Auf dem Weg zu einer transformativen Demokratie

Die Neugestaltung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse geht uns alle an

Politics for Tomorrow
Öffentliches Gestalten
8 min readNov 4, 2021

--

Indy Johar & Caroline Paulick-Thiel, November 2021 // ENGLISH VERSION

Trotz wichtiger Fortschritte verdeutlicht die COP26, dass die Menschheit nicht in der Lage ist, ihre eigene Zukunft innerhalb bestehender Entscheidungsrahmen angemessen zu adressieren. Es mangelt nicht an Beweisen für das Ausmaß, den Umfang und die Geschwindigkeit des erforderlichen Wandels. Dennoch gibt es nach wie vor ein massives Defizit in unseren gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, um entsprechend zu handeln. Zeitgemäße Konferenzen — wie Innocracy, Government beyond Recovery oder Rethinking Democracy — erkennen die Notwendigkeit an, sich mit diesem Problem zu befassen. Doch um es tatsächlich anzugehen, ist eine Neugestaltung der vorherrschenden industriellen Infrastrukturen unserer Demokratien unerlässlich.

Anstatt einen gesellschaftlichen Zusammenbruch zu verwalten, ist es an der Zeit unsere demokratischen Institutionen für einen kollektiven Durchbruch auszustatten. Wenn wir es nicht schaffen, sie zu erneuern, werden sie uns im Stich lassen.

Laut dem aktuellen Emissions Gap Report “muss die Welt die jährlichen Treibhausgasemissionen in den nächsten acht Jahren halbieren, um die globale Erwärmung in diesem Jahrhundert unter 1,5°C zu halten”. Alle Demokratien der Welt könnten die Ergebnisse dieses Berichts ernst nehmen, aber tun es kaum. Wir verfügen über eine größere Fähigkeit zur sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Dennoch wird die mögliche Transformation nicht nur durch einen Mangel an politischer Führung behindert, sondern auch durch die strukturelle Schwäche von legitimen Entscheidungsprozessen.

Bewusst den Durchbruch statt den Zusammenbruch fördern

Sozio-technische Transformationen sind als disruptiver, systemischer Wandel zu verstehen. Im Unterschied zu gewöhnlichen Prozessen des gesellschaftlichen Wandels bedeutet dies, dass sich der Wandel nicht nur auf einzelne Technologien oder Verhaltensmuster bezieht, sondern sich auf mehrere oder sogar alle Elemente soziotechnischer Systeme sowie auf deren Interaktionen auswirkt. Transformation kann daher auch als Übergang von einem dominanten Regime zu einem anderen verstanden werden¹. Diese Übergangsphase von einem Paradigma zum nächsten wird von zunehmenden Turbulenzen begleitet, in denen traditionelle Navigationsweisen in Frage gestellt werden und angepasst werden müssen.

Transformationshorizonte

Wir können unseren Politiker:innen nicht länger die Schuld für ein systemisches Versagen geben. Angesichts des Ausmaßes der bekannten Krise besteht die größte Herausforderung darin zu verstehen, dass uns strukturelle Defizite davon abhalten, lebenswichtige Entscheidungen zu treffen — und sie rechtzeitig umzusetzen. Minute für Minute verringern wir unser Potenzial, unsere Zukunft als Gesellschaft zu gestalten². Die bestehenden demokratischen Strukturen erschweren es, Entscheidungen mit der notwendigen Schnelligkeit oder radikalen Einbeziehung zu treffen, um eine langfristige Zukunft wirksam zu sichern. Die Neugestaltung des Zustandekommens und der Umsetzung demokratischer Entscheidungen ist zentral für die Transformation der Art und Weise, wie wir uns täglich umeinander kümmern, ernähren, wohnen, Energie nutzen oder fortbewegen.

Lernende Institutionen als Voraussetzung für eine transformative Demokratie

Demokratien kommt eine entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, die nächsten Jahrzehnte des Wandels schneller, vorausschauender und effektiver zu bewältigen. Doch derzeit sind sie dafür nicht fit genug. Welche Art von Entscheidungsarchitekturen und Organisationen würden uns helfen, eine Welt zu navigieren, die seit jeher aus komplexen Systemen besteht, die sich aus vielen Komponenten zusammensetzen, die miteinander interagieren und emergente Eigenschaften und Verhaltensweisen hervorbringen? Wenn wir akzeptieren, dass wir in einer komplexen, emergenten Welt leben, werden Ungewissheit und Lernen zum Markenzeichen unserer Zukunft, im Gegensatz zu Vorhersehbarkeit und Kontrolle.

Daher ist anzunehmen, dass lernende Institutionen besser in der Lage sind, mit einer Zeit anhaltender Notlagen umzugehen und relevant zu bleiben. Sie könnten eine neue Art des Handelns etablieren, die transformativ ist und eine sozio-ökologische Transformation aller öffentlichen Systeme unterstützt. Bewährte Wissensmanagementansätze nicht ausreichend, um Pfadabhängigkeiten zu verlassen. Institutionen als “integrierte Systeme von Regeln, die soziale Interaktionen strukturieren”³, könnten zu lernenden Institutionen werden, wenn sie systematisch einen Lernzyklus zwischen den Folgen sozialer Interaktionen und der Anpassung der Regeln, die diese strukturieren, ermöglichen würden.

Institutionelles Lernen als Wegbereiter für transformative Demokratie

Strukturelle Veränderungen in demokratischen Systemen erfordern ein Zusammenwirken von Innovationen und Exnovationen, die sich gegenseitig verstärken. Eine lernende Verfassung entsteht nicht ohne ein lernendes Parlament, ohne lernende politische Parteien, ohne lernende Verwaltungen, ohne lernende Wahlen usw. Wir, die Gesellschaft, müssen einen Wechsel im öffentlichen Management fordern — von militärischen Kontrollmodellen zu organisatorischen Lernansätzen.

Demokratischen Handlungsfähigkeit ausweiten

Die Neuerfindung und Mitgestaltung demokratischer Prozesse ist eng mit dem Verzicht auf die menschliche Beherrschung des Planeten verbunden. Die Beziehung des Menschen zur materiellen und biologischen Welt muss sich ändern. Es ist wichtig, unsere Abhängigkeit von nicht-menschlichen Akteuren in jedem Moment anzuerkennen — von städtischen Wäldern, Flüssen oder lernenden Maschinen bis hin zu Klimasystemen. Ideen wie “die Natur schützen” oder “das Virus bekämpfen” halten uns davon ab, die Problematik zu durchdringen. Wir können unsere Theorie des Wahlrechts erweitern, indem wir die Mitwirkung und die Handlungsfähigkeit aller Dinge anerkennen.

Alles könnte als Bürger:in betrachtet werden, der:die Rechte und Pflichten hat und diese auch durchsetzen muss⁴.

Das ist keine verrückte Utopie, sondern vielfältige Realität. Erste Beispiele für die Rechtspersönlichkeit von Unternehmen lassen sich bis nach Indien 800 v. Chr. zurückverfolgen⁵. Die zivilrechtliche Persönlichkeit von Technologie⁶ wird in letzter Zeit auf unterschiedliche Weise diskutiert. Und es gibt einige Beispiele für die Natur als Rechtsperson⁷ und damit verbundenen autonomen Rechten — aber wir brauchen noch viel mehr davon. Es ist notwendig, die Entscheidungsbefugnis auf eine breitere Mischung von Akteuren und Handlungen sichtbar auszuweiten. Es wird uns unterstützen, neue Beziehungen zu unserer Umwelt aufzubauen und Verantwortung für sie zu übernehmen.

Agenten in transformativ demokratischen Entscheidungsprozessen

Neue Entscheidungstypologien entwickeln

Die Erneuerung unserer gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse erfordert eine Reihe von Veränderungen des bestehenden institutionellen Rahmens. Dabei gilt es nicht nur das Bestehende zu ändern, sondern auch unsere öffentliche Vorstellungskraft zu weiten. Das strukturierte Experimentieren mit neuen Verfahren und Mechanismen ist ein wichtiges Mittel, um zukunftsfähige legitime Entscheidungsprozesse zu entwickeln — von ko-kreativen Parlamenten über Bürgerräte mit deliberativen Rahmen bis hin zu offenen, iterativen Entscheidungsarchitekturen, in denen Maschinen administrative Entscheidungsprozesse unterstützen und Noise⁸ reduzieren.

Das kollektive Handeln hin zu einer regenerativen Gesellschaft wird leichter, wenn wir das Zusammenwirken neuer Entscheidungsformate strukturell fördern.

Ja, dies wird die vertikale Machthierarchie in Frage stellen, die immer noch das grundlegende Konstruktionsmodell der demokratischen Institutionen ist. Dennoch werden transformative Entscheidungsrahmen durch unkonventionelle Zusammenarbeit entstehen und verschiedene Modelle des Wandels integrieren. Indem wir Vielfalt einladen, erhöht sich unser Handlungspotential, um Entscheidungen in einem Geflecht von Legitimität zu treffen.

Ansätze für transformativ demokratische Entscheidungsprozesse

Rechtzeitiges Handeln durch Demokratisierung

Die große Frage, die sich stellt, ist: Werden wir es rechtzeitig schaffen?⁹ Einige argumentieren, dass wir das noch schaffen können¹⁰. Schnelle und langsame Veränderungsprozesse sind wichtig, wenn sie zielgerichtet aufeinander abgestimmt sind. Es bedarf einer mutigen Führung, die von vielen Menschen auf der ganzen Welt unterstützt wird, die bisher weder eine Stimme hatten noch die Möglichkeit, ihr Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen zu nutzen.

