Die Unzugänglichkeit des Dao

Eine Interpretation des ersten Kapitels des Daode jing

Jörg Ossenkopp
4 min readJan 10, 2023
門 the single red wooden Chinese gateway in the low wooden wall opening and showing the mysterious small path into the landscape behind it matte painting 4k, by Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Ein chinesisches Wort kann als Substantiv, Verb oder Adjektiv verwendet werden. Das chinesische Wort 道, dao, kann somit Weg, Weg-handeln oder Weg-haft bedeuten. Diese Vielfalt an Bedeutungen spielt in der chinesischen Philosophie eine Rolle von Anfang an, denn sogleich der erste Satz des Daode jing spielt mit dieser vielfältigen Bedeutung und ist deshalb schwer übersetzbar:

道可道,非常道, dao ke dao fei chang dao

Das Wort ke (可) ist ein Indikator, dass das zweite dao tatsächlich als ein Verb aufgefasst werden muss, ein Modalverb das Möglich-sein anzeigt. Man kann also übersetzen: Ein Dao, das ohne weiteres zugänglich ist, ist nicht das eigentliche Dao. Günther Debon traf es in seiner Übersetzung von 1979 sehr gut:

Könnten wir weisen den Weg
Es wäre kein ewiger Weg. (S.7 in der Reclam-Ausgabe)

Die Übersetzung mit „weisen“ ist eine gute Übersetzung, weil dadurch die doppelte Konnotation von sprechen und gehen mit getragen wird. Das Sprachliche als Kontext wird nachgeliefert durch die nächsten Wörter:

名可名,非常名, ming ke ming fei chang ming

Der Name, ming (名), der ohne weiteres zugänglich ist, ist nicht der eigentliche Name, oder:

Könnten wir nennen den Namen, Es wäre kein ewiger Name. (ebd.)

Für eine reibungslos funktionierende Sprache sind Namen und Benennungen unerläßlich. Alle eigentlichen, konstanten (chang, 常) Namen entziehen sich jedoch laut Daode jing dem Zugang. Die Namen, die im Alltag im Gebrauch sind, funktionieren zwar, sind dabei jedoch keine verlässlichen Referenzen, weil sie steten Veränderungen unterworfen sind. Dao ist ein Name für einen Weg, doch das Dao ist weder für das Begehen noch für eine sprachliche Beschreibung ohne weiteres zugänglich. Das Dao wird im ersten Satz des Daode jing vorgestellt als etwas, das sich einem alltäglichen Zugang entzieht. Dieses Sich-Entziehen ist eine Gegenbewegung zu jenem Erschließen, das der Name für das Dao bewirkt, der eben einen Zugang erschließt, auch einen alltäglichen Zugang. Denn der alltägliche Zugang unterliegt dem Daode jing zufolge einem notwendigen Missverstehen. Wenn man dagegen die Bewegung des Sich-Entziehens geschehen lässt, wenn man die simple und einfach referentiell verstandene Benennung unterlässt, erschließt sich der Anfang, shi (始), von allem:

Was ohne Namen, Ist Anfang von Himmel und Erde (ebd.).

Andernfalls entsteht durch die Namen und die Benennung die Ausdifferenzierung in die dinghafte Welt der fixierten Zustände, wan wu (萬物):

Was Namen hat, Ist Mutter den zehntausend Wesen. (ebd.)

Die Benennung steht in einem Verhältnis zum Begehren, yu (欲), das Benennen resultiert aus einem Begehren, die Dinge zu benennen. Ohne dieses Begehren erfasst man das Subtile, miao (妙), doch mit dem Begehren dringt man nicht zu diesem subtilen Kern vor. Mit dem Begehren trägt man dazu bei, dass sich die Vielfalt der dinglichen Welt auffächert. Die Kombination von Namen einerseits und andererseits dem subtilen Kern wird xuan xuan (玄) genannt, Debon übersetzt das mit „mystisch“ und miao mit „Geheimnis“ :

Diese beiden sind eins und gleich.
Hervorgetreten, sind ihre Namen verschieden.
Ihre Vereinung nennen wir mystisch.
Mystisch und abermals mystisch:
Die Pforte zu jedwedem Geheimnis. (ebd.)

Das sind die letzten Worte des ersten Kapitels des Daode jing, das die Pforte, men (門), zum Gesamttext darstellt. Vor der Pforte ist man im Alltag, dem Begehren der Benennung unterworfen, das die Dinge in der Welt produziert. Hinter der Pforte liegt das Geheimnis oder das Subtile, miao, das im ausdifferenzierten Verhältnis von der Benennung, dao, zum sich stets entziehenden Dao besteht, das zugänglich wird, wenn man sich vom alltäglichen Begehren löst.

Zusammengefasst ist hier eine spezifische Sprachskepsis zu erkennen, was das Dao angeht. Eine extreme Sprachskepsis müsste konsequenterweise dazu führen, dass jegliche das Dao anbelangende sprachliche Unternehmung unterlassen werden würde. Beim Dao, das, wenn es nicht benannt wird, der Anfang von Himmel und Erde ist, darf man die Herangehensweise qua Referenz nicht übertreiben, ein nicht-referentielles Sprechen ist hier gefragt. Ein Beispiel für nicht-referentielles Sprechen wäre die Paradoxie, das paradoxale Sprechen. Ein weiteres Beispiel ist das fiktionale Erzählen, das ein Reden ist, das auf eine eindeutige Referenz verzichtet und sich auf die eigene Ausdrucksform konzentriert sowie auf die Publikumswirkung. Das Daode jing selbst ist in der Tat sehr stark konzentriert auf die eigene Ausdrucksform, mit den Wiederholungen und Rhythmen eines gereimten Gedichts im klassischen Chinesisch. Auch wenn Peter Brooks meint, Lyrik sei keine Fiktion, würde ich dennoch meinen, dass man hier für das Daode jing die Kategorie Fiktion in Anschlag bringen kann, nicht zuletzt weil es im Daode jing nicht ausschließlich um die reine Ausdrucksform geht, wie das in der Lyrik der Fall wäre. Es geht darüber hinaus genauso um die Eröffnung des unzugänglichen Zugangs zum Dao, um ein Paradox zu verwenden. Der Zugang zum Dao wird klar verhindert, wenn es zugreifend verdinglichend mittels eindeutiger, referentieller sprachlicher Benennung versucht wird. Dies gibt einem Begehren Raum, das den Zugang zum Dao verstellt. Dementgegen muss das Dao in seinem subtilen Sich-Zurückziehen und in seiner fluiden Bewegung belassen werden, darf in der Interpretation nicht mit seinem Namen zu eng verbunden oder gar durch ihn fixiert werden. Dann erweist es sich als der „Anfang von Himmel und Erde“. Diese Art des Anfangs ist gleichzeitig generativ und epistemisch, also — wie das häufig in der Literatur zum Daode jing zu finden ist — als Prinzip zu verstehen. Hier hätten wir also eine neue Verbindung von Prinzip und Fiktion, die weiter auszuführen bleibt.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership