Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt. — Teil 2

Über den Wunsch nach Veränderung und Wachstum. Und einen
gestalt­therapeutischen Weg dorthin.

Jochen Guertler
24 min readMay 8, 2018

Vorwort zur dieser Veröffentlichung

Den folgenden Text habe ich im Jahr 2011 zum Abschluss meiner Ausbildung zum Gestalttherapeuten am Gestaltzentrum Karlsruhe geschrieben.

Mein damaliger Ausbilder und Mentor Manfred Reichert ist leider vor kurzem verstorben, was für mich Anlass war, einen Blick zurück zu werfen: auf die intensiven Jahre, die ich am Gestaltzentrum während der Ausbildung aber auch in unzähligen Einzelstunden, verbringen durfte.

Manfred war für mich mit Sicherheit einer der prägensten Menschen meines bisherigen Lebens und mit der Veröffentlichung dieses Textes an dieser Stelle möchte ich mich dafür bedanken.

Auch wenn der Text mittlerweile schon einige Jahre “auf dem Buckel” hat, “stimmt” er in weiten Teilen immer noch sehr für mich. Darüberhinaus finde ich es sehr spannend zu sehen, wie viele Aspekte, die ich im Folgenden beschreiben werden, auch auf meine derzeitige Tätigkeit als Innovationsberater und Design-Thinking-Coach zutreffen, in der ich Teams, Organisationen und Firmen in deren Veränderungsprozessen hin zu einer kreativeren, innovativeren und agileren Kultur begleite und unterstütze.

Ich sehe vieles, was der Design-Thinker vom Gestalt-Therapeuten lernen kann und umgekehrt. Daher ist dieser Text für mich aktueller denn je.

Dieser Artikel ist Teil 2 des gesamten Textes, der ersten Teil findet sich im Teil 1.

Veränderung und Wachstum

Und nun stand er wie so oft in den letzten Jahren vor den riesigen zwei Felsen, die den Geschichten nach, den Held und den Dämon in ewiger Zweisamkeit verbinden. Die seit Menschengedenken Sinnbild für die Verschmelzung von „Gut“ und „Böse“ waren und die, wenn man den Legenden glauben darf, Basis und Wurzel ihrer so wunderbaren Welt waren.

Die nur existierten, weil es beide gab, den Held und den Dämon. Und die nicht existieren könnten, wenn der eine den anderen vernichtet hätte.

Und in der Tat: es bedarf nicht allzu viel Phantasie, um in den zwei Felsen, die mindestens zehn Meter in den Himmel ragten, den Held und den Dämon zu erkennen. Der Held, aufrecht und mit stolz erhobenem Haupt. Der mit klaren Gesichtszügen, stolz und furchtlos, mit Schwert und Schild an seiner Seite, dem Dämon entgegentritt. Dem Dämon, der weitaus „diffuser“ wirkte, weniger greifbar, doch gleichzeitig auch mit einer immensen Anziehungskraft. Der Dämon überragte den Helden noch um etliche Meter, der Fels war wesentlich zerklüfteter, weniger konkret. Viel schwärzer als der Held und mit einem „Gesicht“, in dem jeder den großen, weit aufgerissenen Mund entdecken konnte, mit dem der Dämon in den alten Geschichten den Helden so furchterregend und angsteinflößend, aber gleichsam auch so verzweifelt anschrie und anflehte. Ihn gleichzeitig bedrohte und um Anerkennung flehte.

Die zwei Felsen standen ca. zwei Meter auseinander, doch ob aus einer Laune der Natur heraus oder aufgrund der Vereinigung von Held und Dämon, wie sie in den Geschichten erzählt wird, verband ein Bogen aus Fels die beiden lange Zeit so gegensätzlichen und unversöhnlichen Seiten.

„Der Held und der Dämon reichen sich die Hand; sie akzeptieren sich so wie sie sind, geben dem anderen den ihm zustehenden Platz in unserer Welt und ermöglichen so ein neues, gutes Ganzes“, dachte er und wie immer fühlte sich diese Vorstellung für ihn befreiend und kraftvoll an.

Heldenreise

Es mag auf den ersten Blick vielleicht überraschen, dass ich an dieser Stelle eine Passage aus meiner Abschlussarbeit zum Ende der Basisstufe zitiere, in der ich eine der Phantasiereisen während meiner Heldenreise im Sommer 2008 in Weigenheim beschreibe.

Wo es mir doch in dieser Arbeit um den Wunsch nach Veränderung und einem möglichen gestalttherapeutischen Weg dorthin geht. Aber gerade deswegen möchte ich in diesem Kapitel auch auf die Heldenreise eingehen, die ich heute abseits von meinen sehr eindrücklichen, persönlichen Erfahrungen auch im Rahmen eines gestalttherapeutischen Prozesses zu nachhaltiger Veränderung und persönlichem Wachstum einordnen kann.

Die fünf Schichten der Neurose

Anfangen möchte ich aber mit — wie könnte es anders sein — Fritz Perls, der schon in den 1960er Jahren ein erstes „Model“ für einen Veränderungsprozess beschrieben hat. Er spricht dabei (je nach Quelle) von vier bis fünf „Schichten der Neurose“ (ich werde mich im Folgenden auf das fünf-phasige Model beschränken). Es liese sich an dieser Stelle trefflich darüber diskutieren, ob es sich dabei um (räumlich orientierte) Schichten oder Ebenen oder doch mehr um (zeitlich orientierte) Phasen handelt. Ich möchte sein Model aber vor allem aus Sicht der dabei stattfindenden Veränderungen beschreiben.

Die erste Phase nennt Perls die Klischee-Phase, in der der Mensch nach vorgegebenen Mustern und Ritualen lebt. „Kontakt“ mit anderen Menschen stellt sich meist als klischeehaftes Händeschütteln oder mechanisches „Guten Morgen, wie geht es Dir?“ dar. Das Vorhandensein des Anderen wird bemerkt, mehr aber auch nicht.

