Putin und die Macht des kollektiven Handelns aus einem geteilten Gewahrsein:
Eine 10-Punkte-Meditation über den gegenwärtigen Augenblick

Antares Reisky
14 min readMar 11, 2022

--

von: Otto Scharmer |07.03.2022

Übersetzung: Antares Reisky |CoCreatingFuture

Teil I: Die soziale Grammatik der Zerstörung

Artikel lesen auf — englisch - italienisch - chinesisch - spanisch - japanisch - französisch -niederländisch

Abbildung von Kelvy Bird

In diesem Blog lade ich Sie ein, sich mit mir auf eine meditative Reise durch die gegenwärtige Situation zu begeben. Wir beginnen mit Putins Krieg in der Ukraine, analysieren einige der systemischen Kräfte, die dem zugrunde liegen, betrachten die entstehende Landschaft der miteinander im Konflikt liegenden sozialer Felder und enden mit dem, was vielleicht die aufkommende Supermacht der Politik des 21. Jahrhunderts ist: unsere Fähigkeit, kollektives Handeln aus einem gemeinsamen Bewusstsein des Ganzen heraus zu initiieren.

1. Die Schwelle überschreiten
“Die Welt wird nie mehr dieselbe sein.” Dies sind laut dem Kolumnisten der New York Times, Tom Friedman, die sieben gefährlichsten Worte im Journalismus. Nicht nur Friedman hat sie benutzt, um unserer derzeitigen Situation einen Sinn zu geben. Viele von uns tun das ebenso. Wenn wir Putins Einmarsch in die Ukraine seit dem 24. Februar in Echtzeit verfolgen, fühlen sich die meisten von uns wie gelähmt angesichts der schrecklichen Ereignisse, die sich vor unseren Augen abspielen.

Es fühlt sich an, als würden wir eine Schwelle zu einer neuen Ära überschreiten. Diese neue Periode wird mit der Zeit des Kalten Krieges verglichen, die 1989 endete. Manche meinen, dass Wladimir Putin versucht, die Uhr um mindestens 30 Jahre zurückzudrehen, um Russland “wieder groß” zu machen. Ich glaube jedoch, dass die Situation heute eine ganz andere ist.

Der Kalte Krieg war ein Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen auf der Grundlage einer gemeinsamen militärischen Logik, die von Experten als “Mutually Assured Destruction” (beiderseitige Bereitschaft zum nuklearen Gegenschlag) bezeichnet wird) (MAD) — ein ziemlich treffendes Akronym. Das MAD-”Betriebssystem” funktionierte, weil es sich auf eine gemeinsame Logik stützte. Es basierte auf gemeinsamen Annahmen und einer gemeinsamen Wahrnehmung der Realität auf beiden Seiten der geopolitischen Kluft.

Heute jedoch sind diese gemeinsame Logik und dieser gemeinsame Realitätssinn zerbrochen. Das sehen wir innenpolitisch in vielen Ländern, auch in den Vereinigten Staaten. Hier erleben wir eine Aushöhlung der Grundlagen des demokratischen Prozesses, die wir bei den letzten Wahlen beobachten konnten. Seit dieser Wahl gibt es eine Partei, die immer noch die Legitimität der Wahlergebnisse von 2020 leugnet, während sie sich aktiv an der Unterdrückung der Wähler beteiligt (27 Bundesstaaten haben seit der Niederlage von Trump im Jahr 2020 mehr als 250 Gesetze mit restriktiven Wahlbestimmungen eingeführt). Hinzu kommt der Facebook/Meta-Algorithmus, der die massenhafte Erzeugung von Empörung, Wut, Fehlinformationen und Angst unterstützt, und man kann sehen, wie diese Polarisierung und Fragmentierung einem Angriff auf die Grundlagen der Demokratie gleichkommt.

