Time’s up — Zeit zu gehen

Warum ich die Jury des deutschen Independent Comic Preises 2018 verlassen musste.

Eve Jay
COMIC SATELLIT
7 min readJun 3, 2018

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Die Vorgeschichte

Im Jahr 2017 nahm ich das verantwortungsvolle Ehrenamt an, mit drei anderen Juroren über die unabhängigen Comic-Veröffentlichungen des Jahres 2016 (und den Sonderpreis für besondere Leistung) zu entscheiden.
Als Leitung der COMIC SOLIDARITY, die 2015 den ICOM Sonderpreis gewann, Organisatorin des Frankfurter Comic Satelliten (seit 2015) und Autorin/Redakteurin brachte ich vor allem den Blick auf die jüngere Comic Szene mit.

Dass ich ein gemischtes Doppel rund machte, kam nicht von ungefähr. In jenem Jahr stellte der ICOM-Vorsitzende seine insgesamt vier Juroren durch einen Dialog auf Facebook zusammen.
Als noch eine Position offen war, warf ich in die Runde, dass eine weitere Frau keine schlechte Idee wäre. Dies fand starke Zustimmung in der Gruppe. Meine Nominierung als Jurorin folgte.

Beeidruckende Vielfalt

Die Einsendungen der Veröffentlichungen aus dem Jahre 2016 waren sehr unterschiedlich. Über Monate las ich einen Umzugskarton voll Einreichungen und klickte mich durch diverse, von einem der Juroren übersichtlich zusammengestellte Linklisten. Zum zweiten Mal hatte der ICOM auch Webcomics explizit als Einsendung aus der Szene eingefordert.
Die Bücher würden im Herbst des gleichen Jahres weitere Verwendung finden, als ich Ihnen ein Regal auf der Frankfurter Buchmesse einräumte.
Der Eindruck, den ich durch meine Arbeit in der Comic Solidarity bereits zu haben glaubte, festigte sich: Die Vielfalt der Independent Szene in Deutschland ist beeindruckend.

Nicht weniger als drei Stunden Skypekonferenz und unzählige Mails hatte die Jury in jenem Jahr benötigt, die Entscheidungen zu fällen.
Die Preisträger sind hier einzusehen: http://www.comic-i.com/aaa-icom/docs/icp2017/icp_2017_home.html.

Als der Vorsitzende mich Anfang des Jahres (2018) fragte, ob ich wieder dabei sein möchte, freute ich mich, aber zögerte kurz.
Das Messejahr würde organisatorisch für mich sehr voll werden.
Meine repräsentative Funktion der jüngeren Szene, und insbesondere der weiblichen Autoren- und Leserschaft, war mir jedoch wichtiger als die Abwägung zeitlicher Konflikte oder der räumlichen Unterbringung der zu erwartenden Bücherflut, und so sagte ich zu.

Die Jurybildung 2018

Die Arbeit in einer Gruppe, die verschiedene Kanäle und Medien nutzt, kann unübersichtlich werden. Daher legte der Vorsitzende in diesem Jahr eine geschlossene Facebookgruppe an.
Erst durch das Hinzufügen in diese Gruppe sah ich die anderen Juroren. Sofort fiel mir auf, dass diesmal außer mir keine weitere weibliche Jurorin an Bord war.

Ich sprach den Punkt an. Zugegebenermaßen ohne ‘Hallo’ und ‘Schön dass wir alle da sind’ stellte ich in den Raum, dass man nach dem Ausscheiden meiner Kollegin aus dem Vorjahr eine weitere Frau hätte fragen können.

Der Vorsitzende entgegnete spitz, ob man stattdessen “jemand anderes dafür rauskegeln” sollte.
“So funktioniert das halt mit der Vielfalt”, gab ich zur Antwort, womit ich Empörung auslösen würde.

Hier hätte der Vorsitzende direkt Position zu seiner Wahl beziehen und seine Entscheidung verteidigen können. Die Reaktion konzentrierte sich jedoch auf das Aushebeln der Geschlechterfrage.