Spontan fällt mir dazu eine Übung ein, die wir während einer unserer ersten Wochenenden in der Basisstufe gemacht haben. Manfred hatte uns aufgefordert, durch den Raum zu gehen und die, die uns dabei begegnen, zu begrüßen. Wir taten dies im Rückblick sicherlich sehr „klischeehaft“ mit Händedruck, Umarmung oder gar Küsschen. Nachdem uns Manfred dazu eingeladen hatte, in dem Moment der Begrüßung wirklich sehr bewusst zu entscheiden, wie wir den Gegenüber jetzt gerade in diesem Augenblick begrüßen wollen, waren die Begrüßungen fast durchweg zurückhaltender aber auch, zumindest in meiner Erinnerung, ehrlicher und nachhaltiger.

Nach der Klischee-Phase folgt das Stadium des Als-ob-Verhaltens, des Rollenspiels. „Die Schicht“, so Perls, „wo wir Spielchen machen und in Rollen schlüpfen“.

Bruno-Paul de Roeck führt eine sehr treffende „Spielchen-Sammlung“ auf: Das Mitleid-Spielchen, indem man sich übertrieben bedauernswert stellt, um das Mitleid der anderen zu wecken. Das Erpresser-Spielchen („Du bist der einzige, der mir helfen kann.“). Das Übertragungsspielchen („Du bist genau wie meine Mutter.“), das Vergleichsspielchen („Du hast es leichter. Du kannst Dich immer leicht über etwas hinwegsetzen.“) oder das Vorwurfsspielchen („Warum bist Du nicht etwas tüchtiger?“) um nur ein paar Beispiele zu nennen.

All diese Spielchen (und es gibt sicherlich Hunderte davon) dienen nur dem einen Zweck — nämlich den anderen zu manipulieren. Doch in diesem Stadium betrügen wir letztendlich vor allem uns selbst, weil wir jemanden darstellen wollen, der wir nicht sind.

„Wir identifizieren uns selbst und andere“, so Bruno-Paul de Roeck, „mit einem Idealbild, das uns mit seinen Anforderungen nur terrorisiert und uns schmerzlich verfremdet und machtlos macht“. Wir sind dann der Frosch, der sich, wie in der Fabel von Aesop, zur Kuh machen will. Mit bekanntermaßen dramatischen Folgen für den Frosch.

Wer diese Schicht hinter sich lässt, wer aufhört Spielchen zu spielen, wer aus seiner Rolle heraustritt, der kommt in die Phase der Impasse, in die Ausweglosigkeit.

Die (scheinbare) Sicherheit des Klischees oder der Rollen sind dahin, der Mensch muss mit einem Male „auf eigenen Beinen stehen“. Die bisherige Wirklichkeit erweist sich als bloße Phantasie, die bisherigen Vorstellungen und Bilder von sich selbst und der Welt sind nichtig. Ein Zurück in das Altbekannte würde das gerade begonnene Wachstum abwürgen, doch noch fehlt der feste Boden unter den Füssen für ein Leben abseits von Klischees und Rollen. „Nicht zurückziehen ist hier die Parole“, so de Roeck. „Der Schmerz des Wachsens lohnt sich. Sterben, um zu leben“.

Wer „nicht zurückzieht“, betritt die Implosionsphase oder so Perls, die „Schicht des Todes“. Der Mensch steht kurz davor, sich zu erneuern, der zu werden, der er ist. Doch werde ich dann noch angenommen? Werde ich dann noch geliebt? Bedeutet es nicht meinen Tod, wenn ich nicht mehr der bin, der ich war? Das letzte Aufbäumen findet statt, um Veränderung und Wachstum doch noch zu verhindern. Der Mensch versucht krampfhaft, die gegensätzlichen Kräfte, die in ihm wirken, zusammenzuhalten. Zieht sich zusammen. Implodiert. Stirbt.

Stirbt, um in der letzten Phase, der Phase der Explosion, neugeboren zu werden. Die vielzitierte Katharsis. Die Explosion hat dabei nichts von einer Katastrophe, sondern ist vielmehr Ausdruck von echten Gefühlen auf den verschiedensten Gebieten. Echte Trauer und Tränen werden zugelassen, Wut und Aggression dürfen sein, Freunde und Ausgelassenheit werden intensiv gelebt. Der Mensch entdeckt seine authentische Persönlichkeit, er spürt so viel Energie in sich wie nie zuvor. „Der furchterregende Berg“, so de Roeck, „der dir vorher den Weg zum Leben versperrte und dich hinderte, Risiko auf dich zu nehmen, wird zu einem lächerlichen Maulwurfshügel, der nur durch deine Einbildung so riesenhaft aufgebläht wurde“.

WESENtliches

Oder um es mit den Worten meines Wesens zu sagen, das mir nach meinem ersten Sommer-Intensiv in Weigenheim die folgenden Zeilen geschrieben hat:

Ich durfte gestern viele Tränen weinen und Schmerz loslassen, Für den Mut dafür danke ich Dir. Ich fühle mich am Ende einer Etappe, die vielleicht 1998 angefangen hat und die gestern ein so befreiendes Ende fand. Es war sehr schön, diese Etappe dann so ausgiebig zu feiern. Im Kontakt — mit Dir, mit Frauen, mit Männern. Dieser Kontakt war sehr schön für mich und ich kann Dich nur ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Ich werde Dich immer unterstützen und Dir helfen wo ich kann.

Die Struktur des Veränderungsprozesses

Angelehnt an Perls´ Schichten der Neurose haben Frank M. Staemmler und Werner Bock ebenfalls eine Strukturierung des Veränderungsprozesses vorgeschlagen, auf die ich nun eingehen möchte.

Die erste Phase, die Staemmler und Bock als Stagnation bezeichnen, zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein Mensch, der sich darin befindet, nicht mehr selbst als Urheber der Veränderung seiner Situation begreift. Alle „Macht“, alle Verantwortung dafür liegt ausschließlich bei äußeren Kräften. Bei dem Partner oder der Partnerin, dem Arbeitgeber, der Gesellschaft, dem Staat, der Kirche, bei Gott. Wenig überraschend wird dies meist als belastende Abhängigkeit empfunden, die trotzdem letztendlich nicht in Frage gestellt wird, weil sie natürlich auch einen echten „Vorteil“ bietet, da der Mensch „scheinbar“ nicht für seine Situation verantwortlich ist. Ein Mensch in der Stagnation kann durchaus „aktiv“ an seiner Veränderung arbeiten. Den Partner oder den Arbeitsgeber wechseln. Gegen Gesellschaft, Staat und Kirche demonstrieren. Von einem Therapeuten zum nächsten rennen. Seminare und Workshops besuchen. Und doch wird er sich nicht persönlich verändern und wachsen, solange er in der Stagnation bleibt.

In meiner Arbeit als interner Coach bei SAP habe ich einige Coachees kennengelernt, die sich genau in der Phase der Stagnation befanden, als sie mit dem Coaching angefangen haben. Beispielsweise Petra, 32 Jahre, die sich nach einem gerade überstandenen Burn-Out „neu orientieren“ will bei SAP, sich zu Beginn des Coachings aber vor allem als „Opfer“ einer „unmenschlichen SAP“ sieht, die nicht nur sie, sondern auch viele Kollegen „vorsätzlich frustriert“. Oder Peter, 35 Jahre, der endlich mehr Einfluss auf die Arbeitsweise innerhalb seines Teams nehmen will, aber vom uneinsichtigen Team und seinem Manager, der „ihm nie zuhört“ und sowieso „noch nie Interesse für neue Themen gezeigt hat“ ausgebremst und demotiviert wird. Oder Mia, 22 Jahre, die davon träumt, in die Medienbranche zu wechseln, dafür aber nur Kopfschütteln von Freunden und Eltern erntet, die sie „nicht unterstützen“ und ihr „ihre Flausen ausreden wollen“.

Nach der Stagnation folgt die Phase der Polarisation, die im Vergleich zur Stagnation einen bemerkenswerten Fortschritt für einen Menschen darstellen kann. Der Mensch entdeckt (wiederentdeckt?) nämlich sich selbst als Handelnden, entdeckt vielleicht bislang ungeahnte Wahlmöglichkeiten. Realisiert, dass die äußeren Kräfte, denen er in der Stagnation scheinbar hoffnungslos ausgeliefert war, oft nur Phantasiegebilde sind.

Doch für echte Veränderung und Wachstum ist es noch „zu früh“. Denn der neu entdeckten Handlungsfreiheit steht der gleichzeitige Versuch diese zu unterdrücken gegenüber. „Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt“ beschreibt wie schon zu Beginn dieser Arbeit angedeutet, die für die Polarisation typische Zerrissenheit, die einem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes Angst machen kann. Denn, so Staemmler und Bock, „ist Angst das subjektive Empfinden, das entsteht, wenn ein Mensch zwei widersprüchliche Handlungen ausführt“.

Denn die neu gewonnenen Wahlmöglichkeiten liegen meist klar auf dem Tisch, die Aussichtslosigkeit des Opfer-Daseins ist dahin. Andererseits aber nehmen genau diese neu gewonnenen Wahlmöglichkeiten dem Menschen, so Staemmler und Bock weiter, „die Möglichkeit, äußere Bedingungen und andere Menschen für seine persönliche Misere alleine verantwortlich zu machen“. Oder wie Franz Mittermair schreibt: „Am Ende der Polarisationsphase sind Bedürfnis und Widerstand bewusst, stehen im Dialog und wir haben keinerlei Lösung“.

Dieses Nichtvorhandensein einer Lösung bringt den Menschen in die dritte Phase, die Phase der Diffusion. Ähnlich der Impasse beim Perls´schen Fünf-Schichten-Model erlebt ein Mensch diese Phase mitunter als hochgradig verwirrend und beunruhigend. Denn er realisiert, dass es für sein Problem der ihm jetzt sehr bewussten Polaritäten keine inhaltliche Lösung, keine Lösung auf Ebene des Verstandes gibt.

Der Mensch fühlt sich orientierungslos, ist verwirrt. Es zeigt sich oft ein „Nichts“, das aber da vom Menschen erlebbar, nicht „Nichts“ ist, sondern oft nur wegen einer fehlenden besseren Terminologie so bezeichnet wird. Doch das „Nichts“, die Verwirrung hat sein Gutes, denn, so Fritz Perls „wenn du … bei dieser Verwirrung bleibst, wird sich die Verwirrung selbst entwirren“.

Die sich anschließende vierte Phase der Kontraktion erinnert stark an Perls´ Implosionsphase und wird meist als schmerzhaft und bedrohlich empfunden. Denn auch in der Kontraktion erkennt der Mensch, dass er sich nur dann weiter verändern und wachsen kann, wenn er vorher „stirbt“.

Steve Jobs hat dies in seiner mittlerweile vielzitierten Rede vor Stanford-Absolventen sehr treffend formuliert: „Niemand will sterben. Sogar die Menschen, die in den Himmel kommen wollen, wollen dafür nicht sterben. Und doch ist der Tod das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entronnen. Und so soll es auch sein: Denn der Tod ist wohl die mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels. Er räumt das Alte weg, damit Platz für Neues geschaffen wird.“

Und wie bei Perls mit der Phase der Explosion kommt nach der Kontraktion mit der Phase der Expansion die Neugeburt des Menschen. Wo vorher Zerrissenheit war ist nun Eins-Sein. Aus Schwierigkeiten wird Freude. Aus Verlust wird heilende Trauer. Aus (innerem) Kampf wird Frieden und tiefe Gelassenheit. Aus Bedrücktheit wird Erleichterung. Aus scheinbar unlösbaren Problemen wird Stolz, es „geschafft“ zu haben.

Theorie und Praxis

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass sowohl das Perls´sche Schichtenmodel als auch der Veränderungsprozess wie ihn Staemmler und Bock vorschlagen, letztendlich nur Modelle sind, die in der (therapeutischen) Realität oft nicht exakt so wie beschrieben oder nur in Teilen davon ablaufen. Nicht jeder Veränderungsprozess wird die beschriebenen Schritte „am Stück“ durchlaufen, gleichwohl zum Beispiel Staemmler und Bock darauf hinweisen, „dass es im Interesse einer vollständigen Bearbeitung eines jeweiligen Themas notwendig ist, alle fünf Phasen zu durchleben, dass keine Phase übersprungen oder umgangen werden kann“.

Im Sinne der Eigenverantwortung, die dem Klienten in der Gestalttherapie bedingungslos zugestanden und auferlegt wird, kann er jederzeit entscheiden, ob er einen begonnenen Prozess fortführen oder unterbrechen möchte, oder gar (zumindest für den Augenblick) „einen Schritt zurück“ macht. Die (gestalt-) therapeutische Unterstützung des Klienten kann dabei darin bestehen, ihn auf (vielleicht unbewusste) Selbstunterbrechungen seines Veränderungsprozesses aufmerksam zu machen.

Manche Prozesse können Jahre dauern, und wohl nur in seltenen Fällen wird der beschriebene Prozess beispielsweise komplett in einer Sitzung erlebt.

Ganzheitliche Veränderung und persönliches Wachstum setzt sich darüberhinaus aus einer nicht endenden, lebenslangen Kette von Veränderungsprozessen dar. Oder wie Staemmler und Bock treffend formulieren: „Dieses Wachstum hört ein Leben lang nie auf, es ist das Leben“.

Zurück zur Heldenreise

Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, möchte ich neben den eben vorgestellten Veränderungsmodellen von Perls bzw. Staemmler und Bock im Rahmen dieser Arbeit nun auf die Heldenreise eingehen, da diese für mich ein weiteres (sehr wohl gestalttherapeutisch orientiertes) „Model“ für persönliche Veränderung und Wachstum darstellt.

Der Monomythos von Joseph Campell

Der Mythologe Joseph Campell hat dafür die Grundlagen geliefert, in dem er unzählige Mythen, Legenden und Geschichten aus unterschiedlichsten Zeitaltern, Kulturen und Religionen zusammengetragen hat und dabei erstaunliche Übereinstimmungen gefunden hat.

Diese Übereinstimmungen hat er in einem „Monomythos“ vereint, der universellen Geschichte des Helden, der auszieht den Drachen zu töten, die Prinzessin zu retten oder den heiligen Gral zu finden. Der unzählige Abenteuer bestehen muss, sich dabei aber auf Gefährten verlassen kann. Der Tore in für ihn bis dahin unbekannten Welten durchschreiten muss. Der sich dem Drachen, dem Bösen, der „dunkeln Seite der Macht“ stellen muss. Um am Ende zurückzukehren. Mit Prinzessin oder Schatz. Aber auch der Erkenntnis, nicht mehr der zu sein, der er zu Beginn der Geschichte war. Und damit auch nicht sein bis dahin gekanntes Leben weiterleben kann.

Diese Geschichten kennen wir natürlich alle, sie sind der Stoff, aus dem im wahrsten Sinne des Wortes „die Helden“ sind. Der Stoff, der uns Menschen fasziniert, fesselt und anspricht. Wohl auch, weil wir in diesen Geschichten uns und unseren (vielleicht nur unbewussten) Wunsch nach Veränderung und persönlichem Wachstum wiederfinden.

Paul Rebillot´s Heldenreise

Diesen Zusammenhang hat Paul Rebillot erkannt und darauf aufbauend die Heldenreise konzipiert, die einen Menschen in dem Wunsch nach persönlicher Veränderung und Wachstum unterstützt. Er hat dazu eine Reihe von Phantasiereisen, Ritualen und (Gruppen-) Übungen entwickelt, mit denen der Held seine Heldenreise durchlebt. Dies geschieht beim ihm oft in szenischer und theatralischer Form (wohl nicht zuletzt durch seine Theatervergangenheit).

Rebillot gliedert die Heldenreise in die folgenden Schritte, von denen ich einige im nächsten Abschnitt näher beschreiben möchte.

Der Held

Rebillot´s Held ist dabei nicht der Ritter, der sich dem Kampf gegen den Drachen stellen muss. Und er ist auch kein Hobbit im schier ausweglosen Kampf gegen das Böse.

Der Held, der sich bei Paul Rebillot zur Heldenreise aufmacht, ist der Teil in einem Menschen, der , so Franz Mittermair, „einen Ruf erhält und ihm folgt“. Der Held ist der Teil in einem Menschen, der sich weiterentwickeln will, sich ein lebendigeres und erfüllteres Leben wünscht. Oder um es ungleich lyrischer mit den Worten von Nadya Catalfano zu sagen: „Etwas Weiches, Sanftes gleitet durch deine Finger. Und es scheint nach deiner Hand zu greifen, dich zu führen hin zu etwas Größerem. Wenn du nur den Drang spürest, ihm zu folgen“.

Der Held macht sich trotz meist heftiger innerlicher und auch äußerlicher Widerständen auf „dem Ruf zu folgen“. In den Geschichten sind das in der Tat meist lange und gefahrvolle Reisen in unbekannte Länder oder Welten. Für den Helden der Heldenreise kann dies weit unspektakulärer aber genauso „unwegsam“ der Weg aus den bekannten Rollen und Klischees sein, die er bisher gelebt hat. Während Frodo Beutlin sein geliebtes und beschauliches Auenland verlassen muss, wird sich der Held von seinem wenn nicht geliebten aber zumindest vertrauten Leben und seinen Rollen darin verabschieden müssen.

Der Dämon

Und wie im „echten Abenteuer“, das wir aus Büchern oder von der Leinwand kennen und lieben, hat der Held auch in der Heldenreise einen Gegenspieler, dem er sich im Laufe seiner Heldenreise stellen muss: den Dämon.

