Wirksames Organisationswissen

Beck et al.
Beck et al.
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12 min readDec 22, 2020
Bild: Ron Scheffler — Learning Commons in Mills Memorial Library at McMaster University. Verwendung unter den Bedingungen der Creative Commons BY-SA.

Dieses Bild der Mills Memorial Bibliothek der McMaster Universität in Hamilton, Kanada, zeigt, wie Commons aussehen können. Darüber hinaus zeigt es, wie menschliches Wissen entsteht. Gleichzeitig ist das ein Hinweis darauf, dass dieses Wissen nicht in den Büchern (oder Datenbanken) der Bibliothek steckt und ein Beziehungsthema darstellt.

Dieser Beitrag schließt nahtlos an den vorherigen Blogpost mit dem Titel “Wirksames Organisationslernen” an und wurde wieder vom bewährten Autorenduo Alexander Klier und Siegfried Lautenbacher, beide Beck et al. verfasst.

Wir wenden wir uns dem Thema eines wirksamen Organisationslernens ein zweites Mal zu. In unserem ersten Beitrag ging es vor allem um die Organisation der Lernprozesse. Dieses Mal kommen wir von der anderen Seite her — vom Wissen. Denn am Ende aller Lernveranstaltungen eines Corporate Learning soll ja etwas herauskommen, was wir sehr allgemein Wissen nennen. Was Wissen ist oder sein könnte, darüber gibt es bereits ziemlich unterschiedliche Vorstellungen. Für uns stellt sich auch hier die fundamentale Frage, ob das etwas sehr individuelles und konstruiertes darstellt — oder ob es sich um ein kollaboratives und objektives Produkt handelt.

Dazu ist es notwendig, verschiedene Ebenen und Formen von Wissen anzunehmen und abzubilden. Wir orientieren uns dazu an einem fundamentalen Satz unseres Hausphilosophen Hegel. Der Satz lautet:

„Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes“ (Hegel; Hervorhebungen im Original).

Schritt für Schritt werden wir uns für diesen Beitrag an diesem Satz entlanghangeln und dabei vom Wissen an sich zum Wissen für sich und schließlich zum Wissen an und für sich voranschreiten. Am Ende steht dann die Objektivierung durch Anerkennung und eine Antwort darauf, was „wirksames Organisationswissen“ ist, das am Ende des Prozesses als Beziehung vorliegt. Ebenfalls folgen wir Hegel dabei, dass alle Ebenen notwendig sind und jeweils dialektisch von der nächsthöheren Ebene überstiegen werden. Gerade dadurch werden die jeweils vorhergehenden Ebenen — auch in ihren Widersprüchen — “aufgehoben”.

Weit davon entfernt, uns als Hegelexperten zu bezeichnen, möchten wir deshalb dem Grundgedanken Hegels folgen, weil er in der Phänomenologie des Geistes, daraus stammt auch der verwendete Satz, nachzeichnet, wie sich das Selbstbewusstsein — und (wissenschaftliche) Wissen — von Menschen phylogenetisch entwickelt hat. Das gibt eine verblüffende Nähe zum aktuellen Buch von Michael Tomasello mit dem Titel „Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese.“ Und in der Biologie zumindest gehören Phylogenese und Ontogenese untrennbar zusammen. Dabei hat die Phylogenese Vorrang, weil sich erst aus der Art die einzelnen Individuen entwickeln können.

Hegel. https://dissenycv.es/hegel1/

Wir sehen also in der Entwicklung des Selbstbewusstseins eine große Nähe zur Entwicklung von Wissen (in Organisationen), darauf zielt eigentlich auch Hegel ab. Soweit, so abstrakt. Was das Ganze mit einem wirksamen Organisationswissen zu tun hat, das werden wir am Ende skizzieren. Schließlich sollen auch hier wieder Thesen stehen, wie sich das Social Corporate Learning formieren muss, um ein wirksames Organisationslernen zu ermöglichen.

Wissen an sich

“Wir erfinden Wörter, um Tatsachen zu beschreiben und Dinge zu benennen, aber daraus folgt nicht, daß wir die Tatsachen oder die Dinge erfinden” (Searle, S. 34).

Das Zitat verdeutlicht sehr schön, dass wir als Menschen immer schon in einer Welt leben, in der es viel zu wissen gibt. Das umfasst sowohl die natürlichen Gegebenheiten, als auch die kulturellen Muster einer Organisation sowie die technologischen Entwicklungen einer Gesellschaft. Wir nehmen sehr automatisch und von Anfang an die Fülle dieser Welt wahr, indem wir sie riechen, schmecken, hören und vor allem sehen. Dabei fühlt es sich auch irgendwie an, beispielsweise in einer Organisation zu arbeiten. Die sinnliche Wahrnehmung gibt die „Gewissheit“ einer objektiven Welt um uns herum, die wir, Hegel folgend, „Wissen an sich“ nennen wollen.

Wissen an sich kann von den Menschen entdeckt werden, denn Menschen lernen anhand der Auseinandersetzung mit dieser Um-Welt. Sie entwickeln ihr Wissen in einem aktiven und konstruktiven Prozess menschlichen Erkennens, der dieses Wissen an sich in Sprache umwandelt. Beschrieben werden die Tatsachen und Dinge dabei in einer natürlichen Sprache. Daraus wiederum lassen sich formale Sprachen, wie etwa die Mathematik, Physik oder auch Computerprogramme und Algorithmen, ableiten. Zu diesem Wissen an sich gehören insofern auch die durch die formalen Sprachen generierten Daten.

Daten, im korrekten Singular Datum (von lat. dare = geben, datum = das Gegebene), stellen logisch gruppierte Zeicheneinheiten dar. Sie ergeben sich aus der Möglichkeit von Menschen, Informationen technisch aufzubereiten, zu verarbeiten (zu kodieren) und in Medien wie Büchern oder auch technischen Systemen zu speichern. Ihre Syntax, also die Kodierung bzw. der Aufbau der Zeichenketten nach strengen Regeln, stellt jedoch letztlich noch keinerlei Inhalt, und somit auch kein Wissen, dar. Daten sind nur eine (zusätzliche) Möglichkeit, Wissen zu generieren, nämlich dann, wenn sie — etwa durch einen Algorithmus — zu einem „Wissen für sich“ werden.

Wissen für sich

“As individuals, the amount we know about the world is miniscule. One psychologist estimated that an individual’s knowledge store is about one gigabyte, much less than fits on a typical USB thumb drive. This is why most of us struggle to name even a few foreign leaders or accurately draw a picture of a bicycle” (Fernbach 2017).

Knüpfen wir an die Ebene der Daten an: “In” einem Code oder einem Datum liegen noch keine Inhalte vor. Diese ergeben sich erst, wenn sich aus den natürlichen Gegebenheiten, den Datenmengen oder auch kulturellen Mustern Informationen herauslesen lassen. Zu einem Wissen für sich kann Wissen an sich nur werden, wenn Daten beispielsweise mit den entsprechenden Umgebungsinformationen angereichert werden. Oder wenn Sie in einen Kontext gestellt werden bzw. wenn aus den Daten Rückschlüsse gezogen werden, weil Muster sichtbar werden. Dies ist die Ebene eines situierten Wissens, die Ebene der Fakten und echten Informationen — gegenüber bloßen Meinungen.

Das spiegelt sich auch in der Geschichte des Begriffs der Information wider, denn dieser Begriff kommt aus dem lateinischen “informare” und bedeutete ursprünglich “bilden” bzw. eine “Form” (Gestalt) oder “Auskunft” geben. Eine Information ist im engeren Sinne eine geordnete Abfolge von Symbolen (Daten), deren Bedeutung der Empfänger verstehen kann. Dies ist auch die Ebene, auf der eine (schwache) KI arbeitet: Sie kann durch eine algorithmische Strukturierung vorher nicht gesehene Muster herstellen, die zumindest bedeutungsvoll sein könnten.

