Vom deutschen Adler zum britischen MG

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt WM 1952 mit seiner Freundin in der Bundeshauptstadt Bonn. Sie stehen vor dem Vorkriegs-Gebrauchtwagen der Firma Adler, den WM gerade von einem Freund erworben hat und der bereits nach wenigen Kilometern liegengeblieben ist.

Der Bonner Schrott-Adler

Seit WM die wöchentliche Kabarett-Serie Adrian und Alexander schreibt, zusätzlich zu seiner regulären Tätigkeit als NWDR-Redakteur, verdient er genug, um sich ein Auto leisten zu können. Wenn auch noch nicht den britischen Sportwagen, der sein Traum ist. Vorerst muss er mit Gebrauchtem vorliebnehmen. Im Juni 1952 reisen WM und seine damalige Freundin nach Bonn. Sie spricht am dortigen Theater vor. WM besucht einen guten Freund. Nicht zuletzt, um dessen Auto günstig zu erwerben.

Claus Jacobi ist politischer Korrespondent des Spiegel in der bundesdeutschen Hauptstadt. Zehn Jahre später wird er Chefredakteur sein und während der „Spiegel-Affäre“ — realiter eine Affäre des Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß — verhaftet werden; zusammen mit Verleger Rudolf Augstein und dem stell­vertretenden Chefredakteur Conrad Ahlers, einem weiteren Freund WMs.

Als WM die Jacobis über Pfingsten 1952 besucht, erwarten sie ihr erstes Kind. Der Wagen, den WM von seinem Freund erwirbt, ist ein Vorkriegsfahrzeug der Firma Adler. Das Auto schafft es nicht einmal von den Jacobis bis zu WMs Bonner Hotel. Nach dieser ersten Reparatur gerät die Heimfahrt nach Hamburg vollends zum Horrortrip. WM schreibt seine Erlebnisse auf. Freilich adressiert er den Brief — eine meisterliche Vignette, datiert auf Freitag, den 13. — nicht an seinen Freund, sondern an dessen ungeborenes Kind.

WM beschwert sich — bei einem Embryo

„Mein liebes Embryo Jacobi, ich muss Dir einiges von Deinen Eltern berichten, das für Dein künftiges Leben doch von einiger Wichtigkeit sein dürfte.“ Bevor WM zur Sache kommt, erklärt er sich: „Entschuldige bitte den furchtbaren Stil, der Dir sicherlich Sorgen machen wird. Aber Dein Vater würde mich, schrieb ich anders, als Spiegel-Redakteur nicht verstehen.“

Die Leidensgeschichte beginnt, indem WM andeutet, dass der gebrauchte Adler am fraglichen Vormittag nicht im besten Zustand übergeben wurde:

„Am Nachmittag riss mir ein lächerliches Metallband an der Lichtmaschine und die Flügel derselben selbstverständlich den Kühler entzwei. Der einzige Trost war, dass der Kühler schon vorher kaputt schien, denn anscheinend war es nicht das erste Mal, dass die Flügel der Lichtmaschine in den Kühler schlugen.“

Nach der notwendigen Reparatur machen sich WM und Freundin auf die Rückreise.

„Am Dienstagabend endlich gegen sieben Uhr konnte ich den Staub Bonns von den Reifen des Adlers schütteln. Aber auch das hätte ich wohl nicht tun sollen, denn dieser war fast noch das einzige, das auf den Reifen war. Auch über die Fahrt bis zu einem Punkte, den ich gleich näher beschreiben werde, möchte ich schweigen. Der Adler fuhr zwar brav und schnell. Vor das eine Fenster hängten wir einen Trenchcoat, das andere Fenster blieb merkwürdigerweise heil. Ich hatte lediglich das Licht noch repariert, denn ich hätte ebenso gut mit einer Taschenlampe fahren können oder mit einem Feuerzweig, wie mit diesem was sich nennen Scheinwerfer. — Alors, gegen Mitternacht trafen wir kurz vor Münster ein, wo wiederum durch unerhörtes Vibrieren des Motors, hervorgerufen durch ein zollbreites, dickes Bandeisen, die Flügel in den Kühler schlugen und die Lichtmaschine locker zwischen den Kolben hin und her sprang. Das mag für die Lichtmaschine wohl sehr angenehm gewesen sein, die nun nicht mehr gefesselt war, für mich als den Besitzer und Fahrer des Autos war es das nicht.“

Der Zustand des gerade erworbenen Wagens ist jenseits sinnvoller Reparaturen. WM bleibt keine Wahl, schreibt er, als „Euren ehemaligen Adler in den Himmel zu schicken“. Für die Weiterfahrt erwirbt er einen ,neuen‘ Gebrauchtwagen.

Fiat iustitia, et pereat mundus

„Es handelte sich im einen Fiat Balilla, der bei Nacht auch sehr viel besser aussieht als am Tage, es sei denn, man beleuchtet ihn. Mein angebeteter Engel lief, als sie von meinem Kauf hörte, weinend in die dunkle Nacht und hielt mich unter anderem für einen Verrückten und einen Verbrecher. ‚Ich glaube, Du bist ein Gangster‘, sagte sie mir wörtlich, nur weil ich die 50 Mark Anzahlung von ihr haben wollte. — Ja, jetzt komm ich dazu, zu sagen, warum ich gerade Dir, liebes Embryo, schreibe, es ist nämlich Folgendes. Kannst Du nicht bei Deinen Eltern ein gutes Wort für mich einlegen, dass ich diesen Monat noch nicht bezahle, weil ich sonst leider in die Alster springen muss, wegen der nichtvorhandenen Brötchen, die ich zur Ernährung doch eigentlich bräuchte?“

Nach dem Absturz des Adlers ist WM nun Besitzer eines Fiats, Baujahr unbekannt. Doch stellte Fiat seine Balillas nur zwischen 1932 und 1937 her. Höchstgeschwindigkeit 80 km/h. Von der Hässlichkeit des Wagens ganz zu schweigen. WM träumt weiter von der großen Auto-Liebe, die er 1951 in Frankfurt erblickte. Und arbeitet — beim NWDR und anderswo — so viel er kann. Später wird er sagen:

„Schuld daran, dass ich überhaupt Karriere gemacht habe, war ein Auto.“

Im Januar 1953 tritt er aus der Kirche aus. Man spart, wo man kann. Denn im April wird es ernst: Da findet die internationale Automobilausstellung zum zweiten Mal statt. WM fährt nach Frankfurt und steht wieder vor dem Sportwagen seiner Träume: einem MG TD.

„Der war so schön, mit Speichenrädern, freien Scheinwerfern und einem Faltdach — ach, mehr oder weniger war alles zum Falten, da war der Motor vom Scheibenwischer ein Extra, der war eigentlich mit Handbetrieb!“

Seine Höchstgeschwindigkeit beträgt 130 km/h. Auch Porsche fahren damals kaum schneller. Zudem ist die Zahnradlenkung des MG, schreiben die Kritiker, straff und präzise und vermittelt ein sportliches Fahrerlebnis.

Am 25. April tut WM das Unvernünftige: Er erwirbt seinen ersten Neuwagen. Laut Kaufvertrag ein „MG TD Midget 2-Sitzer, Sportwagen, Farbe: red/red, Model 1953, P.S. 54.4, Linkssteuerung“ zum Preis von 8968.50 DM. Zuzüglich 40 DM „Dockgebühren“, die bei der Einfuhr in Hamburg fällig werden. 9000 Mark. Das ist viel Geld. Bundesdeutsche verdienen im Schnitt etwas über 300 DM pro Monat damals. Brutto.

Im MG, endlich

„Da musste ich eben noch ein bisschen mehr schreiben als vorher“, sagt Wolfgang, ein gutes halbes Jahrhundert später, an einem weiteren Nachmittag in der Berliner Klopstockstraße. Es ist Frühjahr 2007. Ich bin inzwischen Professor an einer Filmschule und gekommen, um mit ihm über die Kinodrehbücher zu sprechen, die er in den 1960er Jahren geschrieben hat. Doch Wolfgang schwirrt anderes durch den Kopf. Am Vormittag hat ihn ein Reporter besucht und für den MG Kurier interviewt. Die Schwarzweiß-Fotos, die er für seinen Besucher herausgesucht hat, liegen noch auf dem Couchtisch.

Eins zeigt den roten MG — grau wie alles — auf einer kopfsteingepflasterten Hamburger Straße. Die Bäume sind kahl. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig schiebt eine Frau einen Kinderwagen. Sie trägt einen langen Wintermantel. Die Atmosphäre ist regnerisch-kühl. Das Verdeck des Sportwagens ist dennoch zurückgeklappt. WM sitzt am Steuer. Seinen Kopf bedeckt eine Tweed-Schiebermütze, in Großbritannien auch „driving cap“ genannt. Um den Hals hat er einen hellen Schal geschlungen. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckt seine Augen. Er wirkt zufrieden.

„Den MG hätte ich nie verkaufen sollen“, sagt Wolfgang. „Aber ich hatte keine Wahl, damals in Japan.“

Als der Bericht in der Oktoberausgabe des MG Kurier erscheint, trägt er den Titel „The Tokyo Connection“. Das Aufmacherfoto zeigt WMs MG Mitte der 1950er Jahre in der japanischen Hauptstadt. Er parkt gegenüber der Bahnhaltestelle Shibuya-Ku, unter einem Gewirr von Elektro- und Telefonleitungen. Das Verdeck ist geschlossen. An der Rückseite des Wagens prangt ohne Abdeckung der Reservereifen. Irgendwie abenteuerlich.

„Seit damals hat Menge viele Wagen gefahren“, endet der Artikel, „er schätzt über 50, darunter Jaguars, Mercedes Benz und viele andere. Aber der MG TD ist das einzige Auto, das ihm immer noch ein glückliches Lächeln auf die Lippen zaubert, wenn er an ihn denkt.“

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Vorheriges Kapitel:
12 Endlich Kabarett

Nächstes Kapitel:
14 Auf dem Boulevard
(Link folgt am 14. Juli)

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German