2. Putins blinder Fleck
Nach der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 sprach Angela Merkel, die damalige deutsche Bundeskanzlerin, mit Präsident Putin und berichtete Präsident Obama anschliessend, dass Putin ihrer Meinung nach den Bezug zur Realität verloren habe. Er lebe, so Merkel, in einer “anderen Welt”. Diese Mentalität der Fragmentierung, Isolierung und Trennung wird nirgendwo deutlicher sichtbar als in den jüngsten Bildern von Putin. Er sitzt allein an einem Ende eines großen Tisches und sein Team (oder gelegentlich ein/e Staatschef:in) am anderen Ende.

Wladimir Putin bei einem Treffen mit seinen Top-Beratern — Bildnachweis: https://preview.telegraph.co.uk

Diese Isolation (vom eigenen Team, von Andersdenkenden und schließlich von der Realität) steht offensichtlich im Widerspruch zu den immer komplexeren Herausforderungen unserer heutigen Welt. Auch wenn Putin, Oberbefehlshaber einer der mächtigsten Armeen der Weltgeschichte, noch eine zeitlang alle militärischen Schlachten gewinnen mag, so scheint es doch, dass diese Trennung von der Realität — d. h. die Realität seiner eigenen blinden Flecken — bereits die Saat für seinen Untergang gelegt hat. Seine blinden Flecken scheinen die Stärke der Zivilgesellschaft und die Kraft des kollektiven Handelns aus einem gemeinsamen Bewusstsein heraus zu sein.

Die Stärke der Zivilgesellschaft zeigt sich im Mut und in der Entschlossenheit des ukrainischen Volkes — nicht nur des Militärs, sondern aller Ukrainer:innen. Die gesamte Bevölkerung hat alles stehen und liegen gelassen, um sich kollektiv zu verteidigen und für ihr Überleben zu sorgen, und zwar in einer Weise, die so gut wie jeden in der Welt berührt und inspiriert. Putin und die russische Armee waren offensichtlich von dieser kollektiven Entschlossenheit überrascht. Die zweite Überraschung war die Reaktion in Russland. Auch dort hat sich die Zivilgesellschaft in Form von Anti-Kriegs-Demonstrationen in mehr als 1.000 Städten in ganz Russland gezeigt; 7.000 russische Wissenschaftler:innen unterzeichneten innerhalb weniger Tage nach Beginn der Invasion einen offenen Brief gegen den Krieg. Diese sichtbaren Signale des Dissenses sind zwar noch nicht von großer Tragweite. Aber sie sind ein wichtiger Anfang, der sich schnell zu einer viel breiteren und tieferen Bewegung in ganz Russland ausweiten könnte, auch wenn die russische Propaganda und Unterdrückung jeden Protest zunehmend härter unterdrückt.

Am Abend des 24. Februar, dem Tag, an dem die russische Armee in die Ukraine einmarschierte, tagte der Europäische Rat, dem alle 27 Staatschef:innen der EU-Länder angehören, in Brüssel. Zum Abschluss der Tagung verkündeten sie eine Reihe historischer Beschlüsse und Sanktionen: Sanktionen gegen den russischen Finanz-, Energie- und Transportsektor, ein Reiseverbot und das Einfrieren von Vermögenswerten für wichtige Personen und Oligarchen sowie direkte militärische Unterstützung für ein Nicht-EU-Land. In außenpolitischen Angelegenheiten muss der Europäische Rat einstimmig beschließen, bevor er Maßnahmen ergreift, und ist daher berüchtigt dafür, dass er oft NICHT handelt. Was war geschehen, das zu solch historischen und einstimmigen Beschlüssen geführt hat? Warum waren sich die EU-Mitglieder an diesem Abend und in der folgenden Woche so einig?

Wir kennen bisher nicht die ganze Geschichte, aber es zwei wichtige Faktoren haben sich herauskristallisiert, die dies ermöglicht haben:
(a) die Brutalität der russischen Invasion und
(b) ein direktes Gespräch zwischen den EU-Mitgliedern und Präsident Zelensky, der aus seinem Bunker in Kiew, den Anwesenden mitteilte, dass es das letzte Mal sein könnte, dass sie ihn lebend sehen. Diese beiden Faktoren haben zu einem Erwachen der EU-Staats- und Regierungschef:innen geführt: Sie erkannten, dass sie Teil des Problems sind, dass sie Putins Krieg finanzieren, indem sie russisches Gas und Öl kaufen, und dass sie in Zukunft ganz anders handeln müssen.

Dieses Phänomen, wenn eine Gruppe von Staats- und Regierungschef:innen beginnt, aus einer gemeinsamen Sicht und einem gemeinsamen Bewusstsein für die Gesamtsituation heraus zu handeln — und nicht aus einer Vielzahl abstrakter und eng definierter nationaler Agenden heraus — bezeichne ich als Collective Action from Shared Awareness (CASA).

Warum waren Putin und sein hochentwickeltes Geheimdienstteam offenbar nicht in der Lage, sowohl die Reaktion der Zivilgesellschaft als auch die rasche Einigkeit der westlichen Länder richtig einzuschätzen und vorherzusehen?

Niemand kennt die Antwort auf diese Frage. Aber ich habe eine Vermutung: weil Putins Geheimdienstsystem, das bei der Analyse bestehender Formationen und Kräfte brillant sein mag, einen blinden Fleck hat, wenn es um Aktionen geht, die aus dem Herzen und aus einem gemeinsamen Bewusstsein für das Ganze entstehen können. Aber das ist genau die Art von kollektivem Handeln, die das tapfere ukrainische Volk auf so inspirierende Weise verkörpert und die allmählich auf die Straßen, Dörfer und Städte in Russland und anderswo ausstrahlt und zu guter letzt auch an Orten wie dem Europäischen Rat in Brüssel.

3. Der blinde Fleck des Westens
Putin mag blinde Flecken haben, was die Macht der Zivilgesellschaft und die Kraft kollektiven Handelns angeht, die aus einem gemeinsamen Bewusstsein erwächst: aber was ist mit den blinden Flecken des Westens? Lassen Sie mich konkreter werden: WENN es so klar war, dass Putin plante, in die Ukraine einzumarschieren (wie es die US-Geheimdienste seit vielen Monaten vorausgesagt hatten), und WENN es ebenso klar war, dass die NATO niemals direkt eingreifen kann (ohne einen Atomkrieg zu riskieren), WARUM war es dann für den Westen so unmöglich, Putins oft wiederholter Hauptforderung einfach zuzustimmen: einer Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitreten wird (genau wie Finnland, Schweden, Österreich und Irland, die alle Mitglieder der EU, aber nicht der NATO sind)?

Was haben sich die führenden Politiker:innen des Westens — insbesondere der USA — dabei gedacht? Worin bestand die Rationalität der westlichen Zwei-Punkte-Strategie gegen Russland?
(1) jahrzehntelanges Ignorieren der russischen Einwände gegen die verschiedenen Wellen der NATO-Osterweiterung und
(2) Wetten darauf, dass Putin sein Verhalten ändern würde, wenn man ihm mit Wirtschaftssanktionen droht?

Diese Wette war schon immer sehr aussichtslos. Die Sowjetunion hat die meiste Zeit ihres Bestehens unter diesen Bedingungen gearbeitet. Und heute stärkt sie lediglich das chinesisch-russische Bündnis und die wirtschaftliche Integration. Wie kann das eine rationale Strategie sein, wenn — wie US-Präsident Biden es sieht — China als der wichtigste strategische Rivale der USA angesehen wird?

