Glücklich ist, wer vergisst

Erinnerungen an Nazi-Deutschland. Kapitel 1 von Wer war WM: Auf den Spuren eines Televisionärs: Wolfgang Menges Leben und Werk

Gundolf S. Freyermuth
5 min readApr 14, 2024
Dieses surreale Bild, erstellt mit ChatGPT, zeigt einen Mann am Strand einer Insel. Sein transparenter, glasartiger Kopf enthält einen Himmel mit Wolken, dort, wo seine Erinnerungen sein sollten. Der Mann raucht eine Pfeife, aus der sich der Rauch kräuselt und mit der Wolke in seinem Kopf vermischt.

Glücklich ist, wer vergisst

In die dichte graue Wolkendecke, über der wir eben noch flogen, hat die Sonne ein blaues Loch gerissen. Seine Ränder verlieren sich am Horizont in den Wellen der Nordsee. Ein Sylter Sommertag, gut zwei Jahre vor dem Mauerfall. Vom Flughafen rollt mein Mietwagen durch schmale saubere Straßen. Dicht an dicht stehen Häuser, eher putzig als protzig, begrenzt von niedrigen Mauern und flachen Garagen. Das leicht hügelige Land wird unbebauter und karger. Die grün-weiß gefleckten Dünen bröckeln zur Küste hin ab. Nicht weit von ihnen findet sich, am Ende eines von Hecken zugewachsenen Privatwegs, der rote Klinkerbau Üp de Hiir 33.

Die Einfahrt versetzt in eine andere, unordentlichere Welt. Am Vordereingang stapeln sich Plastikbeutel mit leeren Flaschen. Die Tür, die von der Steinterrasse ins Haus führt, steht offen. Davor herrscht Chaos: rote und blaue Slipper, ein halbes Dutzend aufgeschlagene Zeitungen und Zeitschriften, zwei Quelle-Kataloge, wahllos verteilt über ebenso wahllos platzierte Liegen und Stühlen.

Ich steige aus und schaue mich um. Aus dem Inneren des Hauses dringen Jazzklänge und wühlend-klappernde Geräusche, die darauf hindeuten, dass jemand etwas sucht. Eine Hängematte schaukelt im Wind. Auf den Steinplatten vor ihr stehen ein roter Kaffeebecher sowie ein Metallbräter mit den Resten eines Muschelgerichts. Daneben ein Plastikeimer mit ausgelutschten Schalen, weiter hinten eine umgefallene Farbsprühdose, eine Spielzeugpuppe mit verdrehten Gliedern, eine zerbrochene Fliegenklatsche …

„Sylt ist seltsam.“

„Tja“, sagt eine kratzende Stimme in meinem Rücken. Und nichtssagend, wie diese Äußerung ist, klingt sie doch ironisch.

Wolfgang steht in der Terrassentür. Er ist etwas über einen Meter achtzig groß, dünn bis dürr, und steckt in einer Art Partisanenkluft: ein verwaschenes grünes Jeanshemd und viel zu weite Hosen von einer farblosen Farbe. Die karmesinroten Hosenträger baumeln funktionslos links und rechts bis zu den Knien. Vor drei Monaten ist er 63 Jahre alt geworden. Sein glatter Schädel freilich wirkt so haarlos-kahl wie neugeboren. Die Augen darunter liegen, von Brauen fast ungeschützt, hinter den dünnen Gläsern einer Nickelbrille. In der Mitte seiner Lippen hängt eine Dunhill-Pfeife, abgeknickt wie ein lebloser Ast. Die Mundwinkel links und rechts davon hat er zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Seine Augen scheinen meinem Blick über die Mittelstands-Müllkippe gefolgt zu sein.

„Ich hab’ mich extra für dich angezogen“, sagt er und zeigt auf den Klingelkasten einer Laserlichtschranke an der Einfahrt, die in der Abgeschiedenheit vor Besuchern warnt. „Ich habe hier nämlich nackt gelegen, es ist heute so warm …“

„Ja“, stimme ich zu, „heute ist es fast südlich … “

„Ich bin kein Freund des Südens“, unterbricht er mich. „Ich bin noch nicht mal im Süden von Sylt gewesen, ich habe das Gefühl, da sind schon Schwarze.”

Er wirft einen misstrauischen Blick auf mein ohnehin dunkelhäutiges und zudem nach einem Griechenlandurlaub tiefbraungebranntes Gesicht.

„Sylt ist seltsam. In keinem anderen mondänen Badeort auf der Welt gibt es nur Inländer. Hier triffst du höchstens mal zwei Italiener und einen Schweizer, sonst alles Deutsche.“

Sein Tonfall wie seine Miene lassen allerdings Zweifel daran, wie erstrebenswert er diesen inzuchtartigen Umstand findet.

„Ich koche mal Tee“, sagt er und verschwindet wieder im Haus.

„Ich erinnere mich an nichts!“

Wir sind für ein ausführliches biographisches Interview verabredet. Das Magazin stern verlangt ein Porträt, eine möglichst drastische Darstellung der „Menge-Saga“ — jener Mischung aus Geist und Geiz, Gier und aufrechtem Gang, für die der TV-Autor und Talkmaster ebenso berühmt wie berüchtigt ist. Außerdem recherchiere ich eine mehrteilige Reportage über das deutsche Hollywood-Exil der 1930er Jahre und die Konsequenzen für Film und Fernsehen in der Nachkriegs-Bundesrepublik. Natürlich ist die geplante Serie Teil eines langfristigen journalistischen Wiedergutmachungsprogramms des stern.

Wolfgang trägt zwei Tassen heraus, über deren Ränder die Fäden und Labels von Teebeuteln hängen. Er stellt sie auf den Tisch und schaut ungeduldig.

„So!“

Er ist nicht nur fast doppelt so alt wie ich, er hat mir auch Jahrzehnte Interviewpraxis voraus. Ich erspare mir tastende Präliminarien.

„Du bist Jahrgang 1924 und hast das Dritte Reich als Jugendlicher miterlebt. Wie war das, als …“

„Ich erinnere mich an nichts!“ Seltsam erregt springt er auf. „Ich sage das nicht, um zu bocken …“

Immer noch barfuß, läuft er die Steinplatten auf und ab.

Wir schweigen, und die Stille klingt nicht sehr überzeugend.

„Sieh’ mal“, sagt er schließlich und baut sich vor mir auf: „Ich halte Leute für unseriös, die behaupten, sie könnten sich an ihre Kindheit und Jugend erinnern. Ich habe oft darüber nachgedacht, zum Beispiel wollte ich mal wissen, wie ein Zeitungskiosk ausgesehen hat damals. Ich erinnere mich nicht mal mehr, wo einer gestanden hat. Keine Ahnung auch, ob bei uns zuhause überhaupt eine Zeitung war. Das ist weg, alles weg.“

Er beginnt umständlich in seine Hängematte zu klettern. Sie schwingt widerspenstig.

„Peruanisch“, sagt er, als erkläre das seine Schwierigkeiten. Endlich findet sein langer dünner Körper die richtige Lage, entspannt sich.

Erinnerungen müssen erarbeitet werden

„Ich versuche mir häufig vorzustellen, wie war ich eigentlich? Was habe ich gemacht, was hat man abends um Himmels willen gemacht?“ Wolfgang seufzt. „Einmal habe ich mit Manès Sperber darüber gesprochen …“

Der österreichisch-französische Schriftsteller, zwei Jahrzehnte älter als Wolfgang und 1984 gestorben, arbeitete in den 1920er Jahren in Berlin und musste 1933 als Jude und Kommunist vor den Nazis aus Deutschland fliehen. Er überlebte in Österreich und Jugoslawien, dann Frankreich. Als die deutsche Wehrmacht auch dort einmarschierte, rettete er sich in die Schweiz. Nach dem Krieg reflektierte er in einer Reihe autobiographischer Werke die politischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Sein Hauptwerk, die Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean (1949–1955), schildert das Schicksal einer Gruppe jüdischer Künstler und Intellektueller zwischen dem Verrat durch die kommunistische Partei und dem deutschen Antisemitismus, der in den Holocaust mündete. Später erzählte Sperber dann in seiner Autobiographie All das Vergangene (1974–1977) von seiner Kindheit und Jugend in Galizien und Wien bis hin zu seinem politischen Erwachen, der Begeisterung für Zionismus und Kommunismus, schließlich der Konfrontation mit den Verbrechen des Stalinismus in den 1930er Jahren. Wolfgang interviewte Sperber als Gast in seiner Talkshow.

„Ich sagte ihm: ‚Ich glaube Ihnen Ihre Erinnerungen nicht!‘ Sperber hat geantwortet, er habe in der Tat nichts mehr gewusst. Bis ihm durch irgendein Foto etwas eingefallen sei, und erst in dem Moment, da er anfing, das Wenige aufzuschreiben, das er wusste, sei alles andere nachgekommen.“

„Erinnerungen müssen erarbeitet werden?“

„Ja, aber an einer Autobiographie habe ich mich noch nicht versucht. Das habe ich auch nicht vor.“

Die Sonne senkt sich allmählich. Im abendlichen Licht zeigen sich auf Wolfgangs kahlem Schädel kreisrunde Ansätze zu einem nach oben und hinten verrutschten Drei-Tage-Bart.

„Jedenfalls, da möchte ich nicht drin herumwühlen, da habe ich eine Sperre …“

Er schweigt.

Nach einer Weile klingelt im Haus das Telefon.

Wolfgang atmet durch. Er schwingt sich aus der Hängematte. Erleichtert.

***

Vorheriges Kapitel:
Einleitung:
Wer war WM?

Nächstes Kapitel:
2 Blut an den Händen — Männer dieser Generation

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

Chapter 1 “Happy Is the One Who Forgets — Memories of Nazi-Germany”

Buchcover: Wolfgang Menge sitzt an einer Bartheke, ca. 1990

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German