Wir brauchen eine Systemdebatte. Eine Replik auf Sascha Lobos “Wut sticht Wahrheit”

Thomas Euler
4 min readJun 30, 2016

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Lieber Sascha,

Du hast Dich mit deinem Text Wut sticht Wahrheit eines wichtigen Themas angenommen. Ich bin an vielen Stellen bei Dir. An ein paar Punkten will ich jedoch einhaken. In Reminiszenz an die Vorzeit des Internets, als wir noch jenseits von Facebook-Kommentarfeldern & Co. debattierten, schreibe ich Dir meine Gedanken in einem Text.

Haltung vs. Konsistenz

Ich will mit den Differenzen anfangen. Du schreibst:

„Es fehlt das Fundament der Kommunikation: Konsistenz.“

Das ist in meinen Augen problematisch. Denn Konsistenz kann recht schnell zu Sturheit, Sturheit zu Dogmatik und diese zu Ignoranz werden. Insofern würde ich nicht soweit gehen, sich ändernde Meinungen per se negativ zu konnotieren. Sie sind bis zu einem gewissen Punkt durchaus rational. Wenn sich Fakten und Informationslagen verändern, müssen wir auch unseren Politikern zugestehen, ihre Positionen und Meinungen zu revidieren.

Hinzu kommt: Wir müssen uns daran gewöhnen, dass in einer globalisierten, vernetzten, komplexen Welt viel häufiger neue Fakten und Informationslagen geschaffen werden als früher. Insofern widerspreche ich Dir, wenn Du Konsistenz zur absoluten Tugend erklärst (was Du nicht explizit tust — ich vermute Dir ist das Thema durchaus bewusst — doch dein Text lässt die Lesart zu, weshalb ich es geraderücken will).

Gleichzeitig ist mir durchaus bewusst, dass es ja nicht diese Art von „rationaler Inkonsistenz“ ist, die Du eigentlich meinst. Dir geht es um Lügen und bodenlose Behauptungen, die teilweise jeglicher Logik und Realität widersprechen. Was das anbelangt, sind wir natürlich beieinander. Ich würde es so fassen: Politik braucht Haltung.

Und zwar nicht zwingend in der einzelnen Sache — hier bewerte ich es tendenziell positiv, wenn Personen nicht wider besseres Wissen ihren alten Positionen verhaftet bleiben — sondern in der Grundhaltung. Ich will wissen, welches Menschen- und Weltbild ein Politiker vertritt. Dieses darf und sollte dann natürlich gerne stabil sein.

Wahrheit ist Komplexitätsreduktion

Ein weiterer Punkt deines Textes, den ich kommentieren will, ist deine Verwendung des Begriffes “Wahrheit”. Du schreibst z.B.:

„Der fehlende Bezug zur Wahrheit wird ergänzt durch die Abwesenheit jeder Konsistenz …“

Ich verstehe was Du sagen willst, gebe aber zu bedenken, dass es in vielen Feldern von Politik keine Wahrheit gibt. Wahrheit hat einen Absolutheitsanspruch. Dieser kommt uns Menschen entgegen. Klare Kategorien à la „richtig“ und „falsch“ geben uns Sicherheit. Jedoch gilt auch hier: Die Welt ist an vielen Stellen komplexer, als es solch eine Zuordnung hergibt.

Vielleicht kann man die Mathematik davon ausnehmen, doch spätestens in Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften sucht man absolute Wahrheiten in der Regel vergebens. Hier sind vielmehr Überzeugungen und Theorien am Werke. Böse Zungen würden gar von Ideologien sprechen. Man denke etwa an den Kampf zwischen Keynes und Hayek.

Dieses Verständnis wird insbesondere dann wichtig, wenn wir zusätzlich die Zeitachse anlegen: Was gestern richtig war und funktionierte, muss heute nicht mehr zwingend zutreffen. Systeme, Methoden und Theorien sind immer auch kontextabhängig. Und Kontext ändert sich. In unserer Zeit gravierend und vielleicht schneller als je zuvor. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich appelliere, etwas vorsichtiger mit dem Begriff „Wahrheit“ umzugehen.

Warum der Bullshit x.0 ankommt

Weiter im Text: Deine Analyse des Zusammenspiels von Medien, Politik und uns, den Bürgern, ist on-point. In unserem System greifen alle drei ineinander, bedingen und ermöglichen sich gegenseitig. Vereinfacht: Ein Donald Trump wäre nicht denkbar ohne Social Media.

