Orpheus des Planetarischen

Jörg Ossenkopp
18 min readApr 8, 2023

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Paula Modersohn-Becker, Porträt des Rainer Maria Rilke, 1906 (Quelle)

Warum jetzt nochmal, jetzt wieder Rilke lesen?

Warum jetzt nochmal, jetzt wieder Rilke lesen? Es könnte Grund genug sein, dass eine neue, kosmopolitische Generation ihn gerade wieder entdeckt. Wichtiger aber ist vielleicht, dass man an und mit ihm Prinzipien der Fiktion aufzeigen kann, die uns im Anthropozän helfen. Manfred Engel stellt im Rilke-Handbuch (2013) fest, dass Rilke nicht nur um die „Fiktionalität aller menschlichen Sinnsetzungen weiß, sondern diese auch klaglos annimmt, ja zum Grundprinzip seiner Dichtungs- wie Lebensauffassung macht.“ (S.413) Ausgehend vom Atmen, diesem menschlichen Grundbedürfnis, das im Anthropozän bedroht wird, schlägt Rilke ein Dichten vor, das genauso konkret wie abstrakt ist, das durch das genaue und stille Zuhören eine Multiperspektivität auffächert, die wir heute im planetarischen Kosmopolitismus beide lernen und verbessern müssen. Rilkes „absolute Dichtung“ ist eine Lektion in Worldbuilding oder moderner Mythopoesie (Rilke-Handbuch S.408), die immer noch Geltung besitzt. Und Rilke führt selbst vor, wie seine Fiktion mittels der prägnanten Figur wirkt. Insbesondere seine Forderung nach dem allumfassenden „Rühmen“ ist in unserer Zeit der Spaltung und des Klagens gleichzeitig anachronistisch und eine immer dringlicher werdende Aufforderung an uns, je stärker das Planetarische in unseren Alltag einfällt und sich somit auch unser politisches Klima weiter erhitzt.

Das Planetarische

Das Planetarische taucht bei Rilke auf als die Erde in der Wortnachbarschaft zu den Sternen oder aber als erdumfassendes Weltall. Das große Ziel der Rilkeschen Dichtung besteht darin, den Weltraum in einen „Weltinnenraum“ zu transformieren, durch Dichtung (oder Gesang). Dabei wird der Weltraum jedoch nicht klein oder subjektiv-beliebig, sondern bleibt in seiner Größe und in seiner Wirkungsmacht erhalten, somit ganz konkret als Raum. Genauso ist Rilke in seinem Verständnis des Subjekts, das in einem Verhältnis zum Planetarischen steht und das sich Rilke zufolge auch gegenüber dem Planetarischen behaupten muss, alles andere als idealistisch; er ist in dieser Frage durch und durch modern, eher materialistisch, auf eine geradezu körperliche Raumaneignung in poetischer und interpretationskritischer Art und Weise mal um mal anspielend.

Fokus auf die „Sonette an Orpheus“

Um nicht in der Masse der Rilkeschen Gedichte verloren zu gehen, liegt im Folgenden ein Fokus auf die „Sonette an Orpheus“ aus seinem Spätwerk, die vor exakt 100 Jahren veröffentlicht wurden. Anfang Februar 1922 hat Rilke in einer unglaublichen Explosion der Schaffenskraft den Teil 1 dieses für die deutsche Dichtung immens wichtigen Gedichtzyklus’, 25 Sonette, in vier Tagen niedergeschrieben. Für Teil 2, 29 Sonette, brauchte er dann in einem kurz darauffolgenden Schaffensschub neun weitere Tage. Nebenbei stellte er die „Duineser Elegien“ fertig, ein weiteres Herzstück der deutschen Dichtung, und schrieb den Zwei-Welten-Theorie-kritischen „Der Brief des jungen Arbeiters“.

Atmen, Gedicht, Dasein

Für Rilke ist die Zugangsweise zum Planetarischen in den „Sonetten an Orpheus“ zunächst ganz einfach das Atmen, nicht symbolisch und keiner Interpretation bedürfend. Und das Gedicht ist ein Sonderfall des Atmens, wie er im ersten Sonett des zweiten Teils (II,1) anführt, gleich in den allerersten Zeilen:

Atmen, du unsichtbares Gedicht!
Immerfort um das eigne Sein
rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.
(II,1)

Das erste Sonett des zweiten Teils spielt eine herausragende Rolle aufgrund der Entstehung des Gedichtezyklus’. Es ist als letztes entstanden, und während die meisten anderen Sonette in der Reihenfolge der Abfassung veröffentlicht sind, hat Rilke dieses zuletzt entstandene Sonett an die Bruchstelle zwischen dem ersten und dem zweiten Teil gesetzt, als Neuanfang nach dem Bruch.

In diesem somit herausstechenden Sonett wird das Atmen als ein Eintauschen des Weltraums charakterisiert: In den Sternen entstandene Elemente wie Kohlenstoff und Sauerstoff werden im Atmen in unserer Lunge neu miteinander verbunden und sauerstoffhaltige Luft ausgetauscht mit kohlenstoffdioxidhaltiger; wobei Rilke nicht das wissenschaftlichere Wort „austauschen“ benutzt, sondern „eintauschen“, was eine engere Verbindung sowie Gleichwertigkeit des Eingetauschten impliziert.

Durch diesen Eintausch wird unser eigenes Sein ermöglicht. Der Weltraum ist dabei kein leerer qualitätenloser Raum, darin weicht Rilke in seinem Verständnis von der klassischen Astrophysik ab, sondern er ist derart vorstrukturiert, dass er ein Gegengewicht zu meinem eigenen Sein darstellen kann. In ihn passt sich mein eigener Rhythmus ein, insbesondere der des Ein- und Ausatmens, der mich als Rhythmisch-Ereignishaftes definiert. Und dies teilt das Atmen mit dem Gedicht.

Ernst Noether: Portrait Rudolf Kassner. Kreidezeichnung 1907 (Quelle)

Rilke exemplifiziert hier eine rhythmische Struktur, die im Vorlesen vor allem auf einer sehr fein ausgearbeiteten Form des Ausatmens besteht, denn die Stimme ist ja eine Form des Ausatmens, ein Vorbei-Atmen an den Stimmbändern. Somit ist das Gedicht von Rilke vor allem als Vorgelesenes gemeint. Rilke selbst hat den ästhetischen Wert der „Sonette an Orpheus“, die zunächst für ihn vor allem etwas waren, das ihm zustieß, erst richtig einschätzen können, nachdem er sie vorlas. Sein Freund Rudolf Kassner charakterisierte den vorlesenden Mund Rilkes als eine Tube: „Indem Rilke die Gedichte aus seinem Munde, der sich auftat gleich der Öffnung einer Tube, ausstieß — es war ein richtiges Ausstoßen, Sichbefreien von etwas, oft wie ein Wegschütteln -, gab er den Prozeß der Inspiration wieder. Er gab das her, goß das aus, blies das aus, was über ihn gekommen, in ihn eingeflossen war.“

Das Verhältnis von Atmen und Gedicht kann mit einer Passage des dritten Sonetts des ersten Teils weiter ausgeführt werden, dort unterscheidet Rilke zwischen zunächst nur menschlichem Gesang und dem Gesang als Dasein, der uns schwerfällt.

Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes;
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber sind wir? Und wann wendet er

an unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jüngling, daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstößt, — lerne

vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.
(I,3)

Nicht jedes Dichten ist ein allumfassendes, nicht jeder Gesang eröffnet einen Weltinnenraum. Nicht immer ist unser Sein angewandt (I,3) an die Erde und die Sterne, das Planetarische. Die Kongruenz von Gesang und Erde/Sterne ist eine besondere, diese Kongruenz wird im Gedicht angezeigt durch die Angleichung des Atemhauchs mit dem Wind. Ein Singen, das aus einer leidenschaftlichen Aufwallung wie der Liebe eines Jünglings resultiert, dem kommt nicht die breite Naturhaftigkeit des wahren Singens zu, das kühl und nicht objektorientiert, sondern im Gegenteil nichtsdurchwebt ist wie ein Wind (I,3). Der göttliche Orpheus, der den Menschen den Gesang überhaupt erst brachte, ist die Exemplifikation dieser Angleichung. Nachdem Orpheus uns in mythischer Zeit den Gesang und das Dichten brachte, ist niemandem diese Angleichung ganz grundsätzlich verstellt. Der Zusammenhang der Zeiten ist zunächst jedoch nicht klar. Unser menschliches Dasein ist zunächst vor allem verrinnend, wenn man auf eine noch zu sehr dem Begehren verpflichtete Art und Weise dichtet, angezeigt durch die Frage nach der Zeitlichkeit: „Wann aber sind wir?“ (I,3) Die Zeitlichkeit des Planetarischen ist eine andere.

Die erste Herausforderung, die wir in Rilkes „Sonetten an Orpheus“ finden, ist also die Einordnung des Menschlichen in das Planetarische als gleichzeitig verrinnend, instabil, und dennoch in einer graduellen Kontinuität mit dem Planetarischen. Diese graduelle Kontinuität zeigt sich vor allem am Gedicht oder am Gesang. Gesang ist Dasein, aber dieses Dasein ist nicht homogen wie das astrophysikalische Weltall. Rilkes Weltraum ist umwandelbar in einen Weltinnenraum durch das Gedicht, das selbst eine physikalische Verbindung zum Planetarischen ist, als Atem, der graduell übergeht in Wind. Ein Gedicht kann sich verhalten wie Wind zum Planetarischen, dann ist es allumfassend. Auf die Allumfassendheit wird gleich noch weiter eingegangen, zunächst wird das erste Sonett des zweiten Teils noch bis zum Ende verfolgt, sodass noch klarer wird, wie Rilke die Kontinuität zwischen der Luft des Atems und der Luft der Winde verstanden wissen möchte.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, –
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.
(II,1)

Radikale Multiperspektivität

Ein Sonett besteht traditionell aus vierzehn Zeilen, in der italienischen Form aus zwei Vierzeilern und zwei Dreizeilern. Im zweiten Vierzeiler dieses ersten Sonetts des zweiten Teils (II,1) wird Atmen und Gedicht gleichgesetzt mit einer Welle, die sich auf mir als Meer befindet, und die einen Raumgewinn darstellt. Die Kontinuität, die Austauschbarkeit von Innen und Außen ist ein Charakteristikum dieser Räumlichkeit. Rilke spielt mit einer Multiperspektivität, wenn er zum einen wortspielerisch impliziert, dass er (oder das lyrische Ich) wie eine Mutter Winde gebären könnte, und dass die mit „du“ adressierbare Luft eine eigene Perspektive haben könnte, die der eigenen Perspektive verwandt sein könnte. Die Kombination der Frage „Erkennst du mich?“ in der Verbindung mit Orten legt diese Multiperspektivität nahe. Diese radikale Multiperspektivität überrascht vielleicht, wenn man bedenkt, dass Rilkes Raumverständnis ein sehr konkretes, immanentes, materielles ist. Genauso ist das Atmen unser konkretes Atmen, auch und insbesondere, wenn wir Gedichte vorlesen. Diese Multiperspektivität des Planetarischen hängt nun zusammen mit dem Hören, mit dem Gehör und mit dem Ohr, darauf wird gleich noch eingegangen.

Orpheus-Zeichnung von Cima Da Conegliano (1459–1517)

In den letzten zwei Zeilen des ersten Sonnetts des zweiten Teils (II,1) schlägt er eine Brücke zum ersten Sonett des ersten Teils (I,1), dem Zyklusbeginn, wenn er nach der Thematisierung des Wassers und der Luft mit der Erwähnung von Rinde und Blatt (II,1) auf jenen Baum anspielt, der das erste Sonett (I,1) einleitet und beherrscht:

Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.
(I,1)

Wenn hier in den allerersten Zeilen des Zyklus’ das Steigen eines Baums durch Wachstum konstatiert wird, liegt eine andere Zeitlichkeit als die des Menschlichen vor; nur in einem extremen und die menschliche Perspektive übersteigenden Zeitraffer ist das organische Steigen eines Baums wahrnehmbar.

