Einführung in: Herbert Marcuse: “Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung”

Jan Schiffer
6 min readFeb 13, 2018

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Der 1934 veröffentlichte Text “Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung” von Herbert Marcuse stellt einen der Schlüsseltexte der Faschismusanalyse der Kritischen Theorie dar. Trotz seiner enormen Relevanz wird der Text heutzutage meiner Einschätzung nach unzureichend rezipiert, weshalb ich hier mit einer kleinen Zusammenfassung zum Lesen dieses Textes anregen will.

Die faschistische Weltauffassung fasst Marcuse unter dem Begriff des “heroisch-völkischen Realismus” zusammen. Direkt zu Beginn zitiert er eine Formulierung des NS-Pädagogen Ernst Krieck, welches diese Geisteshaltung auf den Punkt bringt:

“ Es erhebt sich… das Blut gegen den formalen Verstand, die Rasse gegen das rationale Zweckstreben, die Ehre gegen den Profit, die Bindung gegen die >Freiheit< zubenannte Willkür, die organische Ganzheit gegen die individualistische Auflösung, Wehrhaftigkeit gegen bürgerliche Sekurität, Politik gegen den Primat der Wirtschaft, Staat gegen Gesellschaft, Volk gegen Einzelmensch und Masse”

Kernelemente des “heroisch-völkischen Realismus”

Marcuse macht eine Reihe von Kernelementen dieses “heroisch-völkischen Realismus” aus:

  • Die “Heroisierung des Menschen”: Im heroisch-völkischen Realismus herrscht ein Menschenbild vor, welches, gespeist aus Mythen über die Wikingerzeit, preußischem Soldatengeist, dem aufklärerischen rationalistischem Menschenbild das Bild des irrationalen, uneingeschränkt opferbereiten, von Naturtrieben gelenkten Helden. Die höchste Form dieses Helden ist dabei der faschistische Führer: Seine Politik braucht keine rationale Rechtfertigung, seine Autorität ist eine “natürliche Urgegebenheit”. So entzieht sich der “Führer” der moralischen Bewertung, hierbei übernimmt der heroisch-völkische Realismus Formulierungen Nietzsches. Marcuse bezeichnet diese Auffassungen auch als “politischen Existenzialismus”, welcher Dinge als einfach existent darstellt und so der Notwendigkeit einer Rechtfertigung entzieht.
  • Der “irrationalistische Naturalismus”: In engem Zusammenhang mit dem politischen Existenzialismus sieht Marcuse die Tendenz, Dinge der Kritik zu entziehen, indem man sie kurzerhand zur Natur erklärt. Der irrationalistische Naturalismus stellt die Realtität “jenseits der Vernunft”. Marcuse schreibt:

“Die mythisch-vorgeschichtliche Natur hat in der neuen Weltanschauung die Funktion, als der eigentliche Gegenspieler gegen die selbstverantwortliche rationale Praxis zu dienen. Diese Natur steht als das schon durch ihr Dasein Gerechtfertigte gegen alles, was erst der vernünftigen Rechtfertigung bedarf, als das schlechthin nur Anzuerkennende gegen alles erst kritisch zu Erkennende, als das wesentlich Dunkle gegen alles, was nur im erhellenden Lichte Bestand hat, als das Unzerstörbare gegen alles der geschichtlichen Veränderung Unterworfene”

  • Der Universalismus: Als Erstes gilt es festzustellen, dass hiermit nicht etwa der Universalismus im Sinne des Strebens nach einer universalen Befreiung/der Universalismus als Gegensatz zum Relativismus gemeint ist. Marcuse bezeichnet mit Universalismus vielmehr eine Glorifizierung der Totalität:

Das gesellschaftliche Ganze als eigenständige und primäre Wirklichkeit vor den Individuen wird kraft seiner puren Ganzheit auch schon zum eigenständigen und primären Wert: das Ganze ist als Ganzes das Wahre und Echte

Politischer Inbegriff dieses Ganzen ist dabei das “Volk”: Es wird als natürliche, organische Einheit ohne Klassenwidersprüche etc. aufgefasst und glorifiziert. Der Universalismus im Sinne der Faschismusanalyse Marcuses ist untrennbar mit dem Gedanken der Volksgemeinschaft verbunden.

Der Verhältnis des “heroisch-völkischen Realismus” zum Liberalismus

Im Folgenden stellt Marcuse fest, dass die Totalitären vom Marxismus bis zur bürgerlichen Gesellschaft alle ihre Gegner unter dem Kampfbegriff “Liberalismus” zusammenfassen. Marcuse jedoch entlarvt diesen Kampfbegriff als inhaltsleer und keineswegs mit dem wirklichen (kapitalistischen) Liberalismus zu verwechseln. Über diesen stellt Marcuse fest:

“Bei aller strukturellen Verschiedenheit des Liberalismus und seiner Träger in den einzelnen Ländern und Epochen bleibt die einheitliche Grundlage erhalten: die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und die staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung. Alle ökonomischen und sozialen Forderungen des Liberalismus sind wandelbar um dies eine stabile Zentrum -wandelbar bis zur Selbstaufhebung”

Als Kronzeugen für diese gewagte These führt Marcuse den liberalen Theoretiker Ludwig von Mises (heutzutage insbesondere von sogenannten “Anarchokapitalisten” und “Libertären” rezipiert, aber auch z.B. von der FDP-nahen Naumann-Stiftung) an, welcher sich in seiner auch online abrufbaren Einführung in den Liberalismus ganz direkt zum Faschismus äußert:

“Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben”

Auch Marcuses Charakterisierung des Liberalismus findet sich 1 zu 1 von Mises bestätigt:

“ Das Programm des Liberalismus hätte also, in ein einziges Wort zusammengefaßt, zu lauten: Eigentum, das heißt: Sondereigentum an den Produktionsmitteln[…]. Alle anderen Forderungen des Liberalismus ergeben sich aus dieser Grundforderung”

Bemerkenswert ist, dass Mises hier ganz klar von Eigentum an den Produktionsmitteln redet und somit das liberale Programm deutlich ehrlicher und weitaus unsympathischer zusammenfasst als einige moderne “Libertäre”, welche eher das “Selbsteigentum” in den Fokus stellen.

Ebenfalls entlarvend, wenn ich nicht bei Marcuse angeführt, ist folgende Aussage Mises’ aus dem zitierten Werk:

“ Im Programm des Liberalismus mag man aber zweckmäßigerweise [Markierung J.S] neben dem Wort „Eigentum“ auch die Worte „Freiheit“ und „Frieden“ voranstellen”

Das Freiheit und Frieden also keinesfalls die Ausgangspunkte des Liberalismus sind, sondern nur sich aus dem Eigentumsprinzip ableitende und zu Propagandazwecken betonte Aspekte sind, gibt Mises also offen zu.

Ein weiteren Zeugen für seine Thesen führt Marcuse den Philosophen Giovanni Gentile an, welcher in seinem Eintrittsschreiben in die faschistische Partei schrieb:

“Als Liberaler aus tiefster Überzeugung habe ich mich in den Monaten, die ich die Ehre hatte, an Ihrem Regierungswerk mitzuarbeiten und aus der Nähe die Entwicklung der Prinzipien zu beobachten, die Ihre Politik bestimmen, überzeugen müssen, daß der Liberalismus, wie ich ihn verstehe, der Liberalismus der Freiheit im Gesetz und daher in einem starken Staate, im Staate als ethischer Realität, heute in Italien nicht von den Liberalen vertreten wird, die mehr oder weniger offen Ihre Gegner sind, sondern im Gegenteil von Ihnen selbst. Daher habe ich mich davon überzeugt, daß bei der Wahl zwischen dem heutigen Liberalismus und den Faschisten, die den Glauben Ihres Faschismus verstehen, ein echter Liberaler, der die Zweideutigkeit verachtet und auf seinem Posten stehen will, sich in die Scharen Ihrer Anhänger einreihen muß”

Hieraus und aus der Tatsache, dass die faschistischen Staaten niemals das Eigentumsprinzip an sich vollständig abgeschafft haben, schlussfolgert Marcuse, dass Liberalismus und Faschismus sich doch gar nicht so fern stehen, wie sie tun, da sie auf der gleichen Grundlage funktionieren, und das der Kommunismus der einzige wirkliche grundlegende Feind von beiden ist.

Aber was ist mit der Hetze der Faschisten gegen “Profitgier”, “raffendes Kapital” usw.? Hier betont Marcuse nachdrücklich den tiefgreifenden Unterschied zwischen solcher personifizierten “Kritik”, welche sich nur gegen einzelne Formen des Kapitalismus und einzelne Kapitalistengruppen richtet (in diesem Zusammenhang würde ich gerne auf meine Ausführungen zum strukturellen Antisemitismus in meiner Einführung in die Antisemitismustheorie hinweisen, welche in engem Zusammenhang mit der Analyse Marcuses stehen), und Ablehnung des Kapitalismus und des Eigentums an den Produktionsmitteln durch den Marxismus. Da die Faschisten den Kapitalismus nicht tiefgreifend ablehnen, ist die Differenz zum Liberalismus hier Marcuse zufolge nur graduell.

Nun geht Marcuse zur weiteren Analyse der Gemeinsamkeiten von Liberalismus und Faschismus über und stellt den beiden gemeinsamen Naturalismus fest:

“ Der Liberalismus sieht hinter den ökonomischen Kräften und Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft »natürliche« Gesetze, die sich in ihrer ganzen heilsamen Naturhaftigkeit erweisen werden, wenn man sie nur frei und ohne künstliche Störung zur Entfaltung kommen läßt. […]Es gibt eine »Natur der Dinge«, die unabhängig von Menschenwerk und Menschenmacht ihre ureigene Gesetzmäßigkeit hat, die sich durch alle Störungen hindurch immer wieder selbst herstellt”

Zwar erkennt Marcuse den grundlegenden Unterschied an, dass der Liberalismus im scharfen Gegensatz zum Faschismus eine rationalistische Theorie ist, schränkt dies jedoch direkt ein:

Die liberalistische Rationalisierung der Wirtschaftsführung (wie überhaupt der gesellschaftlichen Organisation) ist wesentlich eine private: sie ist gebunden an die rationale Praxis des einzelnen Wirtschaftssubjektes bzw. einer Vielheit einzelner Wirtschaftssubjekte. Zwar soll sich am Ende die Rationalität der liberalistischen Praxis im Ganzen und am Ganzen erweisen, aber dieses Ganze selbst bleibt der Rationalisierung entzogen. Der Einklang von Allgemein- und Privatinteresse soll sich im ungestörten Ablauf der privaten Praxis von selbst ergeben; er wird prinzipiell nicht in die Kritik genommen, er gehört prinzipiell nicht mehr zum rationalen Entwurf der Praxis. Durch diese Privatisierung der Ratio wird der vernunftgemäße Aufbau der Gesellschaft um sein zielgebendes Ende gebracht. […] Struktur und Ordnung des Ganzen bleiben letztlich irrationalen Kräften überlassen: einer zufälligen »Harmonie«, einem »natürlichen Gleichgewicht«. Die Tragfähigkeit des liberalistischen Rationalismus hört daher sofort auf, wenn mit der Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze und der ökonomischen Krisen die allgemeine »Harmonie« immer unwahrscheinlicher wird; an diesem Punkt muß auch die liberalistische Theorie zu irrationalen Rechtfertigungen greifen. Die rationale Kritik gibt sich selbst auf; sie ist allzu leicht bereit, »natürliche« Vorrechte und Begnadungen anzuerkennen. Der charismatisch-autoritäre Führergedanke ist schon präformiert in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des »geborenen« Chefs.

Die “Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staate […] auf dem Boden derselben Gesellschaftsordnung” erklärt Marcuse

  1. mit der zunehmend deutlich werdenden Irrationalität des Kapitalismus, wodurch die rationalistische (liberale) Rechtfertigung des Eigentums an ihre Grenzen stößt
  2. mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Monopolkapitalismus

Jedoch relativiert Marcuse seine These von der Kontinuität Liberalismus — Faschismus durch die Aussage, dass der Faschismus natürlich “auch »neue« Elemente [enthält], die über die alte liberalistische Gesellschaftsordnung und ihre bloße Negation hinausweisen”, nämlich die oben bereits angesprochenen 3 Merkmale des “heroisch-völkischen Realismus” in extremer Ausprägung.

Anmerkungen

Bei der Lektüre des Textes sollte man dringend berücksichtigen, dass das Werk von Marcuse erst am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft und das Werk von Mises sogar vor dieser Epoche verfasst wurden, weshalb sich “Faschismus” v.a. auf den italienischen Faschismus bezieht.

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Jan Schiffer

“…alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”