Die oft ans Hysterische grenzende Kommunikation der in realtime durchs Netz ziehenden Wutmobs, die zur Norm gewordenen schrillen Schreie nach Aufmerksamkeit und der Filter-Bubble-Effekt: Ihrer bedient sich die neue Kaste der Politiker, die Du trefflich beschreibst. Man könnte ihr fast schon Respekt dafür zollen, wie konsequent sie dieses Spiel spielt.

Doch warum haben ihre Mitglieder aktuell so viel Erfolg? Dazu habe ich vor ein paar Tagen einen Text geschrieben: Der Brexit & unsere fragmentierte Gesellschaft. Aufs Knappste zusammengefasst: Ich glaube nicht, dass wir ein Kommunikationsproblem haben. Wir haben ein Systemproblem. Weil wir in Zeiten drastischer Veränderungen leben, die Unsicherheit verursachen. Und weil sich mit den Veränderungen Gesetzmäßigkeiten verschoben haben, welche sich jedoch noch nicht in unserem System widerspiegeln (s. hierzu auch diesen vortrefflichen Post-Brexit-Text von Ben Thompson).

Unsere parlamentarischen Demokratien sind in solchen Zeiten der Unsicherheit prädestinierter Nährboden für Demagogen und Populisten. Wenn Menschen in Scharen verunsichert sind und plötzlich kommt jemand ums Eck, der ihnen verspricht, alles werde gut, dann kommt dessen Botschaft erst einmal an. Mag es naiv sein, den Heilsversprechen zu glauben? Absolut. Aber kann der Einzelne die auf ihn einprasselnden Informationen (realtime, newsfeeds usw.) wirklich fundiert bewerten? Häufig wohl kaum. (Interessante Problematik am Rande: Sind Politiker & Medienvertreter dazu noch in der Lage?)

All das ist natürlich keine neue Entwicklung. Doch dank des von Dir so gut dargestellten Wandels unserer Kommunikationskultur, war es noch nie so einfach für den gemeinen Demagogen, sich ein Publikum zu erspielen. Völlig ohne Gatekeeper (wie haben wir diesen Umstand zu Beginn des Internets noch [zurecht!] bejubelt… wäre es nicht so tragisch, es wäre fast schon ein wenig lustig. Nichts hat scheinbar nur eine Seite). Haben sich die Bullshitverzapfer dann erstmal genug „Relevanz“ ertwitteryoufacesnapt, dann ziehen die Medien natürlich mit. Ihnen könnten ja — Gott bewahre! — Klicks entgehen.

Zusammengefasst heißt das in der bestehenden Logik: Bürger wählen — alle paar Jahre — Volksvertreter, die dann den Staat lenken. Um in diese Position — der Macht — zu gelangen, müssen sie sich Popularität beim Wähler erarbeiten. Um diese zu erreichen, nutzen sie — alte und neue — Medien. In diesem Spiel gewinnt immer der, der sich darauf versteht, die Medien am geschicktesten für sich zu nutzen.

Ich glaube, soweit sind wir beieinander.

Wir brauchen eine Systemdebatte

Doch in der Schlussfolgerung würde ich weitergehen als Du es tust. Wir sollten nicht nur darüber nachdenken, wie wir Fakten in Echtzeit checken (dein Punkt) oder Menschen besser bilden können (meine Folgerung). Beides sind zweifelsohne wichtige Aufgaben. Doch darüber hinaus sollten wir uns Fragen: Wie sollte ein System aussehen, das den neuen Realitäten Rechnung trägt (Digitalisierung, beschleunigte Veränderung, Komplexität etc.) und dennoch funktioniert. Oder sogar: Gerade deshalb.

Ich bin ehrlich: Ich habe dafür bislang keine Antwort, nur einige Ideen. Aufs Knappste reduziert vermute ich, dass eine Kombination aus Technologie und dezentralen Ordnungssystemen großes Potential hat. An anderer Stelle habe ich mal von “dezentralen peer-to-peer Demokratien” gesprochen.

Doch egal wie mögliche Lösungen aussehen können: Ich glaube das ist die Debatte, die wir führen sollten.

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Thomas Euler

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