Verschmelzung der Zeitlichkeiten

Das Planetarische ist durch eine Vielzahl von Zeitlichkeiten charakterisiert, nicht nur der menschlichen Zeitlichkeit. Übersteigung ist eine mögliche Übersetzung des Lehnworts Transzendenz. Die unterschiedlichen Zeitlichkeiten zusammen genommen, das ist für Rilke die eigentliche Transzendenz. Mit anderen Worten, Transzendenz ist für ihn nicht die Überschreitung der Grenze in einem Zwei-Welten-Modell, z.B. einer weltlichen Welt und einem göttlichen Himmel. Das Planetarische ist immanent und nicht Teil eines Zwei-Welten-Modells. Das Singen des Orpheus führt zu einer Verschmelzung der Zeitlichkeiten, darin besteht die Transzendenz. Der vom Begehren und von seinem Lieben zum Aufsingen gebrachte Jüngling (I,3) hat zur Aufgabe, seine poetische Tätigkeit sowohl in einer Multiperspektivität zu sehen, und damit sein Begehren in unterschiedliche Relationen zu setzen, als auch eine Verschmelzung der Zeitlichkeiten zu versuchen, das Ende seiner Liebe mit zu berücksichtigen im Singen seiner Liebe.

Schweigen und Zuhören

Solch ein Singen der Multiperspektivität und der Verschmelzung der Zeitlichkeiten ist dann nur im Schweigen aufzunehmen, ein Schweigen, das ein Hören vorbereitet, so wird die Zeitlichkeit des Baums im menschlichen Ohr aufgenommen (I,1). Und in jenem ersten Vierzeiler der „Sonette an Orpheus“ wird thematisiert, das in diesem Singen ein neuer Anfang liegt, eine Wandlung oder Transformation der Zeitlichkeit und der Natur, des Weltraums. Das erste Gedicht des ersten Teils (I,1) schließt folgendermaßen:

Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,

sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,

ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen
mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, –
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.
(I,1)

Wieder nimmt Rilke eine ganz andere Perspektive ein, diesmal nicht die eines Windes, sondern die von Waldtieren. Die Waldtiere lassen ab von ihrer Nahrungssuche und von ihrem Fluchtinstinkt und kommen aus dem Wald hin zu Orpheus, dessen Singen die Grenzen des Menschlichen überschreitet und auch die Tiere zum Hören bringt; Rilkes Perspektivwechsel ermöglicht dem Leser einen Blick in ihr „Herz“ (I,1), wenn er sich selbst im Zuhören dafür öffnet. Im eigentlich ja vorbeifliessenden und flüchtigen Hören erwächst ein Baum und es wird allen Zuhörenden, und alle Lebewesen hören zu, ein Tempel im Gehör geschaffen, erneut ein Bild für die Verschmelzung der Zeitlichkeiten des flüchtigen und des dauerhaften auch des Heiligen in der Immanenz, erneut ein Bild für die Ablösung oder Überwindung eines Verlangens, für sich verbildlicht mit den Pfosten an einem Unterschlupf, die vor dunklem Verlangen beben wie Beine (I,1). Wenn man wie Rilke eine Multiperspektivität aufbaut, die fiktiv Tiere und Winde mit umfasst, diesseitige, naturhafte Götter wie Orpheus und andere Menschen, kann man auch hierin ein Element der Allumfassendheit erkennen, eine planetarische Allumfassendheit.

Das Rühmen als planetarische Allumfassendheit

Neben der Multiperspektivität besteht im Umschließen von grundlegenden Gegensätzen ein Merkmal von Rilkes poetischer Allumfassendheit. Orpheus war im griechischen Mythos der Sänger, der durch seinen Gesang in der Lage gewesen wäre, seine Frau Eurydike von den Toten wiederzuerwecken. Rilke will den grundlegenden Gegensatz von Tod und Leben in seinen „Sonetten an Orpheus“ überwinden, mit den Mitteln des Gedichts. Das ist eine der Transformationen, die „Wandlung“, die der Zyklus in seinem allerersten Vierzeiler andeutete. Zentral ist hier das „Rühmen“. Und das Rühmen ist ein Sonderfall des „Bezugs“, die beiden tauchen zuerst in nächster Nähe zusammen auf.

Über den Bezug

Erneut ist der Bezug bei Rilke ein sehr konkret verstandener.

Wir machen mit Worten und Fingerzeigen
uns allmählich die Welt zu eigen
(I,16)

Die einfachste Form des Bezugs ist der Fingerzeig, der indexikalische oder deiktische Bezug, „das da!“ oder 👈 als textueller Index per Emoji. Rilke ordnet den indexikalischen Bezug hier dem Bezug über Worte einfach bei.

Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht, indem er überschreitet.
(I,5)

Die Überschreitung oder Transzendenz kam gleich in der ersten Zeile des Zyklus’ vor (I,1), hier ist eher die Überschreitung in die Unsichtbarkeit oder Abwesenheit gemeint. Obwohl Rilke den indexikalischen Bezug jenem durch Wort beiordnet, eröffnet er hier einen weiteren Unterschied. Das Indexikalische funktioniert zunächst nur in der direkten Nähe, die ein hier mit einem dies verbindet, ein Finger zeigt auf etwas, dadurch wird dieses etwas aus dem reinen Hintergrund durch diesen Bezug identifiziert (I,5). Das Wort ermöglicht die Abwesenheit, das Übertreffen (I,5) des Hierseins. Darin liegt die Besonderheit von Orpheus. Dies sind die ersten beiden Zeilen des sechsten Sonetts des 1. Teils:

Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden
Reichen erwuchs seine weite Natur.
(I,6)

Die beiden Reiche sind das Reich der hiesigen und sichtbaren Lebenden und das Reich der abwesenden und unsichtbaren Toten, das große orphische Thema.

Bezug und Rühmen

In diesem Kontext führt Rilke den Bezug als Thema allererst in den „Sonetten an Orpheus“ ein, im sechsten Sonett, oft benannt nach der ersten Zeile, taucht in der elften Zeile das Wort „Bezug“ (I,6) zum ersten Mal im gesamten Zyklus auf, und in der vierzehnten Zeile zum ersten Mal im gesamten Zyklus das Verb „rühmen“ (I,6). Das wird dann im siebten Sonett (I,7) sogleich weiter ausgeführt.

Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor wie das Erz aus des Steins
Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.

Nie versagt ihm die Stimme am Staube,
wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift.
Alles wird Weinberg, alles wird Traube,
in seinem fühlenden Süden gereift.

Nicht in den Grüften der Könige Moder
straft ihm die Rühmung lügen, oder
daß von den Göttern ein Schatten fällt.

Er ist einer der bleibenden Boten,
der noch weit in die Türen der Toten
Schalen mit rühmlichen Früchten hält.
(I,7)

Direkt nach der Einführung des Verbs „rühmen“ im sechsten Sonett (I,6) ist das Rühmen sogleich das Hauptthema des siebten Sonetts (I,7). Mehr als durch alles andere wird das Rühmen auf die Probe gestellt durch den Tod, das orphische Thema. Die Aufgabe ist es, auch in der Kontemplation des Todes, der abschließenden Abwesenheit der Geliebten, mit dem Rühmen und der Bezugnahme nicht aufzuhören. Rilke formt hier die Idee Nietzsches der Bejahung der ewigen Wiederkehr dichterisch um. Im achten Sonett spricht Rilke das an: „Nur im Raum der Rühmung darf die Klage // gehn“ (I,8).

Klagen und Rühmen

Klagen und Rühmen sind die beiden angemessenen Umgangsweisen mit dem Tod und mit den Toten. Er führt weiter aus über die Klage:

Jubel weiß, und Sehnsucht ist geständig, –
nur die Klage lernt noch; mädchenhändig
zählt sie nächtelang das alte Schlimme.

Aber plötzlich, schräg und ungeübt,
hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme
in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.
(I,8)

Wenn man es schafft, die Klage zu durchlaufen und irgendwann zurück zum Rühmen gelangt, dann ist jener Zustand des Gedichts erreicht, in dem der Atem übergeht in Wind, jener „Hauch um Nichts“ (II,1).

Das Planetarische im Sternbild: Bild und Figur

Hier wird das Planetarische im Gesang wieder erreicht, das durch das Wort „Sternbild“ angezeigt ist, in der Kombination mit Himmel und Hauch. Das Sternbild ist das Motiv, das das Größer-als-Menschliche konnotiert, eben das Planetarische. Bild, Bezugnahme und Figur sind eine Voraussetzung für das Rühmen. Die Umschließung der grundsätzlichen Gegensätze von Leben und Tod als ein einziger Doppelbereich funktioniert im Bild und in der Figur.

Wisse das Bild.

Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.
(I,9)

Rilke widmet dem Thema des Bilds und der Figur ein weiteres vollständiges Sonett (I,11)

Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbild ›Reiter‹?
Denn dies ist uns seltsam eingeprägt:
dieser Stolz aus Erde. Und ein Zweiter,
der ihn treibt und hält und den er trägt.

Ist nicht so, gejagt und dann gebändigt,
diese sehnige Natur des Seins?
Weg und Wendung. Doch ein Druck verständigt.
Neue Weite. Und die zwei sind eins.

Aber sind sie’s? Oder meinen beide
nicht den Weg, den sie zusammen tun?
Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide.

Auch die sternische Verbindung trügt.
Doch uns freue eine Weile nun
der Figur zu glauben. Das genügt.
(I,11)

Das Sternbild ist für Rilke das paradigmatische Beispiel einer Figur. Die Figur prägt sich uns ein, selbst aus größter Entfernung. Eine Figur ist eine Verbindung mindestens zweier Elemente, bei dem hypothetischen Sternbild des Reiters sind es das Pferd und das Element, das treibt, das getragen wird, das die Zügel hält, das das Pferd einfängt und einreitet und ihm mit den Schenkeln einen Druck ausübt zum Anzeigen der Richtung. Der gemeinsame Weg kombiniert die beiden Elemente zur Figur und erschließt die Weite, die Ferne. Die Verbindung ist jedoch eine instabile, manches trennt die beiden Elemente der Figur, beim Reiter ist es die Nahrungsaufnahme, Tisch und Weide (I,11). Die Figur trügt gleichzeitig und man kann ihr dennoch glauben und sich daran erfreuen. Die Figur ist somit das Kernelement der Rilkeschen Auffassung des Poetischen, Kernelement von Fiktion.

Die unhintergehbare Zerbrechlichkeit der Figur wird deutlicher noch vor dem Hintergrund der grundlegenden Fremdheit des Alls. Wenn das All uns fremd ist, kann es sich quasi unter unseren Händen verändern und unsere durch Bezugnahme erzeugte Figur zerstören.

Wagen umrollten uns fremd, vorübergezogen,
Häuser umstanden uns stark, aber unwahr, — und keines
kannte uns je. Was war wirklich im All?
(II,8)

Die Frage zeigt an: uns ist nicht klar, was wirklich im All ist. Wir umgeben uns mit Wagen — Rilke ist viel mit dem Auto gefahren, verglichen mit seinen Zeitgenossen –, bauen uns Häuser, dies ist für Rilke jedoch eine Art Entfremdung. Mehr als in Häusern und Wagen leben wir in Figuren.

Heil dem Geist, der uns verbinden mag;
denn wir leben wahrhaft in Figuren.
Und mit kleinen Schritten gehn die Uhren
neben unserm eigentlichen Tag.

Ohne unsern wahren Platz zu kennen,
handeln wir aus wirklichem Bezug.
Die Antennen fühlen die Antennen,
und die leere Ferne trug…
(II,12)

Technologien der Zeitlichkeit ohne die Figur

Rilke spricht hier Technologien der Zeitlichkeit an, die wieder eine andere Zeitlichkeit haben als jene der Bäume und der Sterne und des Weltraums. In der Moderne ist alles aus den Fugen und in Teile zersprungen, die auf den ersten Blick kein Ganzes mehr ergeben. Uhren messen etwas anderes als unseren „eigentlichen Tag“ (II,12), wir verändern die Wirklichkeit durch handelnden Bezug, sind aber nicht in der Lage, unsere Situation in diesem Zusammenhang wirklich zu erkennen, kennen unseren „wahren Platz“ (II,12) nicht, und die Antennen, das Netzwerk der technologischen Apparate, stehen zueinander eher in einer selbstbezüglichen Relation, sie fühlen einander selbst mehr als alles andere. In dieser selbstbezüglichen Welt der Technologie ist die Ferne einfach nur leer, der Weltraum leer und schwarz und quasi sternenlos. Hier fehlt die Figur, die selbst natürlich auch nicht viel hinzufügt, das gelungene Gedicht braucht die gelungene Figur, und das gelungene Gedicht war ja in seiner unhintergehbaren Verbindung zum Atmen ein „Hauch um nichts“ (I,3).

Zusammenfassung im letzten der “Sonette an Orpheus”

Im letzten Sonett (II, 29), werden alle Themen noch einmal zusammen geführt und abgeschlossen:

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.
(II,29)

In der Figur erschloss sich das neue Weite, die Ferne (I,11). Der Plural der vielen Fernen lässt an Multiperspektivität denken. Das Atmen ist ein räumliches, konkretes und ein Gebendes, den Raum vermehrendes. Der Glockenturm hier im letzten Sonett korrespondiert mit dem Tempel im Gehör (I,1) im ersten. Bei beiden ist Stille im Spiel. Das „Erz aus des Steins Schweigens“ (I,7), aus dem der Rühmende hervor geht, klingt hier jetzt als die Glocke, als die der Leser oder Zuhörer oder Freund in der zweiten Person Singular angesprochen wird. Das Geläutet-werden, der Klang des Hammerschlages auf dem Glockenerz, ist ein Rühmen. Das Läuten wird dann zur Nahrung und dadurch wird das Zerstörende, das Zehrende zur Stärkung. Indem das Läutende ein Rühmendes ist, das die Klage mit umfasst, wird eine Transformation eingeleitet. Indem man sich an die Transformation gewöhnt, sich in ihr einrichtet, versetzt man sich in die Lage, „in der Verwandlung ein und aus“ (II,29) zu gehen. Nicht immer geht der Kelch an einem vorbei, selbst eine vernichtende Leidenserfahrung muss mit solch einer Transformation begegnet werden. „Ist dir Trinken bitter, werde Wein.“ (II,29) Im Sonett „Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter“ (I,7) taucht die Figur des Weins schon auf, direkt im Anschluss an die Figur des Erzes aus steinernem Schweigen. Das Herz des Rühmenden wird dort beschrieben: „Sein Herz, o vergängliche Kelter // eines den Menschen unendlichen Weins“ (I,7) Das Herz des Rühmenden ist vergänglich und gleichzeitig ein Transformierendes, das für Menschen unerschöpflich ist. Die unendlichen Permutationen der Figuren, die selbst noch durch ihre Kontexte modifiziert werden, können alle dazu dienen, in Leiderfahrungen die Klage in ein Rühmen zu transformieren, indem man Gegensätzliches in einer großen Perspektive umfasst und sich gleichzeitig in Multiperspektivität übt. Es gibt darin aber keine Notwendigkeit, nur Möglichkeit. Wichtig ist dabei natürlich die ästhetische Qualität, die nötig dafür ist, überhaupt eine Wirkung zu entfalten und nicht im Klischee zu verflachen. „Zauberkraft“ (II,29) könnte solch ein Klischee sein, Zauberei ist eine fiktive Spielart der Transformation, die hier das Heterogene der Erfahrung und der Sinne in einen einzigen gemeinsamen Sinn überführt im Überfluss der Nacht. Die Nacht erinnert an die Sterne, und das letzte Sonett setzt ein mit Atem, der den Raum vermehrt (II,29). So kann man vielleicht das „Irdische“ (II,29), mit dem das Gedicht und damit der Zyklus schließt, als das Planetarische verstehen. In einer Umkehrung sind es hier nicht wir Menschen, die das Planetarische vergaßen, sondern das Irdische selbst vergisst uns. In einer dichterischen Selbstbehauptung gilt es dann, die Elemente anzusprechen und in einem Chiasmus die eigene Unterschiedlichkeit in der Gleichheit zu behaupten, gegenüber der Erde zu sagen, ich fließe, und gegenüber dem Wasser: „Ich bin.“ Das ist natürlich nicht das cartesische ego sum, sondern selbst Teil einer dichterischen, fiktiven Figur.

Philosophische und politische Einordnung

Haben wir am Ende in einer Zeit, die sofortiges Handeln, sofortige Senkung des CO2-Ausstoßes verlangt, keine Zeit für Rilke, für das poetisch-verklärende Erschaffen neuer fiktiver Welten, das stille und schwere Zuhören, das Erfassen und Ertragen von Multiperspektivität, das Ausprobieren neuer sprachlicher Figuren? Die hier vorgeführte Rilke-Lektüre behauptet natürlich das Gegenteil, und zieht aus der Lektüre auch Gründe, sechs davon seien hier aufgeführt:

  1. Wenn man sich alle möglichen Formen der Zukunft anschaut, wird es immer darum gehen, was wir uns erzählen, “denn wir leben wahrhaft in Figuren” (II,12). In einer Zukunft, in der wir die Wende zur dauerhaften Bewohnbarkeit der Erde vollbracht haben werden, genauso wie in einer Zukunft, in der wir mit schwerwiegenden Veränderungen unserer Ökosysteme leben müssen, und auch der letzte Mensch wird sich noch rühmende und klagende Geschichten erzählen, warum es keine Menschen mehr gibt außer ihm.
  2. Die Zeit, die uns umgibt, ist immer schon pluralisch, die Forderungen, die die Zeit an uns stellt, sollten immer schon die Idee einer Verschmelzung der Zeitlichkeiten mit berücksichtigen. Die Fixierung auf die Gegenwart, das Abstreifen der Vergangenheit, das Verschieben der Zukunft hat uns in die Klima-Misere geführt und hält uns in der Klima-Misere gefangen derzeit. Die Zeitlichkeit des Planetarischen muss mit der Zeitlichkeit des Politischen verschmolzen werden, diese “Übersteigung” in der Immanenz ist notwendig.
  3. Der politischen Polarisierung in unserer Gegenwart kann nur entgegen gearbeitet werden, indem man sich besinnt auf Versionen des Allumfassenden, und dies wieder notwendigerweise im Plural. Stichwort Multiperspektivität. Wir alle müssen uns auf allen Seiten Gedanken machen über eine oder mehrere Versionen des Allumfassenden. Die Notwendigkeit des Plurals führt dazu, dass wir unsere Version des Allumfassenden in eine Verbindung setzen müssen zur Fiktion, dass wir die Fiktionalität all unserer Sinnsetzungen kontemplieren müssen.
  4. Die Versionen des Allumfassenden, die nicht unsere eigenen sind, die wir nicht teilen, die müssen wir dennoch verstehen. Wiederum Stichwort Multiperspektivität. Es ist schwer, das grundsätzlich Nicht-Geteilte, das Andere zu verstehen, es ist so schwer, dass wir es üben müssen. Rilkes Lyrik verlangt nach einer ausgearbeiteten Form des Zuhörens, um sie zu verstehen. Das ist schwer genug, um eine sehr gute Übung darzustellen.
  5. Wir sind die ganze Zeit dabei, uns in fiktive Welten zurück zu ziehen. Wir sollten uns klar darüber sein, was genau an den fiktiven Welten fiktiv ist und was daran politisch ist, was daran offenliegt als Politisches und was daran implizite, kaum merkliche politische Konsequenzen hat. Und Fiktionalität ist nicht unabhängig von ästhetischer Qualität, im Gegenteil. Ästhetische Qualität ist eine der wichtigsten Quellen von bleibender Sinnhaftigkeit, Rilke gilt zurecht als einer der wichtigsten Dichter in deutscher Sprache.
  6. Klimawandel ist bei allen offenen Detailfragen wissenschaftlich erwiesen. Ein Leugnen des Klimawandels ist ein Umarmen des Fiktiven. Doch auch eine Anerkennung des Klimawandels kann auf das Fiktive nicht verzichten. Das Fiktive erfährt oft eine Abwertung, die die Wirkmächtigkeit des Fiktiven verkennt. Was das Fiktive “hervorbringt, sind eben keine ontologische Setzungen mit quasi-metaphysischem Geltungsanspruch, sondern immer neue und immer anders nuancierte poetische Bilder.“ (Rilke-Handbuch, S.411)

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership