So denkt ihr über die Abschaffung des Gymnasiums

Bent Freiwald
5 min readApr 9, 2019

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Ciao dalla bella Italia. Genauer: aus Perugia, wo ich mit meinem Kollegen Josa Mania-Schlegel das Internationale Journalismus-Festival besuche. Hier ist das Leben zwischen Espresso, Pasta und Rotwein natürlich besonders hart (*hust*). Aber ich will hier niemanden neidisch machen, lasst uns mal gleich dort weitermachen, wo wir letzte Woche aufgehört haben …

Sollte man das Gymnasium abschaffen?

Im letzten Newsletter habe ich euch gefragt, was ihr von der Idee haltet, das Gymnasium abzuschaffen. Ich habe damit gerechnet, dass diese These spaltet, dass sich zwei Lager bilden, die sich nicht so einfach durch ein, zwei Argumente umstimmen lassen. Umstimmen möchte ich euch auch gar nicht — zumal ich mir selbst noch gar keine abschließende Meinung gebildet habe —, aber in den E-Mails, die ihr mir geschickt habt, verstecken sich gute Argumente, auf beiden Seiten, die ich euch nicht vorenthalten möchte. Die Verteilung pro/contra Abschaffung war tatsächlich ziemlich genau 50:50. Eure Meinungen:

Wiebke hat schlechte Erfahrungen mit einer Schule für alle gemacht:
“Bei uns an der Schule hat man versucht, integrativ zu arbeiten. Es hat sich aber gezeigt, dass das nicht praktikabel ist. Schon das Schulgebäude, ein sehr altes Gebäude, gibt nicht die Möglichkeit, beispielsweise Schüler mit Behinderung aufzunehmen. […] Aber auch die Lehrer waren überfordert! Die meisten Schüler mit Behinderung haben von sich aus die Schule wieder verlassen. […] Am Ende zählt nun mal die Abinote bei der Bewerbung für einen Studienplatz. Ich bin froh, dass unsere Kinder auf ein Gymnasium und nicht auf eine Gesamtschule gehen.”

Bettina findet, dass Inklusion weiter gefasst werden sollte:
“Ja, wir sollten das Gymnasium abschaffen! Leider wird Inklusion viel zu oft auf den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung reduziert, ist aber doch so viel mehr, nämlich die gleichberechtigte Teilnahme von allen Schüler*innen am Bildungsprozess — egal ob mit oder ohne Behinderung, mit oder ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne Brille, Übergewicht, mit oder ohne Bilderbuch- oder Regenbogenfamilie.”

Tom sieht seine Grundschulzeit als Contra-Argument:
“Als ich in die Grundschule ging wurden zwei Schulen zusammengelegt und sind in ein anderes Gebäude gezogen. Es hat Jahre gedauert, bis sich alles soweit eingependelt hatte, dass man von einer guten Schule sprechen konnte. Ich will mir gar nicht vorstellen wie das aussehen mag, wenn Gymnasien abgeschafft werden.”

Christiane hält nichts von Vorsortierung :
“Bei uns bekommen Mütter in der 3–4 Klasse Schnappatmung, wenn das Kind mal eine Arbeit verhaut. Es gibt ein Hauen und Stechen in den Grundschulen, um auf das Gymnasium zu kommen. Nachhilfe in der Grundschule … Mütter, die ihren Job aufgeben, damit das Kind die Hausaufgaben besser macht. Gymnasium ist hier ganz klar eine soziale Entscheidung. Hast du dein Kind auf dem Gymnasium ist da noch die schöne heile Welt.”

Matthias befürchtet eine Flucht zu Privatschulen:
“Keiner meiner Freunde und Bekannten verteufelt das Gymnasium und niemand fordert eine Schule für alle. Die Schule für alle hat in Ländern wie Frankreich, England, USA ja nur zur Flucht in die Privatschulen geführt. Stattdessen sind sich alle einig, dass es kleinere System, keine riesigen Lernfabriken, geben sollte. […] Die Schule sollte kein Experimentierfeld sein, in dem alle 5–10 Jahre ein neues pädagogisches Wunderkonzept als Allheilmittel eingeführt wird.”