Seit der ersten Welle der NATO-Osterweiterung bis an die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion und später auch innerhalb dieser Grenzen haben einige wenige besonnene Stimmen im außenpolitischen Establishment der USA davor gewarnt, dass die Erweiterung zu katastrophalen Folgen führen könnte. Insbesondere George Kennan, der Hauptarchitekt der westlichen Eindämmungsstrategie gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg, warnte 1998 in einem Interview mit der New York Times nach der ersten Runde der NATO-Erweiterung, dass er einen solchen Schritt als “den Beginn eines neuen Kalten Krieges” ansieht. Er sagte: “Ich denke, die Russen werden zunehmend negativ reagieren, und das wird auch ihre Politik beeinflussen. Ich halte das für einen tragischen Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund für dieses Vorgehen. Niemand hat irgendjemandem gedroht”. Robert M. Gates, der in den Regierungen von George W. Bush und Barack Obama als Verteidigungsminister diente, schrieb 2015 in seinen Memoiren, dass die Initiative von Bush, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, “definitiv zu weit ging”. Seiner Ansicht nach wurde dabei “rücksichtslos ignoriert, was die Russen als ihre eigenen wesentlichen nationalen Interessen betrachten”.

Warum war die Regierung Biden so taub gegenüber den wiederholten russischen Beschwerden? Was würden die Amerikaner sagen, wenn zum Beispiel Mexiko einem feindlichen Militärbündnis beitreten würde? Was würde passieren, wenn sich Texas (ein Staat, der früher zu Mexiko gehörte) Mexiko anschließen würde? Wie würde sich das Weiße Haus „fühlen“, wenn Raketen in Houston auf die US-Hauptstadt gerichtet würden? Nun, das können wir nur raten. Aber im Fall von Kuba müssen wir nicht raten. Die Kubakrise von 1962 brachte die Welt unmittelbar an den Rand des Dritten Weltkriegs. Was hat die damalige Krise beendet? Die Russen zogen ihre Mittelstreckenraketen aus Kuba ab. Daran erinnert sich noch heute jede/r. Woran sich aber niemand mehr erinnert, ist der zweite Teil der Vereinbarung mit den Russen: Die USA zogen ihre eigenen Mittelstreckenraketen aus der Türkei ab. Dieser Teil des Abkommens wurde geheim gehalten, damit Präsident Kennedy in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht als schwach dasteht.

Das bringt uns direkt zu Biden zurück. Warum ist die US-Außenpolitik nicht in der Lage, die Sicherheitsbedenken einer anderen großen Atommacht zu respektieren, die mehr als einmal von westlichen Streitkräften überfallen wurde (Hitler, Napoleon) und die in den 1990er Jahren eine weitere traumatische Erfahrung machte: den Zusammenbruch sowohl ihres Reiches als auch ihrer Wirtschaft (auf Anraten westlicher Experten)?

Warum war es so schwierig, diese Bedenken einfach anzuerkennen? War es Unwissenheit? Arroganz? Oder einfach die Unfähigkeit, echte Beziehungen zu einem vielleicht traumatisierten Präsidenten eines Landes aufzubauen, das im Zweiten Weltkrieg 24 Millionen Menschen verloren hat? Was auch immer der Grund sein mag, Tatsache ist, dass DIESE Strategie — was auch immer sie gewesen sein mag — vollkommen gescheitert ist.

Auf diese Unzulänglichkeiten in Amerika hinzuweisen, ist heute genauso populär wie 2003 die Kritik an der US-Invasion im Irak (die, wie die Invasion in der Ukraine, unter falschen und erfundenen Vorwänden durchgeführt wurde). Niemand möchte das hören. Denn es ist Teil des kollektiven westlichen blinden Flecks und zeigt unsere eigene Rolle bei der Entstehung der Tragödie, die sich in der Ukraine abspielt.

Es ist erwähnenswert, dass George W. Bush, nachdem er 2001 den Krieg gegen den Terror begonnen hatte, am Ende seiner zweiten Amtszeit beschloss, einen weiteren wichtigen Schritt zu tun: die Ukraine (und Georgien) in die NATO einzuladen. Diese Entscheidung setzte eine weitere Kette von potenziell katastrophalen Ereignissen in Gang, die 14 Jahre später, im Jahr 2022, vor unseren Augen deutlich zu Tage traten.

Beide Fehlentscheidungen von Bush sind auf dieselbe intellektuelle Struktur zurückzuführen: ein binäres Denken, das auf der Einteilung der Welt in Gut und Böse beruht. Es ist dieses Denkparadigma, das die politischen Entscheidungsträger daran hinderte, eine andere Antwort auf den 11. September 2001 zu finden als einen Krieg gegen den Terror oder eine andere Rolle für die Ukraine als die eines Staates, der einem feindlichen (und zunehmend isolierten) Russland gegenübersteht. Warum sollte man die Ukraine nicht als blühende Brücke zwischen der EU und Russland sehen, mit EU-Mitgliedschaft und engen Beziehungen zu Russland, aber ohne Mitgliedschaft in einem Militärbündnis (ebenso wie Finnland, Schweden, Österreich und Irland)?

4. Die soziale Grammatik der Zerstörung: Abwesenheit
Wenn wir einen Schritt zurücktreten, um die tiefere kognitive Struktur zu betrachten, die zu diesem Krieg führt, was wird dann sichtbar?

Wir sehen ein System, das uns dazu bringt, kollektiv Ergebnisse zu schaffen, die niemand will. Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf der Welt wollte, was wir jetzt in der Ukraine sehen können. Ganz sicher nicht die Ukrainer. Und schon gar nicht die russischen Kinder/Soldaten, die in den Krieg “hineingezogen” wurden, wie mehrere von ihnen es beschrieben haben. Vielleicht nicht einmal Wladimir Putin. Er dachte wahrscheinlich, es verläuft so einfach wie seine Krim-Invasion im Jahr 2014. Warum also schaffen wir kollektiv Ergebnisse, die niemand will — in diesem Fall einen schmutzigen Krieg, noch mehr Umweltzerstörung und eine Verrohung und Traumatisierung unserer Seelen?

Abbildung 1: Schöpfung und Zerstörung: Zwei soziale Grammatiken und zwei soziale Felder

In Abbildung 1 wird zwischen zwei inneren Zuständen unterschieden, die wir als Menschen wählen können. Die eine basiert auf der Öffnung von Geist, Herz und Willen — also auf Neugier, Mitgefühl und Mut — und der andere auf dem Verschliessen von Geist, Herz und Willen — also auf Unwissenheit, Hass und Angst.

Die obere Hälfte von Abbildung 1 fasst die kollektive kognitive Dynamik zusammen, die uns zu Putins Krieg in der Ukraine geführt hat. Das Einfrieren und Verschließen des Verstandes, des Herzens und des Willens hat zu sechs lähmenden sozialen und kognitiven Praktiken geführt:

  • Täuschung: nicht die Wahrheit sagen (Desinformation und Lügen).
  • De-sensing: andere nicht spüren (in der eigenen Echokammer feststecken).
  • Abwesenheit: Abkopplung vom Ziel (Depression, Abkopplung von der eigenen höchsten Zukunft).
  • Andere beschuldigen: Unfähigkeit, die eigene Rolle mit den Augen der anderen zu sehen.
  • Gewalt: direkte, strukturelle und aufmerksamkeitsbedingte Gewalt.
  • Zerstörung: des Planeten, der Menschen, des Selbst

Diese sechs mikrokognitiven Praktiken stellen ein Betriebssystem dar, das sich in vielen Bereichen manifestiert, von denen man einen als Putinismus bezeichnen könnte. Was sind einige der anderen Bereiche, die wir sehen, wo das gleiche kognitive Betriebssystem am Werk ist? Der Trumpismus ist natürlich einer der wichtigsten, wie ich bereits bei früheren Gelegenheiten erörtert habe. Trotz einiger offensichtlicher Unterschiede haben der Trumpismus und der Putinismus dieselben sechs kognitiven Kernkomponenten, die ihre jeweilige Reaktionsweise bestimmen. Ein besonders herzzerreißendes Beispiel für die Auswirkungen des Putinismus auf die eigenen Truppen fand sich in einer Textnachricht, die ein junger russischer Soldat kurz vor seinem Tod an seine Mutter schickte:

“Mama, ich bin in der Ukraine. Hier tobt ein richtiger Krieg. Ich habe Angst. Wir bombardieren alle Städte zusammen, auch Zivilisten. Uns wurde gesagt, dass sie uns willkommen heißen würden, und sie fallen unter unsere gepanzerten Fahrzeuge, werfen sich unter die Räder und lassen uns nicht durch. Sie nennen uns Faschisten. Mama, das ist so hart.”

Diese Textnachricht erzählt uns von Täuschung (“uns wurde gesagt…”), Entsensibilisierung (“sie werfen sich unter unsere gepanzerten Fahrzeuge…”) und Zerstörung (“wir bombardieren alle Städte… und zielen sogar auf Zivilisten”). Seine letzten Worte “Mama, das ist so schwer” drücken das Erwachen des Bewusstseins aus, dass dieser Weg, auf dem er sich befand — der Weg der Zerstörung -, zutiefst falsch war.

Die soziale Grammatik der Zerstörung prägt heute das kollektive Verhalten auf vielen gesellschaftlichen Ebenen. Nehmen wir die klimafeindliche Industrie. Anfang der 2000er Jahre stellte die Öl- und Gasindustrie in den Vereinigten Staaten fest, dass die Mehrheit der Öffentlichkeit, einschließlich der Mehrheit der republikanischen Wähler:innen, die Einführung einer Kohlenstoffsteuer unterstützt, um der globalen Erwärmung und der Destabilisierung des Klimas besser begegnen zu können. Sie starteten eine gut organisierte und finanziell gut ausgestattete Kampagne (mit mehr als 500 Millionen Dollar), die die klimafeindliche Industrie auf den Plan rief. Eine Schlüsselstrategie bestand darin, die Klimawissenschaft und die Klimawissenschaftler:innen zu diskreditieren, indem sie Stimmen des Zweifels säten und verstärkten. Das hat funktioniert. Der Kampagne gelang es, die öffentliche Meinung in den USA umzustimmen. Die Intervention konzentrierte sich auf den frühen Teil des Absenzenzyklus (Täuschung durch das Säen von Desinformation und Zweifeln), während die Auswirkungen dieser Desinformation unverhältnismäßig stark die Schwächsten treffen, sowohl jetzt als auch in Zukunft (durch die Zerstörung, die durch die Klimadestabilisierung verursacht wird).

Ein weiteres Beispiel ist Big Tech. Das Problem der meisten Giganten der sozialen Medien ist nicht, dass sie Websites, die Desinformationen verbreiten, nicht schließen. Das Problem ist das gesamte Geschäftsmodell, das Facebook zu einem Billionen-Dollar-Unternehmen gemacht hat. Es ist ein Geschäftsmodell, das auf der Maximierung der Nutzerbindung durch Aktivierung und Verstärkung von Desinformation, Wut, Hass und Angst beruht. Facebook, wie auch Trumpismus und Putinismus, aktiviert dieselben kognitiven und sozialen Verhaltensweisen, die ich an anderer Stelle erörtert habe: Täuschung (Desinformationen werden häufiger geteilt als echte Informationen), Desensibilisierung (Echokammern, Wut, Hass), Abwesenheit (Verstärkung von Depressionen), Schuldzuweisung (Trolling), Zerstörung (Gewalt gegen Flüchtlinge im Verhältnis zur Facebook-Nutzung), was uns letztendlich alle in die Selbstzerstörung führt.