Der Dämon ist der Teil in einem Menschen, der eben keine Veränderung will. Der „im altbekannten Fahrwasser“ bleiben will. Der sich lieber mit den gegebenen Umständen arrangiert, als sie aktiv zu verändern und zu gestalten.

Also kein Drache, kein dreiköpfiger Höllenhund, kein Sauron auf der Jagd nach „dem einen Ring“. Sondern der Teil in einem Menschen, mit dem man sich gewöhnlich weit weniger gerne identifiziert als mit dem Helden. Die „dunkeln“ Seiten in uns. Die Seiten, die man gerne loswerden würde. Die vielzitierten „Leichen im Keller“. Aber auch die Seiten, die einem Menschen oft nicht bewusst sind, und daher oft ungleich stärken wirken als die Seite des Helden.

Die der Mensch sich zwar oft wünscht und herbeisehnt, aber dennoch genauso oft nicht wirklich mit Leben füllen kann.

Den Helden finden

Vor dem Aufbruch des Helden in der Heldenreise geht es daher auch um die Beschäftigung mit dem Helden in uns. Wer waren unsere Helden der Kindheit? Welcher Filmheld ist der unsrige? Was sieht „mein“ Held aus?

In meiner Heldenreise habe ich dabei das Haus meines Helden gesucht und die Halle meiner Ahnen, meiner Väter gefunden. Ich habe meinem Helden den Namen „Johann“ gegeben, den Namen meines Vaters. Mein Vater — ein Held.

Gefährten

Während Frodo Beutlin u.a. Gandalf und Sam an seiner Seite hat, bekommt auch der Held der Heldenreise seinen Gefährten, den er sich erwählt und der ihn auf seiner Reise unterstützt. Beim Schreiben dieser Zeilen kann ich mich aber beim besten Willen nicht mehr an meinen Gefährten erinnern, den ich mir während meiner Heldenreise ausgesucht habe? Ist selbst mein Held der „perfekter Selbstversorgern“?

Die Konfrontation

Die Heldenreise gipfelt in der Begegnung von Held und Dämon. Eine Begegnung, in der es nicht um Sieger und Besiegten geht, sondern um die Integration beider Seiten. Für mich war diese Begegnung und Integration ein sehr bewegender Moment meiner Heldenreise, die sich ein paar Tage später in dem zu Beginn des Kapitels beschriebenen Bild manifestiert hat: „Der Held und der Dämon reichen sich die Hand; sie akzeptieren sich so wie sie sind, geben dem anderen den ihm zustehenden Platz in unserer Welt und ermöglichen so ein neues, gutes Ganzes“.

Heldenreise und gestalttherapeutischer Veränderungsprozess

Warum führe ich nun die Heldenreise in Zusammenhang mit einem möglichen (gestalttherapeutischen) Veränderungsprozess auf? Zum einen sicherlich auf Grund meiner persönlichen, sehr intensiven Erfahrungen während meiner Heldenreise in Weigenheim, die sich nahtlos in meinen Veränderungsprozess während meiner Ausbildung eingefügt hat. Die Dominanz dieser Erfahrungen bzw. die Beschreibung davon in meiner Abschlussarbeit nach der Basisstufe zeigen dies deutlich. Zum anderen aber auch, weil ich etliche Aspekte der Heldenreise in den vorgestellten Veränderungsmodellen wiederfinde.

Wenn der Held „dem Ruf folgt“, ist dies sicherlich auch der hier schon beschriebene Wunsch nach Veränderung auf Grund unbefriedigter Bedürfnisse. Und wenn der Held um dem Ruf zu folgen sein bisheriges Leben und seine bisherigen Rollen verlassen muss und damit nicht selten gleich zu Beginn seiner Reise in große (Selbst-) Zweifel und Hilflosigkeit stürzt, ist das für mich die von Perls beschriebene Phase der Impasse, in dem der Mensch seine bisherige Wirklichkeit verlässt und dabei auch meist zuerst einmal jeden Halt verliert.

Die Erforschung des Helden als notwendigen Schritt vor dem Aufbruch deckt sich für mich mit Arnold Beisser´s paradoxen Theorie der Veränderung. So wie der Held dem Ruf erst dann folgen kann, wenn er sich selbst und seine Herkunft kennt, so wird Veränderung bei einem Menschen erst dann entstehen, wenn sich der Mensch wirklich bewusst macht, wer er ist, und nicht darauf konzentriert, wer er sein möchte.

Die Konfrontation von Held und Dämon findet sich meiner Meinung nach in der Phase der Polarisation wieder. Stehen sich doch dort Bedürfnis und Widerstand genauso gegenüber wie Held und Dämon, die sich beispielsweise bei meiner Heldenreise lange Zeit so unversöhnlich auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden. Unversöhnlich und damit ohne Lösung für den Konflikt zwischen Bedürfnis und Vermeidung.

Erst die Phasen der Diffusion und Kontraktion ermöglichen die Geburt des Neuen in der Phase der Expansion. Genauso wie sich der Held nach der Integration des Dämons der „höchsten Prüfung“ stellen muss, die er nur bestehen kann, in dem er sich seinen größten Ängsten stellt. Um danach neugeboren zurückzukehren.

Für Staemmler und Bock kommt vom Schritt der Polarisation zur Diffusion dabei „dem Vermeidungspol“, also dem Dämon, „eine zentrale Bedeutung für den weiteren Verlauf des therapeutischen Prozesses zu“. Denn „die Vermeidungsstrategien des Klienten sind es letztlich, die ihn verlassen, sich in eine Therapie zu begeben“ (denn ohne sie würde er sein Bedürfnis einfach befriedigen) und daher „kann der Therapeut sich mit seinem ganzen Interesse, seiner Neugierde und Entdeckungsfreude der Frage widmen, wie der Klient sich selbst im Wege steht“.

Wie passend, dass am Ende nicht Frodo Beutlin, dessen Mission es ist „den einen Ring“ zu vernichten, sondern Gollum, der genau dies verhindern will, den Ring in die „ewigen Feuer des Schicksalsbergs“ wirft und damit das Böse besiegt.

Coachender Gestalttherapeut

“Ich akzeptiere niemand als kompetenten Gestalttherapeuten, solange er noch ‘Techniken’ benützt. Wenn er nicht seinen eigenen Stil gefunden hat, wenn er sich nicht selbst ins Spiel bringen kann und den Modus (oder die Technik), die die Situation verlangt, nicht der Eingebung des Augenblick folgend erfindet, ist er kein Gestalttherapeut.” — Fritz Perls

Ich habe in den letzten Kapiteln beschrieben, woher der Wunsch nach Veränderung im gestalttherapeutischen Sinne kommt. Welche große (Wahl-) Freiheit und auch Verantwortung dabei bei jedem Einzelnen liegt. Und wie sich der Veränderungsprozess beschreiben lassen kann. Doch welche Rolle spielt dabei der Gestalttherapeut, zu dem der Klient mit seinem Wunsch nach Veränderung kommt?

Die Katalysatoren des ganzheitlichen Veränderungsprozess

Aufbauend auf der im letzten Kapitel vorgestellten Struktur des Veränderungsprozesses haben Frank M. Staemmler und Werner Bock bestimmte Katalysatoren beschrieben, die dem Klienten den Übergang von einer Phase des Veränderungsprozesses in die nächste ermöglichen bzw. erleichtern können.

Das folgende Schaubild fasst die verschiedenen Phasen und die Katalysatoren für einen Übergang von der einen in die nächste Phase zusammen.

Coaching-Beispiel

Ich möchte an dieser Stelle nicht im Detail und theoretisch auf die einzelnen Katalysatoren eingehen. Stattdessen möchte in anhand einer Arbeit im Rahmen meines Coachings bei SAP beispielhaft einige der Phasen des Veränderungsprozesses und den Übergängen dazwischen erläutern. Die Arbeit fand (für mich!) bemerkenswerterweise auf Englisch und per Videokonferenz statt.

Ich habe mit Peter, 35 Jahre, gearbeitet, der sich wie schon weiter oben erwähnt mehr in sein Team einbringen möchte, dort aber wie er sagt wenig Zuspruch erhält. Wir hatten uns zu diesem Zeitpunkt schon drei Mal getroffen (ausschließlich per Videokonferenz vor dem Rechner, da Peter in der Nähe von Montreal lebt und arbeitet).

Zu Beginn der Stunde wirkte Peter sehr frustriert. Bleich und fast bewegungslos sehe ich ihn vor seinem Rechner sitzen und mit lebloser und leiser Stimme erzählt er mir, dass er „aufgegeben haben“, weil „sein Manager ihn nicht unterstützt“. Peter sieht sich als Opfer, und würde doch so gerne seine Erfahrung und sein Wissen über Arbeitsabläufe ins Team einbringen. Wir befinden uns offensichtlich in der Phase der Stagnation.

Da ich die Problematik aus anderen Teams sehr wohl kenne, frage ich ihn, warum ihm das Thema so am Herzen liegt. Er erzählt mir davon, dass er mithelfen will, „die SAP besser zu machen“, dass er „einen Beitrag leisten will“. Diese Punkte scheinen ihm aber nicht wirklich wichtig zu sein, und klingen für mich doch sehr nach den Botschaften unseres Managements. Seine Mimik und Stimme bleiben dementsprechend weiterhin sehr reduziert. Ich zeige aber Interesse an seinen Ausführungen, halte Blickkontakt und bin „im Dialog“.

Dann kommt mit einem Male Farbe in sein Gesicht, seine Stimme wird lebhafter, ich sehe ihn sich zu ersten Mal während dieser Stunde bewegen. Er erzählt, dass er sich außerhalb der SAP sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie Entwicklungsteams in der Softwarebranche effektiver zusammenarbeiten können. In diesem Zusammenhang besucht er Konferenzen (teilweise auf eigenen Kosten) und hat sogar eine Community in Montreal gegründet, in der er in regem Austausch mit Gleichgesinnten ist, die sein Fachwissen und seine Begeisterung für das Thema gerne annehmen.

Ich teile ihm meine Wahrnehmung mit. Beschreibe, dass ich gerade einen „ganz anderen“ Peter erlebe. Und stelle ein wenig (gespielt) überrascht fest, dass er offensichtlich in der Lage ist, andere zu begeistern und Dinge mitzugestalten. Dieses Feedback von mir freut ihn ganz offensichtlich (er strahlt über das ganze Gesicht), macht ihn aber auch offensichtlich stutzig.

Meine nächste Frage liegt nun auf der Hand. Wie er es denn schaffe, innerhalb seines Teams eben nicht mitzugestalten? Und was er in der Community außerhalb der SAP anders mache? frage ich ihn, worauf ich ein erstauntes „This is a good question!“ erhalte. Mit einem Mal wird Peter klar, dass er selbst zu der Situation beiträgt. Wir sind in der Phase der Polarisation angekommen.

In den nächsten Minuten kristallisieren sich mehr und mehr zwei Pole heraus, die Peter beide sehr gut kennt aber wohl noch nie „zusammen“ betrachtet hat. Denn Peter kennt sich sowohl als „Driver“ und auch als „to be driven“ (um die englischen Begriffe zu verwenden, die ihm sehr gefallen).

Er fängt an, sich mir (!) gegenüber zu rechtfertigen, warum er nicht immer der „Driver“ sein kann und will, doch da habe ich eine bessere Idee: ich lade ihn ein, sich zwei Stühle vor seinen Rechner zu stellen: den „Driver“-Stuhl und den Stuhl, auf dem er der „Beifahrer“ ist. Peter ist zuerst überrascht, dann lässt er sich aber auf das Experiment ein. Da er sich nun nacheinander auf die zwei Stühle setzt, kann ich ihn nicht immer komplett sehen (da eine Kamera dazu nicht ausreicht). Ich lade ihn aber ein, mir zu erzählen, wie es im geht und „was gerade passiert“.

Es entsteht eine lebhafte Diskussion zwischen den Stühlen, den beiden Polaritäten. Peter wechselt mehrmals die Stühle. Ist sichtbar gerührt, vor alle auf dem Stuhl, auf dem er nicht der „Driver“ ist. Mit Tränen in den Augen sagt er „I feel so guilty“. Ich frage nach, doch an dieser Stelle möchte er nicht mehr erzählen und da ich „nur“ sein Coach und nicht sein Therapeut bin, akzeptiere ich dies in dem Moment.

Für mich bemerkenswert ist aber nichtsdestotrotz die „Verwandlung“, die Peter im Laufe dieser Arbeit durchmacht, die für mich ganz offensichtlich mit der Phase der Expansion endet. Denn als Peter sich wieder auf seinen Stuhl vor den Rechner setzt, sehe ich ihn sehr aufrecht, sichtlich gelöst und lächelnd vor mir. Er bewegt seinen Körper beim Reden und seine Hände „sprechen“ auf einem Male mit. Ich teile ihm meine Wahrnehmung mit und er bestätigt mich darin.

In die Folgestunden erlebe ich ihn in der Tat verändert: nicht länger als Opfer, sondern als einen sehr engagierten Mitarbeiter, der sich bewusst entscheidet, in welchen Situationen er „Driver“ sein will und in welchen „nur Beifahrer“. Und der seine Angebote an das Team als Einladung versteht und eine Ablehnung nicht als persönliche Kränkung.

Nachbetrachtung

Fritz Perls hätte sicherlich nicht im Traum daran gedacht, dass Stuhlarbeiten im Jahr 2011 per Videokonferenz zwischen Therapeut und Klient übertragen werden. Und ich bin in der Tat auch nach wie vor hin- und hergerissen, ob „echte“ Gestaltarbeit überhaupt am Rechner mit Videobild passieren kann. Das obige Beispiel zeigt meiner Meinung nach zumindest, dass es grundsätzlich funktionieren kann. Im Augenblick sehe ich diese Art von Arbeiten, die (noch?) die absolute Ausnahme auch im Coaching bei SAP darstellen, als Experiment und Möglichkeit des Lernens. Ich bin gespannt, was die Zukunft bringen wird.

Spannend für mich in diesem Zusammenhang ist auch die Frage, wie ich (klar zielorientiertes) Coaching und (rein prozessorientierte) Gestalttherapie zusammenbringen kann und will. Da sehe ich mich noch ganz am Anfang und nutze jeder Stunde auch für mich zum Lernen und Ausprobieren.

Was ich jedoch heute schon uneingeschränkt in meine Coachings einbringe, ist die gestalttherapeutische Haltung, mit der ich dem Coachee gegenübersitze. Ich möchte daher dieses Kapitel mit einigen Gedanken dazu abschließen.

Dialogische Haltung

Arnold Beisser beschreibt sein erstes Treffen mit Fritz Perls mit den folgenden Worten: “Was ist denn mit Ihnen passiert? Er sagte das mit solch kindlicher Unschuld und Verwunderung, dass ich es ihm nicht übel nahm. Er schien ganz einfach an dem Offensichtlichen, das einen starken Gegensatz zu dem Üblichen darstellt, interessiert zu sein. (…) Seine erfrischend freimütige Reaktion zeigte wirklich echtes Interesse. Das war erleichternd (…) Aber seine wirkliche Kraft bestand in seiner Fähigkeit, direkten Kontakt mit dem Wesentlichen der Menschen und ihrer Situation herstellen zu können”.

Beisser schreibt von echtem Interesse auf Seiten Perl´s und von Kontakt, den Perls hergestellt hat. Und nennt damit zwei wie ich finde zentrale Aspekte für die Arbeit eines Gestalttherapeuten bzw. die Haltung, mit der er seinem Klienten im wahrsten Sinne des Wortes gegenübersitzt. Miriam und Erving Polster sprechen dabei sogar von „der Faszination des Therapeuten“ für seinen Klienten. Interesse, Kontakt, Faszination: Sie alle meinen aus meiner Sicht die dialogische Haltung, die der Gestalttherapie zugrunde liegt und so grundsätzliche Folgen für die Arbeit eines Gestalttherapeuten hat.

Denn der Gestalttherapeut ist für seinen Klienten nicht vor allem interpretierender Analytiker oder scheinbar allwissender Experte. Sondern ein Mensch, der sich mit seinem ganzen Wesen, seinen Gefühlen und Meinungen zeigt. Er ist dem Klienten ein aufmerksamer und wohlwollender Begleiter auf dessen Weg zu Veränderung und Wachstum. Er ist das „Du“, an dem so Martin Buber „der Mensch zum Ich wird“.

Helfen ohne Helfer zu sein

Schließen möchte ich mit Worten von Frank-M. Staemmler und Werner Bock, die „das Gestalttherapeutensein“ sehr treffend beschreiben wie ich finde: “Ein Therapeut, der so arbeitet, braucht keine Regeln, Techniken oder gar Tricks. Er ist, der er ist, und folgt dem, was von Moment zu Moment geschieht, ohne sich zu verzetteln. Er hilft, ohne Helfer zu sein; er ist sich seiner selbst sicher ohne Arroganz; er konfrontiert, ohne hart zu werden; er ist fürsorglich, ohne Sorgen seines Klienten zu übernehmen; er ist präsent ohne Aufdringlichkeit; er ist ernsthaft, ohne seinen Humor zu verlieren; er ist liebevoll, ohne sich persönlich zu verwickeln; er lacht, ohne seinen Klienten auszulachen; er ist berührbar, ohne seine Grenzen aufzugeben”.

Die paradoxe Theorie der Veränderung

Ich habe auf den letzten knapp 40 Seiten versucht, einiges von dem, was mir in den letzten vier Ausbildungsjahren wichtig geworden ist, was „hängen geblieben ist“, was mich beschäftigt hat, aufzuschreiben, zusammenzufassen und in Verbindung zu bringen.

Ganz offensichtlich ging und geht es mir dabei meist um „Veränderung“. Die aber bekanntermaßen und paradoxerweise eben nur dann geschieht, wenn man sich zuallererst auf das einlässt was sich zeigt, was ist. Jetzt. In diesem Augenblick. Diese Erkenntnis war und ist für mich hilfreicher Ratschlag und echte Herausforderung zugleich.

Daher kann ich keinen besseren „Schlussredner“ als Arnold Beisser selbst finden, der die paradoxe Theorie der Veränderung mit den bekannten und vielzitierten Worten formuliert hat:

Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht, wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. Veränderung ergibt sich nicht aus dem Versuch des Individuums oder anderer Personen, seine Veränderung zu erzwingen, aber sie findet statt, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mühe macht, zu sein, was man ist; und das heißt, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen.“

Gras unter meinen Füssen

Ich durfte mich in den letzten 6 Jahren am Gestalt-Zentrum Baden oft erfahren und spüren. Ich durfte vieles lernen. Über mich und über andere. Ich durfte lachen und weinen, laut toben und still sein. Ich durfte geben und nehmen. Ich durfte mutig und hilflos sein. Ich durfte ich sein.

Ich habe mit anderen getanzt und alleine auf dem Berg gesessen. Ich bin meinem Helden und meinem Dämon begegnet. Hab (meine) Grenzen erfahren und vertreten. Bin daran gewachsen. Und wohl auch ein Stückchen erwachsener geworden.

In diesem Sinne habe ich in diesen sechs Jahren sicherlich oft und viel „Gras unter meinen Füssen“ gespürt, wofür ich Hanna, Manfred, Felicitas und Ute sehr, sehr dankbar bin.

Ich möchte schließen mit Worten von Bruno-Paul de Roeck, die wie ich finde sehr gut beschreiben, wer ich nach 4 Jahren gestalttherapeutischer Weiterbildung bin:

„Ich habe einen langen Weg zurückgelegt. Ich weiß nicht, ob ich einen Schritt weiter bin als damals. Manchmal scheint es mir, als liefe ich einen jahrelangen Weg, der sich zu einem Kreis umbiegt und der mich immer wieder zum Ausgangspunkt bringt, der jedesmal tiefer liegt.

Dennoch hat sich etwas verändert: ich bin nicht länger mein Feind.

Es wachsen mir freundliche Blümchen hinter den Ohren. Manchmal läuft das Fass über, die Tränen über meine Wangen, uns sie verbrennen mir nicht mehr Kehle und Magen. Oft wage ich es, dir in die Augen zu sehen, um dich zu sehen anstelle meiner Phantasie über dich. Manchmal verkrampfen sich meine Hände nicht. Manchmal wage ich es, mich der Zärtlichkeit anzuvertrauen. Mehr und mehr wird die Peitsche des Vollkommenheitsideals ersetzt durch den kecken Humor eines lumpigen Neurotikers, der sich sehenlassen kann“.

Literaturverzeichnis

· Beisser Arnold R.: Wozu brauche ich Flügel. Peter Hammer Verlag, 2009.

· Blankertz, Stefan / Doubrawa Erhard: Lexikon der Gestalttherapie, Peter Hammer Verlag, 2005.

· Campbell Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Insel Taschenbuch,1999.

· De Roeck, Bruno-Paul: Gras unter meinen Füssen. Rowohlt Taschenbuch, 2002.

· Förstel Andreas: Verantwortung und Veränderung. Abschlussarbeit am Gestalt-Zentrum Baden, 2010.

· Ginger Anne / Ginger Serge: Gestalttherapie. Beltz Verlag,

· Mittermair, Franz: Neue Helden braucht das Land. Eagle Books, 2009.

· Perls, Frederik: Gestalt-Therapie in Aktion. Klett-Cotta Verlag, 1969.

· Polster, Miriam / Polster, Erving: Die dialogische Dimension der Gestalttherapie. Aus: Gestaltkritik. www.xyz.de.

· Polster, Miriam / Polster, Erving: Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie. Peter Hammer Verlag, 2003.

· Rebillot, Paul: Die Heldenreise. Das Abenteuer der kreativen Selbsterfahrung. Überarbeitete Auflage. Eagle Books, 2011.

· Roth, Philip: Nemesis. Carl Hansen Verlag, 2010.

· Russel, J. Michael: In Ketten frei? Über Sartre, Gestalttherapie und Verantwortung. Zentrum für Gestalttherapie Würzburg, 1989.

· Staemmler Frank-M. / Bock, Werner: Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie. Peter Hammer Verlag, 2007.

· Staemmler Frank-M.: Der leere Stuhl. Pfeiffer Verlag, 1995.

· Staemmler Frank-M.: Der Geist der Gestalttherapie in Aktion: Methoden und Techniken. Zentrum für Gestalttherapie Würzburg, 1998.

· Staemmler Frank-M.: Entdeckungen — was es in einer Gestalttherapie zu entdecken gibt. Zentrum für Gestalttherapie Würzburg, 1998.

· Staemmler Frank-M.: Der eine braucht die andere. Dialog und Interpretation in der Gestalttherapie. Zentrum für Gestalttherapie Würzburg, 1998.

· Staemmler Frank-M.: Was ist eigentlich Gestalttherapie? EHP Verlag, 2009.

· Staemmler Frank-M.: Die Kraft der Beziehung. Was eine Gestalttherapie in Bewegung hält. Aus: Erhard Doubrawa, Frank-M. Staemmler: Heilende Beziehung, Peter Hammer Verlag 2003.

· Yontef, Gary M.: Gestalttherapie als dialogische Methode. Aus: Erhard Doubrawa, Frank-M. Staemmler: Heilende Beziehung, Peter Hammer Verlag 2003.

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Jochen Guertler

Design Thinker, Coach, Facilitator, Strategic Design Consultant, Gestalt Therapist