Das Dao als Prinzip und als Fiktion

Jörg Ossenkopp
8 min readFeb 8, 2023

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Der Flügel des Vogel Peng, von Ryūkansai aus dem Kyōka Hyaku Monogatari (1853)

Die Anfänge der chinesischen Philosophie finden sich nicht nur in dem Laozi zugeschriebenen Daode jing, sondern zudem in einem weiteren daoistischen Text. Von Laozi selbst gilt wenig als historisch gesichert. Der Legende nach soll er der Lehrer des Konfuzius gewesen sein. Jener weitere daoistische Text neben dem Daode jing wird das Zhuangzi genannt.

Das Verhältnis von Zhuangzi und Daode jing

Im Zhuangzi ist bereits ein textuelles und personales Netzwerk der chinesischen Philosophie auszumachen. Dabei lässt sich textgeschichtlich noch nicht einmal erweisen, dass das stilistisch und intertextuell einfacher komponierte Daode jing früher datiert werden muss als das Zhuangzi. Sowohl der Name des zweiten Textes als auch der Name des Autoren lautet Zhuangzi, Meister Zhuang auf Deutsch. Die Lebenszeit des Laozi wird bei aller historiographischen Vorsicht auf das 6. Jhd. v.Chr. angesetzt, etwa 200 Jahre vor Zhuangzis Lebenszeit. Die Textgeschichten sowohl des Daode jing als auch des Zhuangzi sind jedoch derart verwickelt, dass eine klare Vorläuferschaft des Daode jing nicht als eindeutig erwiesen gelten kann. Als sicher gilt nur, dass das Zhuangzi in drei Teile aufzuteilen ist, in die Inneren Kapitel, die Äußeren Kapitel und die Vermischten Kapitel sowie dass die sieben Inneren Kapitel wohl von Meister Zhuang selbst stammen.

Fiktive und historische Dialogpartner

Obwohl das Zhuangzi als einer der beiden zentralen Texte des Daoismus gilt, taucht nicht nur Laozi (als Lao Dan) in ihm als dialogischer Protagonist auf, sondern auch Konfuzius (manchmal als Qui). Und neben den beiden kommen viele fiktive und mythische Gestalten zu Wort: Kaiser Yao, einer der fünf Urkaiser, sein Nachfolger Shun, der Einsiedler Xu You, der verrückte Weise Jie You, der auch in den Schriften des Konfuzius auftaucht, doch wohl eine fiktive Gestalt ist, sogar „Schatten“ und „Halbschatten“ sprechen direkt. Und genauso nehmen weitere historische Gestalten die dialogische Sprecherposition ein, der Logiker Huizi zum Beispiel, wohl ein Freund des Zhuangzi. Ein vielstimmiger philosophischer Text also, der Fiktives und Historisches vermischt.

Huizi (links) und Zhuangzi (rechts) in der Debatte über die Freude der Fische (Quelle)

Fiktive Intertextualität

Neben der charakteristischen vielstimmigen dialogischen Struktur, die sich auf mythische und fiktive Figuren bezieht genauso wie auf historische findet sich auch eine charakteristische intertextuelle Struktur. Sehr ungewöhnlich zum Beispiel ist die Verwendung von Zitaten aus fiktiven Werken. Gleich im ersten Kapitel des Zhuangzi wird der mythische Riesenvogel Peng eingeführt, der aus dem Riesenfisch Kun entsteht, Zhuangzi schreibt,

„und niemand weiß, wie viele Li (Meilen) er lang ist“ (S.11, Reclam-Ausgabe),

nur um etwas später das fiktive Werk „Fragen von [König] Tang an [Minister] Ji“ (S.13) anzuführen, worin ausgeführt wird, der Fisch Kun sei „mehrere tausend Li“ lang; vorher war bereits eine zweite Quelle angeführt und zitiert, die „Fabeln von Qi“, genauso fiktiv. Also zwei fiktive Quellen, bevor sich Zhuangzi überhaupt auf das Daode jing bezieht. Mehr noch, in diesem zweiten wichtigen frühen Werk des Daoismus kommt das Wort dao, 道 bis zur Mitte des zweiten Kapitels nicht vor. Und das wäre die Grundhypothese: auch das Zhuangzi versucht, das Dao seinen Lesern näher zu bringen.

Das Dao wird verborgen durch Eindeutigkeit und deren Gegenteil

Das erste Vorkommnis von dao im Zhuangzi ist eine Frage:

„Wo ist das Dao verborgen, wenn es um »Wahrhaftigkeit« und »Heuchelei« geht?“ (S.24)

Im Daode jing ist das Dao als unzugänglich charakterisiert, aufgrund des Begehrens der Benennung verbirgt sich das Dao vor den Sprechenden und den qua Sprache Begehrenden. Genauso Wahrhaftigkeit und Heuchelei, beide sind menschengemacht; im Zhuangzi verbirgt sich das Dao nicht nur durch das Begehren der Benennung, sondern auch im Zusammenhang mit Wahrhaftigkeit und Heuchelei. Anders ausgedrückt: sowohl der Versuch, wahrhaft, eindeutig und direkt über das Dao zu reden als auch das Gegenteil, die doppelbödige oder heuchelnde Rede, beide verbergen das Dao.

Und wie im Daode jing findet sich zudem hier im zweiten Text des Daoismus ein Wirkungszusammenhang mit der Sprache, gleich die nächsten beiden Sätze sind weitere Fragen:

„Was verbergen die Worte, wenn es um »wahr« und »falsch« geht? Kann das Dao verschwinden und aufhören zu existieren?“ (S.24)

Kritik der elitären Sprache

Im Zhuangzi finden wir eine Kritik der elitären Sprache, die das Dao verbirgt, sowie des elitären Wissens, das den Zugang zum Dao verhindert. Und das Zhuangzi exemplifiziert eine nicht-elitäre Herangehensweise, die wir bereits im ersten Kapitel und in der Heranführung an das Dao am Werk sehen.

Heranführung an das Dao durch Fiktion

Wie führt das Zhuangzi also an die Thematisierung des Dao heran? Wie geht das, ohne dass das Dao aus den angeführten Gründen unzugänglich wird? Zunächst durch eine fantastische Eröffnung in einer ganz großen Perspektive. Das erste Szenario, das Zhuangzi vorführt, wird beherrscht durch den riesengroßen Fisch Kun im (fiktiven) Nordmeer, der sich fiktiverweise in den riesengroßen Vogel Peng verwandelt, der alle Landstriche von Norden nach Süden überfliegt. Das ist zunächst eine überdimensionale, fantastische Geste, die alle Leser im Kleinen einschließt, eine Inklusion durch Größe. Alle Leser können sich fragen: wie wäre das denn, wenn dieser Vogel auch über mich herüber fliegen würde? Oder gar: was würde ich sehen, wenn ich die Erde von oben anschauen könnte, die Vogelperspektive einnehmen könnte? Zuerst jedoch sicherlich: das gibt es doch gar nicht, oder? Und sodann wird dieses Motiv weiter ausgeführt, indem wie gesagt fiktive Werke zitiert werden, in denen noch kleinere Wesen als Menschen zu Wort kommen: Zikaden, Tauben und Spatzen, die über den Vogel Peng lachen und den Sinn seines Handelns in Frage stellen. Der Leser und die Leserin erfasst, dass die kleinen Lebewesen nicht sehen können, wie klein ihr Lebens- und Erkenntnishorizont ist, und kann somit nachvollziehen, wie genauso er oder sie selbst im Vergleich mit dem fiktiven Vogel Peng einer Einschränkung ihrer Lebens- und Erkenntnisperspektive unterliegen könnte. Andererseits scheint das Lachen der Kleinen auch durchaus legitim zu sein. Diesen Perspektivismus kommentiert das Zhuangzi mit:

„Das ist der Unterschied zwischen klein und groß.“ (S.13)

