Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfasst“

Jörg Ossenkopp
3 min readMay 14, 2022

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Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, schrieb Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820). Was heißt das? Einerseits wohl, dass sie gar nicht anders als zeitgemäß sein kann, andernfalls ist sie keine Philosophie.

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Andererseits muss man sogleich fragen: wenn Hegel dieses Diktum vor 200 Jahren in die Welt setzte, was folgt daraus für die Widerspruchsfreiheit und Gültigkeit dieses Diktums? Unsere heutige Zeit ist eine ganz andere als die Zeit der 1820er. Und das Zeitgemäße hat wohl einen Gültigkeitsraum jeweils von etwa ein paar Jahren oder maximal von wenigen Jahrzehnten. Hat sich dieser Spruch dadurch nicht bereits von selbst ad acta gelegt?

In jenem Satz verbindet der Gebrauch des Possessivartikels „ihre“ die Philosophie mit der Zeit, um eine „Zeit der Philosophie“ zu etablieren. Im Gegensatz jedoch zum jeweils Zeitgemäßen muss die Zeit der Philosophie als eine der langen, großen, weiten Zeiträume zählen. Die Zeit der Philosophie beginnt im 6. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland oder auch genauso in China und dauert bis heute an. Mehr noch, vielleicht begann sie bereits, als jemand das erste Mal den Blick von der Erde löste, in den Himmel schaute und sich dort etwas ausmalte, das die Erdvorgänge mit überschüssiger unirdischer Bedeutung versah.

Und vielleicht ist die Zeit der Philosophie auch irgendwann vorbei. Denn die Zeit der Philosophie umfasst natürlich auch die Zukunft. Und nicht nur die Geschehnisse der Zukunft, zum Beispiel eben, wann der letzte philosophische Gedanke gedacht sein wird, sondern auch, wie wir die Zukunft überhaupt verstehen können.

Die Utopie zum Beispiel ist ein wichtiges philosophisches Unterfangen. Und als philosophisch zu kategorisieren sind natürlich auch die großen Modelle, die entworfen werden, um die Gesamtentwicklung der Menschheit zu erfassen, Rousseaus Abfolge der Zivilisationsstufen, Nietzsches Ewige Wiederkehr, Kants Kosmopolitismus. Woher kommen wir, wohin gehen wir, das sind die Fragen der Philosophen, die in ihren Antwortversuchen die Zeit der Philosophie immer weiter ins Detail verfolgbar ausbuchstabieren.

Kurz, wenn man sagt, die Philosophie hat „ihre Zeit“, so hat das folglich wenigstens einen dreifachen Aspekt:

  1. das gegenwärtige Zeitumfeld eines konkreten philosophischen Akts sowie die Wechselwirkungen zwischen Umfeld und Akt
  2. die historische oder prähistorische Zeit alles Philosophierens
  3. die Zeit, die von der Philosophie angeeignet, modelliert oder strukturiert wird

Der Hegelsche Spruch hat diese drei Bedeutungsschichten und ist deshalb so wirkmächtig, weil sich der erste, aktuelle Aspekt mit jedem weiteren Jahr verändert und das wiederum eine voranschreitende Neuausrichtung der beiden anderen Aspekte gleichzeitig erlaubt und verlangt. Dadurch, dass dieses Hegelsche Philosophem für uns den Bereich des Zeitgemäßen verlassen hat, ist eine Leerstelle entstanden, die wieder und wieder eine neue Aktualisierung verlangt und ermöglicht.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership