Ambient Journalism — Warum Kontext für den Journalismus überlebenswichtig wird

Marco Maas
5 min readAug 31, 2018

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Welche Zukunft hat der Journalismus in einer Wohnung, in der alle Geräte miteinander kommunizieren, Daten sammeln und Informationen der Umgebung für Entscheidungen nutzen? Eine hochaktuelle Frage, deren Antwort wir seit 2014 suchen. Zunächst waren es noch ganz unjournalistische Dinge, über die wir uns Gedanken machten: Wenn ich abends nach Hause komme, bekomme ich eine andere Lichtsituation als meine Freundin, wenn das Wetter sich ändert, schließen sich die Fenster — alles mit eindeutigem Service- und Komfortnutzen.

Zwei Jahre später erst waren die Geräte so weit ausgereift, dass wir Ideen zur smarten Ausspielung von Medieninhalten innerhalb dieses Ökosystems kreierten: Warum soll ein Mensch vom Stau um sieben Uhr morgens hören, wenn er erst um zehn Uhr losfährt (was im Kalender steht), warum soll ich fünf Nachrichten zu Donald Trump gepusht bekommen, wenn ich bereits sieben gelesen und weggewischt habe. Warum muss das Mobiltelefon der einzige Kommunikationsweg zwischen Medien und Nutzern in einer smarten Umgebung sein?

Könnte nicht ein Service, der den Badezimmerspiegel bespielt, eine Nachrichtensendung in der Länge des Zähneputzens produzieren? Oder eine Lampe aufleuchten, wenn ein Stau auf dem Weg zur Arbeit entsteht — kurz bevor ich aus dem Haus gehe?

Also eine “smarte” Umgebung, in der relevante Informationen und Inhalte zum richtigen Zeitpunkt erscheinen: Die richtige Nachricht, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.

Die Gedanken um diese Vision beschäftigen die Datenfreunde und mich seitdem fortwährend in verschiedenen Ausprägungen und wir versuchen stetig, in iterativen Experimenten für verschiedene Nutzungsszenarien zu lernen, was erfolgreiche Strategien sind. Einige der Experimente wie die Projekte xMinutes und Ambient News sind sehr umfangreich, andere sehr klein und überschaubar wie die Projekte sMirror und StoryTrolley. Doch alle beschäftigen sich mit dem großen Thema Kontext als neue Metrik.

xMinutes — die richtige Nachricht zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Mit xMinutes haben wir Sensoren in Smartphones ausgelesen und aus einem Pool von 30 Anbietern basierend auf Standort und Interessen personalisierte Nachrichten präsentiert.

StoryTrolley — Journalismus am Einkaufswagen

Mit dem Story-Trolley, einer Projekt-Kooperation der Datenfreunde mit Jakob Vicari, haben wir überlegt, wie in einer kontrollierten Situation wie dem Supermarkt journalistische Inhalte als objektive Informationen ausgespielt werden können, beispielsweise indem wir den CO2-Footprint von Produkten, das Produktionsland oder den Zuckergehalt direkt auf einem Display am Einkaufswagen anzeigen.

sMirror — der smarte Badezimmer-Spiegel mit flexibler Bildschirmbespielung

In einem Product-Field Design-Sprint haben wir ein Konzept entwickelt, wie Nachrichten flexibel auf einem personalisierbaren Badezimmermöbel erscheinen können — und zwar für jeden Nutzer individuell und modular. Das Projekt nennt sich sMirror (ebenfalls zusammen mit Jakob Vicari realisiert) und zeigt erstmalig Nutzungsszenarien abseits von Tablets oder Mobiltelefonen

Ambient News — das Internet der Dinge bringt Journalismus auf neue Plattformen

Mit der Idee, journalistische Inhalte auf anderen Geräten als dem Smartphone, dem Computer, dem Fernseher oder der gedruckten Tageszeitung bei den Nutzern in ihrem direkten Wohnumfeld zu platzieren, traten wir an den schleswig-holsteinischen Zeitungsverlag heran — allerdings mit mäßigem Erfolg: Die Vision wurde als zu groß, unrealistisch und viel zu aufwändig zurückgewiesen. Kurz danach passierten folgende Dinge: Die EarPods von Apple stellten sich als ein Riesenerfolg für Apple heraus, Amazon kam mit Alexa nach Deutschland und Google stellte den Home-Assistenten vor.

Ein halbes Jahr nach der Absage kam dann plötzlich doch noch die Zusage und seit ein paar Monaten steht unser Prototyp in den Wohnungen der Tageszeitungsleser — in Form von Tablet und smarter Lampe. Mein Kollege Malte hat hier ein Zwischenfazit zum Ambient-News-Projekt der Datenfreunde geschrieben.

Aktuell: Audio-Fokus für Alexa und Google Assistent

Aktuell experimentieren wir mit Alexa und Radioinhalten herum — wie müssen sich Medienproduktionen ändern, welche Verhaltensmuster bilden sich. Dazu entwickeln wir gerade eine Audio-Plattform, die es Radiosendern einfach ermöglichen kann, ihre Inhalte auf diese (und kommende Assistenten) vorzubereiten — mehr dazu gibt es bald zu lesen.

Kontext matters

Alle Experimente zeigen klar: “Richtiger” Inhalt hat auch immer etwas mit dem Kontext zu tun — das mag wie eine Binse klingen, aber: Ein Großteil der journalistischen Publikationen bedenkt das bei der Produktion nur unzureichend.

Doch: Technologisch ist der Markt in einer zunehmend beschleunigten Bewegung. Apple stattet die Mobiltelefone mit Achtsamkeits-Automatiken aus, smarte Speaker sind offenkundig die Smart Home Einstiegsdroge — je nach Statistik dauerte die Marktdurchdringung mit den ersten 50 Millionen Geräten ein Jahr — das Telefon brauchte dafür noch 70 Jahre, das Smartphone immerhin drei.

Automagische Befehle durch Alexa

Es zeichnet sich ab: Menschen, die sich eine Amazon Alexa oder ein Google Home kaufen (und nutzen), schaffen sich kein Radio mehr an — schließlich befriedigt Amazons Alexa das Bedürfnis nach einer Wettervorhersage, dimmt das Licht und startet die Kaffeemaschine. Schon immer war es so, dass eine Lösung, die eine Interaktion weniger für den Nutzer bedeutet oder Information für den jeweiligen Kontext besser darstellt sich langfristg durchsetzt.

Noch wirkt der Befehl: “Alexa, tägliche Zusammenfassung” oder “Alexa, wie sind die Nachrichten” noch etwas hölzern, aber Amazon hat bereits angekündigt, dass für bestimmte Interaktionen überhaupt kein Aufruf mehr notwendig sein wird — schließlich sind in den neueren Geräten mit Display auch Näherungssensoren, eine Kamera und die Mikrofone verbaut — mit diesen Daten lassen sich perspektivisch eine ganze Reihe magischer Momente erzeugen.

Ja — es ist eine Utopie…

In unserer vernetzten Utopie könnte ein Morgenszenario stattfinden, das Rücksicht auf den Nutzer nimmt, und ihn nur mit den entscheidenden Informationen versorgt: Die smarte Matratze ermittelt den perfekten Aufwach-Zeitpunkt und erzählt dem Wecker, wann er wecken soll, dabei wird natürlich auf die ersten Termine des Tages und die bekannten Routinen Rücksicht genommen.

Je nach Gewohnheit des Nutzers passt sich das Morgenbriefing zeitlich an und ist entweder 5, 10 oder 30 Minuten lang und in verschiedenen Räumen konsumierbar — beginnend im Bad (oder im Bett), unter der Dusche, beim Anziehen, beim Frühstück, auf dem Weg zur Arbeit. Dabei korrespondiert die Ausspielform mit der Situation: es wird entweder ein Audio-, ein Video- oder ein Textinhalt ausgespielt.

Journalisten müssen verstehen und probieren

Ich benutze hier bewusst den Begriff der Utopie, einer schönen Welt, in der Daten nicht missbraucht werden und der Nutzer darüber informiert ist, wer was mit seiner Privatsphäre macht — auch die IoT-Infrastruktur ist in dieser Welt sicher. Die Realität sieht immer anders aus. Daher müssen die Journalisten dafür arbeiten und auch in Zukunft von den Risiken berichten, die großen IoT-Player kontrollieren, sich gleichzeitig an den neuen Möglichkeiten der Distribution von journalistischen Inhalten mitmachen, um möglichst viel von dem zu verstehen, was, wer und wie in Zukunft ihre Nutzer, Leser und Hörer mit den eigenen Informationen versorgt.

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Marco Maas

Netzversteher, Teilzeit-Nerd. #ddj, #sensorjournalism, CEO at @opendatacity & @datenfreunde