Für Frank ist schlechte Umsetzung kein Argument gegen eine gute Idee:
“Man sollte das zergliederte Schulsystem abschaffen und Schulen für alle einrichten, die auch dem Förderbedarf aller gerecht werden. Es kann nicht sein, dass eine nicht mal halbherzig umgesetzte Inklusion, überforderte Lehrer und ungeeignete Schulgebäude, die Idee an sich zerstören, weil man sagt: Siehste, klappt nicht. Nee, klappt nicht, weil der politische und pädagogische Wille fehlt. […] Starke Schüler*innen könnten noch viel mehr soziale und emotionale Kompetenzen lernen und erst recht zu Persönlichkeiten reifen. Bestimmt leidet darunter die fachliche Schulung, aber mal ehrlich, die ist momentan auch so schlecht, lückenhaft und oberflächlich.”

Und Achim findet, dass man auch an Gesamtschulen differenzieren kann:
“Die politischen Gegner der Idee, das Gymnasium abzuschaffen, argumentieren oft damit, dass sie keine Einheitsschule wollen, auf der alle gleich sind. Diese Aussage halte ich immer für ziemlich absurd. Denn es gibt ja auch Gesamtschulen, an denen die Leistung der Schüler grob pro Fach differenziert wird. Hier ist also eine viel individuellere Förderung der Stärken & Schwächen eines Schülers möglich, als im klassischen System, in dem man entweder in genug Fächern gut genug ist, um im Gymnasium durch zu kommen — oder halt nicht. Dort ist man also entweder Einheitsbrei oder Elite.”

👉 Danke an alle, die mir geschrieben haben! Eure Mails haben mir echt geholfen, mal etwas Struktur in mein Pro/Contra-Wirrwarr zu bekommen, das ich nach dem Zeit Online-Artikel von Parvin Sadigh im Kopf hatte. Letzte Woche hatte ich die Autorin übrigens fälschlicherweise als “er” bezeichnet — sorry dafür. Über neue Mails zu dem Thema freue ich mich auch weiterhin!

Woran ich gerade arbeite

Wie ich hier schon ein, zwei Mal erzählt habe, habe ich vor meinem Start bei Krautreporter Kognitionswissenschaften in Osnabrück studiert. Deshalb schießen mir auch immer wieder Fragen rund ums Gehirn in den Kopf. Zum Beispiel diese hier: Was weißt du eigentlich darüber, wie Lernen im Gehirn funktioniert? Jetzt könntest du sagen: Nix, solange alles funktioniert, bin ich zufrieden. Okay, fair enough. Ich glaube aber, dass es sich sehr lohnt, zumindest ein paar Dinge übers Gehirn zu wissen, um zu verstehen, warum wir manchmal super schnell lernen, und manchmal nicht — oder warum wir im Alter langsamer lernen. Genau davon handelt mein nächster Text.

Seht die Welt, wie sie wirklich ist

Ich habe hier schon mal die Werbetrommel für die neue Serie meiner lieben Kollegin Esther Göbel gerührt, die sich weder als Pessimistin noch als Optimistin sieht — sondern als Possibilistin. Ihr neuer Text ist wirklich eine Ansage: inhaltlich, weil er zeigt, dass wir die Klimakrise besiegen könnten, wenn wir alle zusammenarbeiten; und journalistisch, weil sie das in einem Format tut, das wir so noch nie auf der Seite hatten. Ich habe den Text für eine Woche freigeschaltet, ihr könnt ihn auch lesen, wenn ihr noch nicht Mitglied von Krautreporter seid. Und: Als Mitglied könnt ihr unsere Artikel auch für eure Freunde freischalten, einfach auf “teilen” klicken. Hier geht´s zum Text: “Wieso das Ozonloch ein Grund zur Zuversicht ist”.

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