Sodann wird im nächsten Schritt im Zhuangzi eine Rangfolge von daoistischen Weisen eröffnet. Der rein körperliche, fantastische unauflösliche Gegensatz zwischen dem Riesenvogel Peng und den Sperlingen wird ausdifferenziert in eine erklimmbare Rangfolge von Perspektiven, die wieder fiktiv durch die zunehmenden Fähigkeiten der Weisen illustriert wird. Die dritte Stufe ist die höchste, die man einnehmen kann, mit den weitestgehenden Fähigkeiten und dem größten Maß an Autarkie:

  1. Meister Songrong, der Inneres und Äußeres von einander unterscheiden konnte und innerlich autark war, der nicht betrübt ward, wenn man ihn von Außen als defizitär ansah, der jedoch nicht in der Lage war, sich an den richtigen Platz im Außen, in der Welt zu stellen.
  2. Meister Lie, der den Wind reiten konnte, nicht mehr dem Glück nachjagte und sich ohne Anstrengung fortbewegen und somit seinen Platz in der Welt sich frei wählen konnte, der dennoch immer noch vom Wind abhängig war.
  3. Der Weise, der „die Gesetze von Himmel und Erde [vor seinen Wagen] zu spannen und die Wandlungsphasen der sechs Lebensgeister zu lenken versteht, um im Grenzenlosen umherzustreifen“ (S.14), der ist unabhängig, weil er vollkommen der Natur folgt, und der hat damit die höchste Stufe des Weisen erreicht.

Die Rangfolge der Weisen wird eingeleitet mit einer Vorstufe, die noch nicht den Rang eines Weisen erreicht:

„Wer das Wissen hat, um ein Amt auszuüben, wer mit seinem Verhalten Vorbild für ein Dorf ist, wer die Wirkkraft eines Edelmannes besitzt, wer die Fähigkeit hat, berufen zu werden vom Staat — der betrachtet sich genauso ​selbstbezogen wie der kleine Sperling“ (S.13f.)

Ein Warnung also, den Perspektivismus der Größe richtig einzuschätzen.

Urkaiser Yao (Quelle)

Ablehnung elitärer Herrschaftsverhältnisse

Das Zhuangzi lehnt in der folgenden Szenerie Herrschaftsverhältnisse ohne Rückbezug auf das Dao recht unumwunden ab. In Person des Einsiedlers Xu You, der dem Urkaiser Yao die Bitte ablehnt, ihn in der Herrschaft abzulösen, mit den Worten:

„Für mich ist es nutzlos, den Staat zu regieren. Selbst wenn ein Koch die Küche nicht in Ordnung hält, überlässt er dem Totenpriester die Kelche und Opfergefäße nicht und lässt ihn nicht an seine Stelle treten.“ (S.15)

Die Ordnung der Weisheit ist nicht eine der Selbstüberhöhung oder der Erlesenheit der Eliten, sondern eine der Loslösung vom Selbst und damit für das Zhuangzi eine höhere Ordnung.

Das Zhuangzi in einer Selbstbeschreibung

Später, im letzten Kapitel, betitelt 天下, tian xia, Unterm Himmel, findet sich eine Selbstbeschreibung des Zhuangzi:

„Zhuangzi bekam Wind [vom Dao der Altvorderen] und erfreute sich daran. Widersinnig und zögerlich sprach er davon, gebrauchte ungehobelte und übertreibende Wörter, endlos bemüht, sich von feststehenden Ideen zu verabschieden, manchmal überschritt er Grenzen und ließ sich gehen, aber er war nicht unbeherrscht und betrachtete nichts voreingenommen. Er glaubte, die Welt sei in Chaos versunken, niemand sei imstande, seiner Rede zu folgen; er benutzte Trinksprüche, um seine Gedanken entzückend auszubreiten; er benutzte Zitate, um Wahrheiten zu verkünden; er benutzte Gleichnisse, um Fernliegendes zu veranschaulichen. Er allein war verbunden mit dem Kommen und Gehen des reinen Lebensgeists von Himmel und Erde, und wenn er umherstreifte, blickte er nicht auf die zahllosen Lebewesen herab, beurteilte nicht, was richtig oder falsch sei, sondern war verbunden mit den Lebensgewohnheiten der Leute.“ (S.391)

In dieser Selbstbeschreibung zum Schluss des Zhuangzi finden wir vieles wieder, was sich bereits in den ersten beiden Kapiteln findet:

  1. Wenn Sperlinge, Zikaden und Tauben reden, ist das fiktiv, widersinnig und legt nahe, dass ein Gleichnis vorliegt
  2. Die Verwandlung des Fisches Kun in den Vogel Peng ist erneut Gleichnis, und vielleicht fiktiv übertreibend
  3. Das Überschreiten der Grenzen findet sich wieder in der dritten und höchsten Stufe der Weisen, die „im Grenzenlosen“ umherstreifen
  4. Er benutzt nicht nur gesicherte Zitate z.B. aus dem Daode jing, sondern auch fiktive Zitate, wiederum als Gleichnis fungierend
  5. Der Rahmen, in dem Zhuangzi sich bewegt, ist nicht der der Herrschaft oder der Familie, sondern die Lebenskraft (精) von Himmel und Erde
  6. Die Verbundenheit mit den „Lebensgewohnheiten der Leute“ ist eine Konsequenz des Anti-Elitismus des Zhuangzi, denn die Leute lieben Geschichten

Somit gilt für das Zhuangzi beides:

„Für diejenigen, die nach den Wurzeln suchen, ist er herausragend, groß und umfassend, tief, weitgehend und durchdringend“ (S.391)

einerseits genauso wie andererseits

„seinen Leitlinien zu folgen, kostet keine Mühe“ (S.392).

Die Zugänglichkeit des Dao im Zhuangzi

Selbst wenn Zhuangzi mit Verschlüsselung und Gleichnissen arbeitet, so braucht man dennoch kein überkomplexes, esoterisches oder elitäres Wissen, um ihn und seinen Zugang zum Dao zu verstehen und ihm folgen zu können. Gleichnisse gehören zum Kreis jener Redeweisen, die nicht eindeutig sind. Wenn man Gleichnisse nur nach dem auffasst, was sie wortwörtlich direkt besagen, missversteht man sie. Gleichnisse sind also vielleicht doppelbödige Rede, doch sie sind zunächst nicht heuchlerisch. Das Zhuangzi gehört also nicht zu den vollkommen verrätselten Texten, sondern kann gleichzeitig in vielen verschiedenen Weisen und recht geradeheraus interpretiert werden, solange man nicht aus den Augen verliert, dass es ein Begleiter ist, „für diejenigen, die nach den Wurzeln suchen“.

Das Dao als Prinzip und als Fiktion im Zhuangzi

Zhuangzi setzt Fiktion ein auf allen Ebenen seiner Vorgehensweise. Das Dao wird unzugänglich sowohl wenn man versucht, es in direkter Weise sprachlich anzugehen als auch wenn man es ohne weitere Qualifizierung einzig und allein doppelbödig versucht. Eine unter vielen möglichen Übersetzungen von dao ins Deutsche lautet Prinzip. Wie so oft ist das keine eindeutige Übersetzung und vielfach noch nicht einmal eine gelungene. Zudem gibt es noch einige andere Charaktere im Chinesischen, die mit Prinzip übersetzt werden können. Das Dao ist wirkmächtig, hat einen generativen Aspekt, der Naturprozess entspringt aus ihm. Das Dao hat einen epistemischen Aspekt, ermöglicht es, sich dem Naturprozess anzugleichen und nur so kann man ihn richtig erfassen. Für das Zhuangzi ist die beste Herangehensweise an das Dao die spezifische Fiktionalität, die es exemplifiziert. In dieser Annäherung fällt das Dao als Prinzip mit Fiktion zusammen.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership