Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt. — Teil 1
Über den Wunsch nach Veränderung und Wachstum. Und einen
gestalttherapeutischen Weg dorthin.
“Sagt die Raupe zum Schmetterling: Sie sind aber auch nicht mehr der, der sie einmal waren.“
Vorwort zur dieser Veröffentlichung
Den folgenden Text habe ich im Jahr 2011 zum Abschluss meiner Ausbildung zum Gestalttherapeuten am Gestaltzentrum Karlsruhe geschrieben.
Mein damaliger Ausbilder und Mentor Manfred Reichert ist leider vor kurzem verstorben, was für mich Anlass war, einen Blick zurück zu werfen: auf die intensiven Jahre, die ich am Gestaltzentrum während der Ausbildung aber auch in unzähligen Einzelstunden, verbringen durfte.
Manfred war für mich mit Sicherheit einer der prägensten Menschen meines bisherigen Lebens und mit der Veröffentlichung dieses Textes an dieser Stelle möchte ich mich dafür bedanken.
Auch wenn der Text mittlerweile schon einige Jahre “auf dem Buckel” hat, “stimmt” er in weiten Teilen immer noch sehr für mich. Darüberhinaus finde ich es sehr spannend zu sehen, wie viele Aspekte, die ich im Folgenden beschreiben werden, auch auf meine derzeitige Tätigkeit als Innovationsberater und Design-Thinking-Coach zutreffen, in der ich Teams, Organisationen und Firmen in deren Veränderungsprozessen hin zu einer kreativeren, innovativeren und agileren Kultur begleite und unterstütze.
Ich sehe vieles, was der Design-Thinker vom Gestalt-Therapeuten lernen kann und umgekehrt. Daher ist dieser Text für mich aktueller denn je.
Dieser Artikel ist Teil 1 des gesamten Textes, die Fortsetzung findet sich im Teil 2.
Einleitung
“Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt”. Wir alle haben diesen Satz, so oder so ähnlich, wohl schon als “Entschuldigung” meist uns selbst gegenüber gebraucht denke ich. Und er enthält meiner Meinung zwei Aspekte, die auch im folgenden Text immer wieder auftauchen werden.
Einerseits der Wunsch nach Veränderung: „Ich würd ja wollen“. Zwar im Konjunktiv formuliert, um den Wunsch vielleicht nicht zu drängend und konkret werden zu lassen. Aber doch mit der klaren Kenntnis darüber, was sich für mich ändern sollte, wenn ich mir „etwas wünschen“ dürfte.
Und zum anderen die Entschuldigung und Ausrede „wenn ich nur könnt“. Denn wie soll ich beispielsweise die gewünschte Veränderung erreichen, wenn ich letztendlich gar nicht dafür verantwortlich bin, wenn sie nicht in meiner Macht liegt?
Warum gerade dieses Thema?
Warum möchte ich über den Wunsch nach Veränderung schreiben? Und einen Weg dorthin? Zum einen sicherlich weil mich das Thema durch den scheinbaren (?) Widerspruch fasziniert, der sich zeigt, wenn man sich aufmacht „sich zu verändern“. Denn Veränderung heißt auch immer eine Verabschiedung von Vertrautem und Bekannten. Sei es im Inneren oder Äußeren.
Im Inneren ein Abschied von Denkmustern, Rollen und Verhaltensweisen. Die man einerseits wohl durchaus ändern will, die aber andererseits auch bekannt und vertraut sind. Und oft nicht im Traum daran denken, sich einfach so verabschieden zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn — aber nicht mit mir mein Lieber.
Oder im Äußeren. Eine berufliche Neuorientierung, weil man selbst sich verändert hat und neue Aufgaben sucht, die einen ausfüllen und zu denen man sich mehr berufen fühlt. Die dann aber auch mit einem Abschied vom vertrauten Umfeld einhergeht.
Und schlussendlich: Ich möchte über Veränderung schreiben, weil mein Wunsch nach Veränderung mich letztendlich dazu gebracht hat, mich auf den Weg zu machen, den ich wohl im Jahre 1998 begonnen habe, als ich zum ersten Mal bei Hans-Dieter Knecht in dessen (wie er immer mit schelmischen Grinsen betonte „untypischen“ Gestalt-) Praxis saß, und der mich vor gut 6 Jahren ins Gestalt-Zentrum Baden geführt hat.
Ein Weg, auf dem ich mich sicherlich verändert habe. Aber auch ein Weg, auf dem ich die oben angesprochenen Widersprüche am eigenen Leib erfahren habe. Ein Weg, der für mich mit dieser Arbeit sicherlich nicht zu Ende geht (Gott sei Dank!), aber sicherlich eine Zwischenetappe findet.
Weil der Wunsch nach Veränderung auch in Zukunft immer wichtig sein wird für mich. Weil dieser Wunsch (und die darin liegende Spannung mit dem „sich nicht ändern wollen“) für mich, wie wohl für jeden Menschen, der Antriebsmotor ist, der uns, Stück für Stück zu dem macht, der wir sind.
Herangehensweise
Ich werde mich dem Thema dieser Arbeit im Folgenden von verschiedenen Seiten nähern.
Zuallererst mit der Frage, woher der Wunsch nach Veränderung aus gestalttherapeutischer Sicht überhaupt kommt. Darauf aufbauend möchte ich die Frage nach Freiheit und Verantwortung diskutieren. Hab ich überhaupt die Freiheit mich zu ändern, und in wessen Verantwortung liegt es letztendlich?
Ein Schwerpunkt stellt dann die Beschreibung des Veränderungsprozesses an sich dar, wobei ich dabei verschiedene „Modelle“ verfolge. Und zu guter Letzt natürlich die Frage, wie ein Gestalttherapeut dabei „helfen“ kann.
Darüberhinaus möchte ich auch eigene Erfahrungen einfließen lassen, die ich in den letzten Jahren bei meinem Veränderungsprozess gemacht habe bzw. die ich im letzten Jahr bei der Arbeit mit mit Coachees und Klienten erlebt habe.
Der Wunsch nach Veränderung
„Ein gesunder Mensch ist für mich jemand, der guten Kontakt zur Realität hat: zu der großen und der kleinen Welt um ihn herum und in ihm selbst.“ — Bruno-Paul de Roeck
Fritz Perls hat es meiner Meinung nach auf den Punkt gebracht: „Der Wunsch nach Veränderung ist immer begründet in nicht befriedigten Bedürfnissen“.
Und obwohl (oder gerade weil) ich mich in dieser Arbeit vor allem mit diesem Wunsch und den Möglichkeiten des (Gestalt-) Therapeuten den Klienten darin zu unterstützen, beschäftige, möchte ich mit dem im Sinne der Gestalttherapie „gesunden“ Menschen beginnen. Einem Menschen also, der — kurzum gesagt — seine Bedürfnisse wahrnimmt und sie verantwortungsvoll für sich und seine Umwelt befriedigt.
Im Herbst 2010 wurde ich während meiner Annapurna-Umrundung in Nepal stiller Zeuge der folgenden Szene, die für mich ein sehr schönes Beispiel für einen „gesunden“ Menschen darstellt.
Während der mittäglichen Rast beobachte ich ein kleines Mädchen, vielleicht 3 oder 4 Jahre alt, das vor einer Hütte auf der anderen Seite der Straße in der Sonne sitzt. Ein Tourist hat ihr offensichtlich einen grünen Luftballon geschenkt und in dem Moment, in dem ich sie beobachte, ist das Mädchen voll und ganz damit beschäftigt, den Luftballon zu ziehen, zu dehnen und irgendwie Luft hineinzublasen. Mit weit aufgeblasenen Bäckchen, hochkonzentriert und ein wenig außer Atem bei all dem Luftballonaufblasen sitzt das Mädchen in der Sonne und hat scheinbar alles andere um sich herum vergessen.
All die Wanderer, die in dem kleinen Dorf Rast machen. Die Ziegen, die meckernd über die Straße springen. Das Geschrei der anderen Kindern, die das eine oder andere Bonbon von den müden Gästen ergattern wollen. Nein, es gibt für sie in diesem Augenblick nur diesen grünen Luftballon.
Dann mit einem Male hält das Mädchen inne und schaut sich suchend nach der Mutter um, die in vielleicht 5 Meter Entfernung ebenfalls vor der Hütte sitzend mit dem Schneiden und Waschen von Gemüse beschäftigt ist. Das Mädchen springt auf, geht zu ihrer Mutter und drückt sich förmlich in ihre Arme. Die Mutter unterbricht bereitwillig ihre Arbeit und spricht und lacht mit dem Mädchen.
Nach wenigen Minuten und scheinbar genauso plötzlich wie zuvor löst sich das Mädchen wieder von ihrer Mutter, sucht sich einen neuen Platz am Brunnen und widmete sich wieder ausschließlich dem grünen Luftballon.
Doch keine 5 Minuten später verliert es erneut das Interesse daran und erblickt das Brüderchen, das gerade mit den kleinen Kätzchen spielt, die sich am Rand des Brunnen in der Sonne aalen. Das Mädchen packt den grünen Luftballon in ihre Tasche und geht zu ihrem Brüderchen und den Kätzchen.
Der Mensch als sich selbst regulierender Organismus
Nach Fritz Perls ist der Mensch, wie jedes andere lebendige Wesen, ein sich selbst regulierender Organismus, der aus zahlreichen Organen und Funktionen besteht, die alle ihren eigenen Stellenwert als Teil des Ganzen haben. Der Mensch als Organismus ist dabei im wahrsten Sinn des Wortes nicht „alleine auf der Welt“ und auch nicht auf Dauer alleine und autark überlebensfähig. Perls redet hierbei von einer „Umwelt“, die jeder Organismus braucht, um „wesentliche Stoffe auszutauschen“. Weniger abstrakt formuliert braucht der Mensch bekanntermaßen zum Beispiel Luft zum Atmen, Nahrung und Wasser. Er braucht ein soziales Umfeld und zwischenmenschliche Beziehungen. Er braucht den (non-) verbalen Austausch mit anderen und die Möglichkeit Gefühle (mit-) zu teilen, um nur ein paar „wesentliche Stoff“ zu nennen, die der Organismus „Mensch“ mit seiner „Umwelt“ austauschen muss, um überleben zu können.
Ein gesunder Organismus ist daher im ständigen Austausch mit sich und seiner Umwelt um die Bedürfnisse zu befriedigen, die innerhalb des Organismus auftauchen. Es können dabei problemlos viele Bedürfnisse gleichzeitig existieren, im gesunden Organismus wird immer das in einem Augenblick „wichtigste“ Bedürfnis „zuoberst“ auftauchen und befriedigt werden. Das alles passiert „automatisch“ und stellt das gesunde Leben des Organismus sicher.
„Die organismische Selbstregulation“, so Gary M. Yontef, „ist ein Prozess, der sich ständig erneuert und auf Feedback und fortdauernd neuer ´kreativer Anpassung` beruht“. Oder wie Bruno-Paul de Roeck formuliert: „Der Organismus lässt immer wissen, was jetzt wichtig ist. Er äußert seine Vorlieben. Wenn wir offenstehen für das, was in uns geschieht, tut er es auf offene Weise. Wenn wir die Signale unterdrücken, oder zu zensieren versuchen, tut er es auf versteckte Art“.
Kontakt, Kontaktgrenze und Kontaktzyklus
Der dafür notwenige Austausch, der Kontakt, zwischen Organismus und seiner Umwelt findet an der Kontaktgrenze statt (oder nach Perls der „Ich-Grenze“). Die Haut ist bestes Beispiel für die Kontaktgrenze eines Organismus. Denn die Haut trennt den Menschen (den Organismus) einerseits ab von seiner Umwelt, verbindet ihn aber gleichzeitig auch mit ihr, indem der Mensch z.B. über seiner Haut den Wind oder Berührungen von anderen Menschen wahrnehmen und aufnehmen kann, oder — um es mit den Perls´schen Worten zu sagen — mit seiner Umwelt interagieren und in Austausch treten kann.
Der von Fritz Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman entwickelte Kontaktzyklus beschreibt darauf aufbauend, wie ein aufkommendes Bedürfnis, eine Situation oder eine Gestalt an der Kontaktgrenze idealtypisch befriedigt und damit abgeschlossen und integriert wird. Der Kontaktzyklus setzt sich hierbei im Wesentlichen aus vier Phasen zusammen (Vorkontakt, Kontaktnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt). Synonym dazu wird oft der Begriff der Kontaktkurve oder der Gestaltwelle verwendet, die meist eine etwas genauere Unterteilung des Kontaktzyklus´ beinhaltet.
Ich möchte an dieser Stelle nicht abstrakt auf die einzelne Phasen eingehen, sondern zurück zu meinem Beispiel vom Anfang dieses Kapitels kommen.
Zu Beginn ist das Mädchen sich selbst genug und voll und ganz mit dem grünen Luftballon beschäftigt. Irgendwann bemerkt sie aber eine stetig wachsende Unruhe (Vorkontakt) und danach ihren „Hunger“ auf das Kuscheln mit der Mutter (Kontakt mit dem eigenen Bedürfnis). Sie nimmt (Augen-) Kontakt mit ihrer Umwelt auf, die in diesem Fall vor allem aus ihrer Mutter besteht. (Kontakt mit der Umwelt). Das Mädchen steht auf und begibt sich zu ihrer Mutter und drängt sich in ihre Arme (Aggression). Dort verharrt sich ein paar Minuten und genießt das Geborgensein bei der Mutter (Assimilation und Integration). Danach steht sie wieder auf, begibt sich zu dem Brunnen und widmet sich wieder dem grünen Luftballon (Nachkontakt), bis ein neues Bedürfnis auftauchen wird, in unserem Fall, das Brüderchen und die kleinen Kätzchen, die sich in der Sonne aalen.
Der gesunde Mensch
Dieses Beispiel mag zugegebenermaßen sehr einfach sein, es zeigt aber meiner Meinung nach sehr gut, was es heißt, wenn ein Mensch ein sich ihm zeigendes Bedürfnis im Austausch mit seiner Umwelt befriedigt und integriert. Um sich danach dem nächsten Bedürfnis, der nächsten Situation, der nächsten Gestalt zu widmen. Und dadurch im Fluss des Lebens, des Augenblickes ist. Im Kontakt mit sich und seiner Umwelt.
Solange dies geschieht, ist der Mensch im gestalttherapeutischen Sinne gesund und wird kaum den Wunsch nach Veränderung spüren oder dafür gar Unterstützung bei einem Therapeuten suchen. „Ein völlig gesunder Mensch“, so Fritz Perls, „fühlt sich und die Wirklichkeit ganz und gar.“
Unbefriedigte Bedürfnisse. Unvollendete Gestalten
Doch was passiert, wenn der Kontaktzyklus nicht in seiner idealtypischen Weise ablaufen kann? Wenn es zu Kontaktstörungen kommt?
Wenn das Mädchen beispielsweise ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe mit ihrer Mutter zwar wahrnimmt, sich aber nicht traut, auf die Mutter zuzugehen, weil sie am Gesichtsausdruck der Mutter zu erkennen glaubt, dass diese gerade keine Zeit dafür hat. Oder weil die Mutter in ähnlichen Situationen zuvor abweisend reagiert hat. Oder wenn tatsächlich niemand da ist, und das Mädchen sich zwangsläufig selbst versorgen muss? Oder wenn das Mädchen zwar auf die Mutter zugeht, diese sich aber abwendet, weil sie gerade zu sehr mit der Zubereitung des Essens beschäftigt ist?
Die Konsequenz für das Mädchen ist in allen Fällen die gleiche: ihr Bedürfnis, ihr Wunsch nach körperlicher Nähe, nach Geborgenheit, wird nicht in dem Maße befriedigt, wie sie es in diesem Augenblick gebraucht hätte. Es bleibt ein unbefriedigtes Bedürfnis, eine im gestalttherapeutischen Sinne ungeschlossene Gestalt zurück. Die in unserem Beispiel natürlich nicht zwangsweise zu einem „echten“ und nachhaltigen Problem für das Mädchen werden muss. Nichtsdestotrotz aber im Organismus des Mädchen „stecken“ bleibt, und ähnlich wie ein unverdautes Essen „schwer im Magen“ liegen kann.
Wir Neurotiker
Wir haben alle hunderte, wenn nicht tausende solcher ungeschlossenen Gestalten in uns. Das ist so, und grundsätzlich auch kein Grund zur Besorgnis. Und dennoch können sie uns daran hindern, ein Bedürfnis, dass sich jetzt gerade, in diesem Augenblick zeigt, in einer für uns in diesem Augenblick angemessen Art und Weise befriedigen zu können. Weil die ungeschlossenen Gestalten „nachwirken“ und uns von einem gegenwärtigen Erleben abhalten.
Indem wir unser Bedürfnis im Extremfall beispielsweise gar nicht mehr wahrnehmen, weil wir vielleicht zu oft erlebt haben, dass wir es im Kontakt mit der Umwelt nicht in einer für uns befriedigenden Art und Weise auflösen können. Oder indem wir Tricks und Kniffe entwickeln, uns Rollen aneignen oder Spielchen spielen, um von unserer Umwelt das zu bekommen, war wir eigentlich benötigen, es aber nicht eigenverantwortlich befriedigen können oder wollen.
Für Fritz Perls sind wir dann Neurotiker: “Ich nenne jeden Menschen neurotisch, der seine Kraft darauf verwendet, andere zu manipulieren und sich weigert, selbst zu wachsen“.
Konsequenzen
Das kleine Mädchen, dass ihr Bedürfnis nach körperlichen Nähe und Geborgenheit mit der Mutter oder ihrem (familiären) Umfeld nie oder viel zu selten gemäß der obigen Gestaltwelle befriedigen konnte, kann unter Umständen auch als erwachsene Frau Probleme haben, dieses Bedürfnis in einer Beziehung oder Freundschaft zu zeigen und auf eine für sie gute Art und Weise zu befriedigen.
Weil sie als Kind vielleicht gelernt hat, genau dieses Bedürfnis zu verdrängen. Gelernt hat, sich in diesem Punkt lieber selbst zu versorgen, anstelle das im Kontakt mit ihrer Umwelt und anderen Menschen zu tun. Gelernt hat ohne Nähe und Geborgenheit auszukommen. Und als erwachsene Frau dann vielleicht zurückhaltend, introvertiert, „verkopft“ oder emotionslos auf andere wirkt. Und sich selbst wohl so einschätzt.
Oder weil sie als Kind gelernt hat, dass ihr Bedürfnis nur dann von der Mutter oder ihrem (familiären) Umfeld gestillt wird, wenn sie brav und fleißig war. Oder sich besonders hübsch gemacht hat. Oder anderweitig „Leistung“ erbracht hat dafür. Und als erwachsene Frau dann vielleicht von einem nie zu erfüllenden Leistungsanspruch sich selbst gegenüber getrieben ist.
Der Wunsch nach Veränderung
An diesem Punkt sind wir wieder am Beginn des Kapitels angekommen. Bei dem Wunsch nach Veränderung auf Grund unbefriedigter Bedürfnisse.
Und dieser Wunsch lässt die Frau vielleicht zu guter Letzt an der Tür eines Gestalttherapeuten klingeln. Weil sie „unzufrieden“ mit sich ist. Weil sie eben nicht mehr introvertiert und emotionslos sein möchte. Weil sie spürt, dass ihr eigener Leistungsanspruch sie früher oder später in den Burn-Out treiben wird oder sie schon genau dort ist. Weil sie wegkommen möchte von den Rollen und Spielchen, auf die sie keine Lust mehr hat, aber dennoch immer weiter spielt.
Freiheit und Verantwortung
Schicksal und was daraus entstehen kann
Arnold Beisser ist 25 Jahre alt und auf dem Weg nach Europa, in dem gerade der 2. Weltkriegt wütet, um dort als Kriegsberichterstatter zu arbeiten, als er völlig überraschend an Polio (Kinderlähmung) erkrankt, einer zu dieser Zeit noch unheilbaren Krankheit.
Bis dahin lebte er den amerikanischen Traum vom „Alles ist möglich, wenn man es nur versucht“. Er ist nationaler Tennis-Champion und einer der jüngsten Professoren der amerikanischen Universitäts-Geschichte. Von heute auf morgen ist Beisser fast komplett gelähmt und für viele Monate an die „eiserne Lunge“ gefesselt, die ihn zu Beginn seiner Krankheit am Leben erhält. Mit einem Mal ist sein bisher so geradlinig und zielstrebig geplantes Leben dahin, ein Schicksalsschlag, der sein Leben auf nachhaltigste Weise verändert.
Er trifft irgendwann auf Fritz Perls und wird ihm Freund und Schüler. Seine paradoxe Theorie der Veränderung (auf die ich an späterer Stelle noch eingehen werde), wonach Veränderung nicht dadurch geschieht, indem man sich darauf konzentriert, etwas unbedingt ändern zu wollen, sondern indem man zuallererst akzeptiert was ist, wird ein zentraler Bestandteil der modernen Gestalttherapie. Er leitet, an den Rollstuhl gefesselt, für viele Jahre eine psychiatrische Klinik, hat Frau und Familie und stirbt 1990 nach einem erfüllten und reichen Leben.
Bucky Kantor ist ungefähr im gleichen Alter wie Beisser, als er im Jahr 1944 ebenfalls an Polio erkrankt. Er ist Sportlehrer und begnadeter Turmspringer und betreut zu diesem Zeitpunkt in Newark Schülerinnen und Schüler während deren Sommerferien. Viel lieber wäre er aber wie alle seine Freunde an der Front in Europa. Aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit aber wurde er als untauglich eingestuft. Eine „Schmach“, die ihm schwer zu schaffen macht, und die er mit einem beinahe krankhaften (neurotischen?) Verantwortungsbewusstsein für seine Schülerinnen und Schüler auszugleichen versucht.
Auch Kantor muss für viele Monate in die „eiserne Lunge“, und ist danach für immer „ein Krüppel“, wie er selbst sagt. Er ist zwar an keinen Rollstuhl gebunden, kann sich aber nur noch mit Krücken und unter größten Kraftanstrengungen bewegen.
Obwohl ihm seine Verlobte ihre Liebe mehrfach beteuert und ihn ohne Zögern auch mit seiner Behinderung heiraten will, vertreibt er sie aus seinem Leben und wird ein eigenbrötlerischer und frustrierter Mann, der alleine Gott für sein Schicksal verantwortlich macht. Er stirbt nach vielen Jahren einsam und verbittert mit der tiefen Überzeugung, dass Gott und die Welt gegen ihn waren.
Bucky Cantor ist im Gegensatz zu Arnold Beisser keine reale Person, sondern die Erfindung von Philip Roth, der Bucky´s Geschichte in seinem Roman „Nemesis“ erzählt (dessen Lektüre ich nur empfehlen kann, auf den ich aber an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde). Mehr oder weniger zufällig habe ich Arnold Beisser´s Autobiografie „Wozu brauche ich Flügel“ und Bucky Cantor´s Nemesis parallel gelesen. Zwei mehr oder weniger identische Schicksale mit so unterschiedlichen Auswirkungen für das weitere Leben der beiden Betroffenen.
Hineingeworfen ins Leben
Sowohl der reale Lebenslauf Beisser´s als auch der fiktive Cantor´s zeigen, dass ein Mensch natürlich äußeren Einflüssen unterworfen ist.
Eine plötzliche, schwere Krankheit, der überraschende Verlust des Arbeitsplatzes, der unerwartete Tod eines mir wichtigen Menschen. Das alles sind Ereignisse, die letztendlich nicht in unserer Macht stehen. Genauso wenig wie wir uns unsere Eltern (und deren Erziehungsmethoden) aussuchen konnten, oder die Zeit, das Land und die gerade herrschenden Umstände, in die wir durch unsere Geburt „hineingeworfen“ wurden. Wir alle sind ständig materiellen, politischen und sozialen Umständen unterworfen, die wir häufig auch nicht ändern können (zumal nicht in jedem von uns ein Mahatma Ghandi oder Martin Luther King steckt).
Dieses scheinbare „Ausgeliefertsein“ steht nun im auf den ersten Blick krassen Gegensatz zu der Aussage von Fritz Perls, für den „die volle Verantwortung für sein Leben zu übernehmen“ die Grundvoraussetzung für Veränderung und persönlichem Wachstum ist.
Existenzialismus
In dieser Aussage wird der Einfluss des Existenzialismus auf die Gestalttherapie deutlich. Der Mensch hat dabei zwar grundsätzlich immer die Freiheit zu entscheiden, nur meist in einem mehr oder weniger eng gesteckten Rahmen. Er ist, wie es Jean-Paul Sartre etwas überspitzt formuliert, „verurteilt frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, andererseits aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut.”
Das Sartre-Zitat lässt ahnen, warum das Bewusstsein von Verantwortung so oft eher als belastend, denn als befreiend empfunden wird. Denn die Welt, in der ich Verantwortung übernehmen soll, kann ich mir nicht oder nur in sehr eingeschränktem Masse selbst wählen. Und oft sind die verbleibenden Möglichkeiten so, dass man sich der Verantwortung lieber entziehen möchte, statt sie mit allen Konsequenzen zu tragen.
Bucky Cantor hat sich dieser Verantwortung entzogen, indem er alleine Gott verantwortlich macht. Arnold Beisser stellt sich irgendwann dieser Verantwortung. Wer weiß was passiert wäre, wenn auch Bucky Cantor zur richtigen Zeit auf Fritz Perls getroffen wäre?
Freiheit und Verantwortung
Wir haben als Mensch offensichtlich oft nicht die Freiheit, die Umstände, in denen wir leben, zu wählen, und wir tragen oft auch nicht die Verantwortung dafür. Wir haben aber als Mensch immer die Freiheit und die Verantwortung uns zu entscheiden, wie wir auf diese Umstände antworten oder reagieren, welche Bedeutung wir ihnen geben. Diese Freiheit und Verantwortung kann man einem Menschen nicht abnehmen. Man kann sie ihm aber auch nicht wegnehmen, es sei denn man bringt ihn um den Verstand oder um sein Leben.
Der Klient, der mit dem Wunsch nach Veränderung zu einem Gestalttherapeuten kommt, wird oft genau diese Verantwortung nicht übernehmen wollen, aber wohl auch die damit verbundene Freiheit nicht sehen.
Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und ganzheitlichen Veränderung kann es dann ein wichtiger Schritt sein, ihm diese Verantwortung „aufzubürden“, zuzumuten aber auch zuzutrauen. Ihm aber gleichzeitig immer und immer wieder auch seine Freiheit und die damit verbundenen Wahlmöglichkeiten im Hier und Jetzt bewusst zu machen. Denn „ohne Bewusstheit“, so Fritz Perls, „gibt es keine Kenntnis einer Wahlmöglichkeit“.
Ich habe dafür immer das Bild einer Weggabelung vor mir. Und vielleicht ist der Weg vom Wunsch nach Veränderung hin zu Veränderung und Wachstum auch ein kontinuierliches Bewusstmachen von genau dieser Entscheidungsfreiheit, ob es „links“ oder „rechts“ weitergeht.
Oder um es mit den Worte von Fritz Perls zu sagen: „Solange man ein Symptom bekämpft wird es schlimmer. Wenn man Verantwortung übernimmt für das, was man sich selber antut, wie man seine Symptome hervorbringt, wie man seine Krankheit hervorbringt, wie man sein ganzes Dasein hervorbringt — in dem Augenblick, in dem man mit sich selbst in Berührung kommt — beginnt Wachstum, beginnt die Integration, die Sammlung“.
Dieser Artikel ist Teil 1 des gesamten Textes, die Fortsetzung findet sich im Teil 2.