Letztes Beispiel: 9/11. Wie alle terroristischen Akte verkörpern die Anschläge von 9/11 zu 100 % die Grammatik der Zerstörung (auch die Rekrutierung und Ausbildung von Selbstmordattentätern folgt diesen Mustern). Als dieser Anschlag geschah, hatte Amerika die Wahl: Es konnte wählen, ob es mit der Öffnung oder mit der Schließung von Verstand, Herz und Willen reagieren wollte. Wir alle wissen, was geschah. Es war die Erstarrungsreaktion des Verstandes, des Herzens und des Willens, die die Oberhand gewann und dazu führte, dass der “Krieg gegen den Terror” begonnen wurde. Spulen Sie 20 Jahre zurück. Was ist aus dieser Entscheidung entstanden?

Fünf Hauptergebnisse:

- Sie hat 8 Billionen Dollar und 900.000 Menschenleben gekostet und die Taliban und Al-Qaida viel stärker gemacht, als sie es vor 20 Jahren waren.

- Er führte dazu, dass die USA unschuldige Menschen folterte und damit genau die Werte verletzte, die der Krieg angeblich verteidigen sollte.

- Er führte zu einem umfassenden inländischen Überwachungssystem, das vorher undenkbar war.

- Er hat ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Institutionen gesät, das schließlich zu innerstaatlichem Terrorismus in den USA führte, einschließlich des Anschlags auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021.

- Und schließlich, und das ist vielleicht das Wichtigste, hat sie uns dazu gebracht, die wirkliche globale Herausforderung unserer Zeit aus den Augen zu verlieren: die planetarischen und sozialen Notlagen, die aktuell neue Formen der globalen Zusammenarbeit für entschlossenes kollektives Handeln erfordern.

Es ist klar, dass das Phänomen des Putinismus nicht völlig neu ist. Etwas manifestiert sich auf der geopolitischen Bühne, das wir schon in kleineren Zusammenhängen gesehen haben. Wir sehen es im Trumpismus. Wir sehen es in unserem eigenen kollektiven Verhalten gegenüber dem Klimawandel. Wir sehen es in der entsetzlichen Behandlung von Afrikanern an der ukrainisch-polnischen Grenze. Wir sehen es an der ungleichen Aufmerksamkeit der westlichen Medien für den Krieg in der Ukraine im Vergleich zu den Kriegen im Sudan, in Syrien oder Myanmar. Wir sehen es immer dann, wenn wir unseren Weg verlieren und kollektiv Ergebnisse erzielen, die anderen Gewalt zufügen, sei es direkte, strukturelle oder aufmerksamkeitsbedingte Gewalt. Das alles ist nicht neu. Was neu ist, ist die Zunahme dieses Phänomens in den letzten zehn Jahren, was zumindest teilweise mit der Verstärkung toxischer sozialer Felder durch soziale Medien und Big Tech zusammenhängt.

Was sehen wir also, wenn wir die Realität durch die Linse der beiden sozialen Felder oder der beiden sozialen Grammatiken, die ich oben beschrieben habe, betrachten? Wir sehen, dass eines dieser Felder exponentiell gewachsen ist, während das andere anscheinend verdrängt wurde. Das ist der Grund, warum so viele von uns mit zunehmender Angst, Depression und Verzweiflung leben. Das ist die Geschichte dessen, was ich “Abwesenheit” nenne. Im zweiten Teil dieses Essays werde ich eine ganz andere Geschichte erzählen, eine, die die aktuellen Ereignisse durch eine andere Linse betrachtet: die Linse des “Presencing” — das heißt, die Zukunft, die durch bewusstseinsbasierte kollektive Aktionen jetzt zu entstehen beginnt.

Teil II: Die soziale Grammatik der Schöpfung

Vielen Dank an meine Kollegin Kelvy Bird für das Bild zu Beginn dieser Reflexion und an Becky Buell, Eva Pomeroy, Maria Daniel Bras, Priya Mahtani und Rachel Hentsch für ihre hilfreichen Kommentare und Korrekturen zum Entwurf. Weitere Blog-Beiträge finden Sie unter: Homepage

--

--