Die Ebene des Wissens an sich ist also die Ebene, in der Daten und die wirkliche Welt um uns herum bedeutungsvoll werden — und auf der das Wissen von Menschen externalisiert werden kann. Es ist die Ebene von Datenbanken und Enzyklopädien wie etwa der Wikipedia, in denen man sich informieren kann. Und es ist die Ebene der Bücher und Aufsätze — samt der dazugehörigen Bibliotheken — über die sichergestellt wird, dass Wissen für sich auch an andere Menschen weitergeben werden kann. So müssen Menschen nicht jedes Mal die gleichen Erfahrungen von vorne machen, sondern können von anderen Erfahrungen lernen.

Träger, also Speicherorte des Wissens für sich, sind dabei nicht nur unser Gehirn oder unser Körper bzw. die Natur, sondern vor allem menschliche Gemeinschaften und ihre Organisationen — sowie ihre eingesetzten Technologien. Menschliche Gemeinschaften entwickeln Strukturen und Regeln, mithin Kulturen. Darin steckt jeweils ganz viel Wissen für sich. Dieses kann jedoch nur dann auf eine neue Ebene gehoben werden, wenn sie von Menschen re-konstruiert, also sinnverstehend erarbeitet und dabei kreativ neu gedeutet wird.

Für Organisationen bedeutet das, dass Informationen zwar über symbolische Repräsentationen wie Bilder, oder allgemein über “Kommunikate”, wie beispielsweise Texte, Webseiten oder Videos, zur Verfügung gestellt werden können. Sie müssen jedoch vom Empfänger, also dem jeweiligen Gegenüber, verstanden und mit Sinn versehen werden. Deshalb kommt es auch hier in Organisationen entscheidend auf die Gestaltung der Prozesse zum Wissenserwerb an.

Erst durch die kooperative Gestaltung kann, hier folgen wir Hegel weiter, ein Wissen an und für sich werden, also ein Wissen, das wirksam werden kann, weil man es eben in der Organisation sinnvoll anwenden kann.

Wissen an und für sich

“This means that the contributions we make as individuals depend more on our ability to work with others than on our individual mental horsepower […] It also means that we learn best when we’re thinking with others” (Sloman & Fernbach, S. 16).

Für Menschen lassen sich, vor allem mittels der natürlichen Sprache als dafür entwickeltes Symbolsystem, Bedeutungen und Zusammenhänge als Wissen erschließen, das weit jenseits der Sinneserfahrung liegt. Durch schlussfolgerndes bzw. logisches Denken können Menschen schließlich auch — insbesondere über formale Sprachen — aus bestehenden Wissensbeständen neues Wissen generieren. Das können Sie deshalb tun, weil sie den Informationen, also dem Wissen für sich eine sinnvolle Bedeutung geben können.

Über die Naturbeobachtung gelangen sie zu ersten Formen der Selbsterkenntnis, weil sie Theorien aufstellen und Experimente anstellen, also ihr Wissen überprüfen. Von da aus gehen Sie weiter, nicht direkt zugängliche oder offensichtliche Erkenntnisse zu gewinnen. Bei einer Reflexion auf Organisationsstrukturen beispielsweise gelingt es so, diese in ihrer Funktionsweise in Wissen über ihre Wirkung zu überführen. Etwas zu wissen unterscheidet sich damit deutlich von etwas zu glauben oder eine Meinung zu einem Thema zu haben.

Unter dieser Perspektive ist jedes Wissen auch mehr als das reine Aufnehmen oder pure Prozessieren und Speichern von Daten für sich. D.h., das Wissen von Menschen ist nicht auf im Gedächtnis abgespeicherte Fakten reduzierbar. Wissen von Menschen hat mindestens einen Bedeutungsgehalt, meist sogar einen Sinn und Zweck. In diesem Fall steht Wissen als Handlungswissen, also als Kompetenz, zur Verfügung. Im Organisationskontext muss zur Verwirklichung der Kompetenz jedoch noch die Erlaubnis des Tuns (Ermächtigung) dazukommen.

