind wir das Medium. Wir sind die, die Mitteilungen überbringen — jedes Mal, wenn wir etwas posten oder retweeten, einen Link in einer Mail senden oder einen Post in einer sozialen Plattform machen.

Wenn wir die Wahrheit über eure Produkte erfahren wollen, fragen wir uns untereinander.

Google, Amazon, Facebook, Apple & Co agieren wie schwarze Löcher. Sie möchten uns an sich binden wie schwarze Löcher das Licht.

Sie profitieren von der Schwerkraft des Sozialen. Der „Netzwerk Effekt“ führt dazu, dass viele Menschen eine Lösung nutzen, weil viele Menschen diese nutzen.

Ein Handel ist kein fairer Handel, wenn wir nicht wissen, was wir dafür aufgeben. Habt ihr verstanden, Sicherheit als Gegenleistung für Datenschutz?

Anmerkung: Übersetzung der “new clues” (2015) von “Concept Bakery” (z.T. adaptiert).

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Heitger Consulting
Digitalisierung, mein Unternehmen & ich

Heitger Consulting, 2007 gegründet von Dr. Barbara Heitger mit Sitz in Wien, versteht sich als Pionier in der systemischen Unternehmensberatung.