Warum wird die Zukunft derzeit nur von einigen wenigen gestaltet? Ein Grund dafür könnte sein, dass unsere wirtschaftlichen und demokratischen Systeme so konzipiert sind, dass sie gegeneinander arbeiten. Weil wir eine Wirtschaftstheorie leben, die auf systematische Prekarität ausgerichtet ist und es den Märkten ermöglicht, unsere Arbeit zu instrumentalisieren, minimieren wir unsere Möglichkeiten demokratischer Teilhabe. Verletzlichkeit wird geschaffen, um Menschen zu zwingen, sich irgendeinen Job zu suchen. Sorgfalt, Kreativität oder komplexe Kognition bleiben dabei massiv unterbewertet. Wir sind die ganze Zeit beschäftigt — aber womit?

Die Art und Weise, wie wir unsere wirtschaftlichen und demokratischen Systeme gestalten, ist entscheidend, um einen gesellschaftlichen und ökologischen Zusammenbruch zu vermeiden. Die Demokratisierung unserer Fähigkeit, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, ist wegbereitend für eine postindustrielle Demokratie. Die Neukonzeption unserer Wirtschafts- und Demokratietheorie muss vor allem neue Beziehungen zwischen uns und unserer Umwelt fördern, anstatt sich lediglich auf Automatisierung und Technologie zu stützen.

Spektrum für transformative demokratische Experimente

Eine Frage von Krieg oder Frieden

Die Transformation der Demokratie selbst wird zu einer Frage des globalen Friedens und des kollektiven Überlebens. Es geht nicht nur um die Bewältigung von Herausforderungen und Krisen, sondern auch um die Fähigkeit, unsere demokratischen Prozesse (Politik), Institutionen (Gemeinwesen) und Richtlinien (Policies) ko-kreativ zu gestalten.

Die Stärkung unserer demokratischen Integrität ist mit strategischen Risiken verbunden. Aber was passiert, wenn wir nicht lernen oder uns verändern? Was sind die Kosten, wenn wir ständiges Messen und Benchmarking nicht in Lernen umwandeln? Im Moment spielen alle Demokratien eine wichtige Rolle, um tiefgreifende Veränderungen voranzutreiben. Es ist eine große strategische Chance, ein neues Ausmaß an Freizügigkeit und Emanzipation zu schaffen, das wir uns bisher nicht vorstellen wollten.

Alle, die sich ernsthaft mit gesellschaftlichen Transformationen beschäftigen, laden wir ein, sich gemeinsam mit uns:

  • für eine strukturelle Erneuerung unserer demokratischen Systeme einzusetzen und Lock-Ins und Möglichkeitsfenster zu identifizieren.
  • Ideen für lernende demokratische Institutionen zu entwickeln und zu testen, um aktiv Pfadabhängigkeiten zu durchbrechen.
  • den Übergang zu einer transformative Demokratie als Grundlage für regeneratives Wirtschaften bewusst mitzugestalten.

Der Aufbau von neuen Strukturen und Systemarchitekturen kann nicht auf dem Bestehenden erfolgen. Dafür sind politische Allianzen wichtig, die keinen Machtwechsel, sondern einen Machtwandel provozieren. Ideen und Vorschläge sind jederzeit willkommen!

Meldet euch bei hello@politicsfortomorrow.de mit dem Betreff “transformative Demokratie”

Im nächsten Blogpost gibt es mehr über erste provokanten Ideen und Fragen zur strukturellen Erneuerung unserer Demokratie zu erfahren.

Quellen

¹ Jacob et al. 2015: Was sind Transformationen? Begriffliche und theoretische Grundlagen zur Analyse von gesellschaftlichen Transformationen, UBA Publikation. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link

² Im Oktober 2021 trafen sich Vertreter aus fast 200 Ländern zur UN-Biodiversitätskonferenz. Bei der Konferenz ging es um etwas Großes: eine neue Strategie gegen das Aussterben von Arten. Es wurde eine Erklärung voller guter Vorsätze verabschiedet. Doch über konkrete Ziele und Maßnahmen wird erst in weiteren Verhandlungen gesprochen. Der neue Rettungsplan soll erst im Mai 2022 verabschiedet werden. Dabei rinnt uns die Zeit durch die Finger. (BUND)

³ Hodgson, A. 2015. On defining institutions: rules versus equilibria. Journal of Institutional Economics. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link

⁴ Johar, I. 2021. Everything is a citizen. Untitled Festival. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link

⁵ Wikipedia on Corporate personhood. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link

⁶ Ziemianin, K. 2021. Civil legal personality of artificial intelligence. Future or utopia? Journal on internet regulation. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link

⁷ Fischer-Lescano, A. 2020. Nature as a Legal Person: Proxy Constellations in Law. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link

⁸ Kahneman, D.; Sibony O. and Sunstein, C. 2021. Noise: A Flaw in Human Judgment. New York: Little, Brown Spark. https://readnoise.com/

⁹ Casas, K. Secretary-General of International IDEA during Rethinking Democracy 2021

¹⁰ Thunberg, G. et al. 2021. Emergency Appeal for Climate Action. Zugriff am 3.11.2021 unter diesem Link Learning

--

--

Politics for Tomorrow
Öffentliches Gestalten

Politics for Tomorrow is a non-partisan initiative fostering democratic innovation with and for the public sector based on human-centered learning formats.