Auf der Ebene des Wissens an und für sich geht es nicht mehr darum, nur zu wissen, wie man beispielsweise ein Tool an sich einsetzt. Es geht vielmehr darum zu wissen, wie man es an und für sich, d.h. sinnvoll, in den jeweiligen Prozessen verwendet. Das Wissen in Organisationen an und für sich ist insofern anwendungsfallbezogen. Es handelt sich beim Wissen an und für sich zudem um Wissen, das in einer spezifischen Beziehung entsteht, in unserem Fall in einer Beziehung zur Organisation und zu den Prozessbeteiligten. Erst die kollaborative Anerkennung macht daraus ein verfügbares Wissen für die Organisation und ihre Mitglieder.

„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“ (Aristoteles, a 21). Bereits Aristoteles konstatierte, dass Menschen eine Triebkraft haben, oder die intrinsische Motivation dazu, sich Wissen anzueignen. Im Prinzip gilt das auch für die Wissensaneignung in Organisationen. Aber hier ist es ähnlich wie mit den Lernprozessen: Der Wissenstrieb lässt sich nicht ohne Weiteres in einen Wissenserwerb — im Sinne von produktiven Lernprozessen — umsetzen. Wie beim wirksamen Organisationslernen hat das seinen Grund in der Tiefenstruktur der Organisation.

Wissen, insbesondere im Sinne eines wirksamen Wissens über die Organisation, unterscheidet sich von der geläufigen Interpretation von Wissen, das zu managen ist, genau dadurch, dass es intersubjektiv nachvollziehbar ist, also von Menschen geteilt und in einer Beziehung mit-geteilt wird. Aus unserer Sicht liegt genau hierin die zentrale Herausforderung, damit sich der beschriebene Wissenstrieb in wirksame Lernprozesse des Corporate Learning übersetzen lässt: Das Wissen an und für sich weist, als Anerkennungsverhältnis, immer über sich als abstrakter Einzelfall — und über die individuell Lernenden — hinaus.

Das muss in der Tiefenstruktur seine Berücksichtigung finden. Auch hier folgen wir deshalb Hegel sehr gerne.

Wirksames Organisationswissen oder: Die Anerkennung des Wissens von Wissenden

„Ein gemeinsamer Akteur umfasst [mindestens] zwei Individuen, die ein gemeinsames Ziel haben, das durch gemeinsame Aufmerksamkeit strukturiert ist, und jeder von beiden hat gleichzeitig seine eigene individuelle Rolle und Perspektive. Das lässt sich als die Zwei-Ebenen-Struktur bezeichnen: gleichzeitige Gemeinsamkeit und Individualität“ (Tomasello, S. 30).

Handlungen von Menschen sind gerade im Organisationskontext sozial und intentional. Das heißt, die Beschäftigten handeln im Kollaborationskontext gemeinsam und aus sinnvollen Gründen (es sei denn, es werden ihnen, wie im tayloristischen Fall, bestimmte individuelle Handlungen befohlen). Die Gründe von kollaborativen Handlungen sind dabei im Regelfall nicht einer einzigen bzw. (nachträglich) isolierten Person zuzuschreiben, „sondern [müssen] immer zwei oder mehreren Personen zugleich zugeschrieben werden […], um überhaupt stattzufinden“ (Janich, S. 509). Auch Lernhandlungen im Organisationskontext sind intentionale und soziale Handlungen, geht es doch beispielsweise darum, das notwendige Wissen zu erwerben, die Arbeit anständig im Team bzw. mit den anderen zu erledigen.

Dadurch, dass Menschen „die Köpfe zusammenstecken“ (Tomasello) ergibt sich das, was geteilte Intentionalität genannt wird. Erst dadurch wird Menschen schließlich möglich, nicht nur ihre je eigene Sicht aufzubauen bzw. ihre eigene Meinung über die Welt zu bilden, sondern wirksames Organisationswissen zu generieren. Dieses Wissen beinhaltet auch zu wissen, dass es unterschiedliche und andere Perspektiven auf ein Thema gibt (vgl. hierzu Tomasello). Das macht es Menschen schließlich möglich, Wissen nicht nur zu objektivieren, sondern im Organisationskontext wirksam anzuwenden. Die Kollaborationsfähigkeit wiederum hatte phylogenetisch Rückwirkungen auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns, wie man anthropologisch zeigen kann.

Wir sind nun auf der Ebene der Kollaboration als Anerkennung von Wissen und Beziehung zu den Mit-Wissenden. Erst auf dieser Ebene ergibt sich die objektive Welt des Wissens und eines wirksamen Organisationswissens. Es ist die Ebene, in der bereits die Struktur des Wissens an sich angelegt ist, diese quasi umfasst. Dies ist die Ebene der menschlichen Intelligenz, in der Wissen verallgemeinert, bestätigt oder hinterfragt wird. Es ist die Ebene, auf der in Organisationen das Wissen spezifiziert, rekontextualisiert und auf neue Herausforderungen hin angepasst wird. Es ist die Ebene, auf der sinnvoll und sinnstiftend zusammengearbeitet werden kann.

Deshalb ist das auch die Ebene, auf der Menschen ihre (substantielle) Individualität herausbilden können, weil sie ihre Eigenheiten durch den wertschätzenden Spiegel der Anderen entdecken und annehmen können — wenn die Tiefenstrukturen der Organisation dies erlauben bzw. daraufhin angepasst werden. „Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar“ meinte Hegel, ein paar Sätze nach unserem einführenden Satz, dazu.

Zentral für diese Ebene des objektiven Wissens und wirkungsvollen Organisationswissens sind also nicht irgendwelche Datenbanken oder Algorithmen, sondern die Anerkennung realer Menschen als Gleiche (Peers) und Wissende. Etwas, was im digitalen Kontext insbesondere über Communities gewährleistet wird. Dort münden die Beziehungen in einer Kollaboration und von dort werden neue kollaborativen Beziehungen aufgebaut. Erst dadurch kann ein Corporate Learning wirklich wirksam auch bezüglich des Wissens werden.

Thesen II

“In Analogie zum kommunikationswissenschaftlichen Axiom, dass es nicht möglich ist nicht zu kommunizieren, geschieht Wissenschaft und ihre Vermittlung an den Hochschulen unausweichlich und immer in Beziehung” (Szczyrba & Wildt, S. 15).

Ein wirksames Organisationswissen wird es nur geben, wenn das Organisationslernen als “Beziehungslernen” angelegt ist: in Beziehung zu Expert:innen (nicht immer nur die formal so gekennzeichneten), in Beziehung zu den Mitlerner:innen (nicht zwangsläufig nur Kolleginnen und Kollegen), in Beziehung zur eigenen Organisation, für die oder in deren Auftrag man lernt, und schließlich auch in Beziehung zum Thema oder Inhalt der oder das gelernt werden soll und schließlich vor allem in Beziehung zur konkreten Handlungsintention.

Organisationales Beziehungslernen kann dabei aber nur gelingen, wenn die Beteiligten nicht nur auf ein individuelles Lernziel hinarbeiten, sondern im Rahmen des kollaborativen Lernens die Bedürfnisse der jeweils anderen wahrnehmen, respektieren und berücksichtigen lernen. Mit anderen Worten: Erst wenn sie sich ernsthaft um die Beziehungsebene bemühen und dabei die Mitlerner:innen als gleichgestellte Personen behandeln, gelingt das dazu notwendige Soziale Lernen.

Daraus können wir nun insgesamt weitere Thesen eines wirksamen Organisationslernens ableiten:

  • Wirksames Organisationswissen zeigt sich ebenfalls erst auf der Ebene der Tiefenstruktur. Diesmal geht es um die Tiefenstruktur des Wissenserwerbs, die fundamental auf Social Learning im Rahmen von Communities beruhen muss. Erst das ermöglicht intersubjektives und vor allem anwendungsfallbezogenes Wissen in der Organisation.
  • Als kleinste “Maßeinheit” eines wirksamen Organisationslernens erweist sich, aufgrund der Anerkennungs- und Beziehungszusammenhänge, die Gruppe oder das Team, nicht das Individuum. Die gruppenbezogenen Prozesse und Regeln sind unter dieser Rücksicht neu auszubuchstabieren — unter aktiver Beteiligung der Betroffenen, also partizipativ.
  • Organisatorisch bedeutet das für das wirksame Organisationslernen, das Lernen über Lernzirkel oder -kreise, beispielsweise von den entsprechenden Gruppen und Teams, zu organisieren und damit das Communitybuilding zu ermöglichen.
  • Prozessual bedeutet wirksames Organisationslernen, dass die jeweiligen Anwendungsfälle die Grundlage für die entsprechenden Lernprozesse darstellen. Das künftige Corporate Learning wird also anwendungsfallbezogen agieren.
  • Technisch bedeutet bedeutet wirksames Organisationslernen wiederum, über ESN (Enterprise Social Networks) entsprechende Möglichkeit einer Vernetzung und des Austauschs auf Augenhöhe, also der Anerkennung der Beschäftigten als Peers, zu gewährleisten.
  • Eine künstliche Intelligenz zur Unterstützung wirksamen Organisationswissens kann nur dann fruchtbar eingesetzt wird, wenn sie auf der Ebene des Wissens für sich ihre Dienste leistet, während die Betroffenen auf den Ebenen darüber ihren Einsatz an und für sich regeln. Was wiederum heißt, dass sie die Kontrolle über den Einsatz der KI — als Gruppe — selbst bestimmen können müssen. Das gilt sinngemäß auch für die allüberall eingesetzten Datenbanken als sogenanntes Wissensmanagement.
  • Jede Organisation hat ihre eigene Sprache, mit der sie das Organisationswissen beschreibt, prozessiert und auch speichert. Künftiges Corporate Learning wird — beispielsweise mithilfe eines Natural Language Processing (NLP) — den “Organisationsdialekt” herausfinden müssen und dazu verwenden, alle Organisationsmitglieder sprachfähig zu machen.

Mit diesem nicht wenig abstraktem Beitrag hoffen wir, dass wir etwas wichtiges aufgezeigt haben: dass nämlich die Diskussion um ein wirksames Organisationslernen nicht umhin kommt, eine Klärung dessen herbeizuführen, was am Ende als wirksames Wissen für die Organisation an und für sich herauskommen soll. In diesem Sinne sind wir auch hier schon sehr gespannt auf weitere Diskussionen.

Verwendete Literatur:

Aristoteles (1995): Metaphysik. Hamburg: Meiner

Fernbach, P. (2017): Cognitive science shows that humans are smarter as a group than they are on their own. Beitrag verfügbar unter https://qz.com/960175/cognitive-science-shows-that-humans-are-smarter-as-a-group-than-they-are-on-their-own/

Hegel, G. W. F. (1979): Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft. In: Phänomenologie des Geistes. Text verfügbar unter http://www.zeno.org/nid/20009176551

Janich, P. (2012): Die Gedankenleser. Gründe für Grenzen neurophysiologischer Ursachenforschung. In: Welt der Gründe: XXII. Deutscher Kongress für Philosophie. 11.-15. September 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Kolloquienbeiträge. Hamburg: Meiner, S. 498–516

Searle, J. R. (2004): Geist, Sprache und Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp

Szczyrba, B. & Wildt, J. (2005): Vom akademischen Viertel zur methodisch regulierten Anwärmphase

Sloman, S. und Fernbach, P. (2017): The Knowledge Illusion. Why we never think alone. Riverhead Books

Tomasello, M. (2020): Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Frankfurt: Suhrkamp.

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