“Das Geschlecht ist nunmal nicht die vorrangige Qualifikation der Beurteilung von Comics.” — Vorsitzender des ICOM, 2.3.2018

Relativierung einer Diversitätsquote

Meine Anregung wurde aus verschiedenen Gründen abgeschmettert:

  1. Die Jurymitglieder seien “divers genug”
  2. Das Geschlecht sei “keine vorrangige Qualifikation zum Beurteilen vom Comics”
  3. Der Zeitpunkt sei schlecht gewählt

1. Divers genug

Die Juroren waren zu diesem Zeitpunkt: ein Jurymitglied aus dem Vorjahr, ein Comicfachmann und -blogger, und ein Journalist.
Ich kenne sie entweder flüchtig in Person oder ihre Arbeit und habe ihre Qualifikation (vor der Eskalation) nicht angezweifelt. Allerdings stellen sie eine deutliche Homogenität dar: Weiß, männlich, 40+.
Aus der “male default perspective” mag die Unterscheidung der Juroren voneinander zunächst ausreichend erscheinen, mit geringfügig mehr Abstand bereits marginal.

2. Qualification first

Die erste Reaktion des Vorsitzenden war, wie oben zitiert, das Geschlecht als Qualifikation auszuhebeln.

Dieses Argument wurde neben anderen, langen Ausführungen gegen die Frauenquote mehrmals variiert und mit pseudowissenschaftlichen Ausführungen belegt.

3. Schlechter Zeitpunkt

Ich wunderte mich. Der Einsendeschluss war noch nicht abgelaufen, die Kisten mit den Comics noch nicht verschickt, die Gruppe erst gegründet.

Sollte ich meine für diese Fälle im Keller versteckte Zeitmaschine bemühen, um mit prophetischer Vorkenntnis der Ereignisse dem Vorsitzenden Anfang des Jahres sogleich meine Bitte mitzugeben, möglichst viel Vielfalt in die Jury einzuladen?
Bei der Gelegenheit könnte ich ihn daran erinnern, der anderen Jurorin aus dem Vorjahr abzusagen. Wie sich später herausstellen sollte, wusste diese gar nicht, dass sie von einem Kollegen ersetzt worden war.
Niemand hatte daran gedacht, ihr diesen Umstand mitzuteilen.

“Sowas habe ich noch nie erlebt.” (Juror)

Kontraproduktive Befindlichkeiten

Ich war schlicht perplex über die flapsigen Reaktionen auf meine Kritik an einer homogenen Jury. Da ich an Lösungsansätzen interessiert war, schien es mir plausibel, die Einladung einer weiteren Jurorin vorzuschlagen.

So würde niemand gehen müssen.

Ein Freund hatte ohne Mühe eine Liste mit über 15 Größen der Comicszene weiblicher Identifikation hervorgebracht, aus denen ich eine Auswahl nannte.

Daraufhin begannen die Reaktionen zu eskalieren.

Es sei schlicht “unanständig” und zeuge von schlechtem Benehmen, offen darüber zu sprechen, Jurymitglieder zu ersetzen, kaum dass sie einberufen wurden.

Man wünschte sich, ich hätte einen anderen Ton gewählt, um das Thema vorsichtig einzuleiten. Dabei schien es zunächst nur um verletzte Gefühle, nicht um die grundsätzliche Fragestellung zu gehen.

Ich betonte, dass eine Kränkung nicht meine Absicht gewesen war, widerstand aber dem Druck, meine Worte zu entkräften.

“Ich bin da total bei dir, aber…”

Ablehnung des Kompromissvorschlags

Nachdem die Reaktion der Beteiligten nicht mehr auf neutralen Boden zu bringen war, schien vergessen, dass man mir zu Anfang “grundsätzlich beigepflichtet” hatte.

Der angeregten Vielfalt setzten die Juroren ausführliche Argumentationen entgegen, die sich bei aller Sympathie leider nur als sexistisch und engstirnig einstufen lassen. Ich nahm die Monologe kommentarlos zur Kenntnis. Ich hatte wenig gesagt und sehr viel Gegenwind bekommen. Symptomatisch.

Der Vorschlag eine fünfte Position für eine weitere Jurorin zu schaffen, wurde aus logistischen Gründen vom Vorsitzenden abgelehnt.
Er könnte sich nicht vorstellen, wie man die Bücher mit einem zusätzlichen Mitglied teilen sollte.
Da eine Einsendung an den ICOM in fünffacher Ausführung erfolgt, bei vier Juroren, vermisse ich den Vorschlag des Vorsitzenden, die eigenen Belegexemplare für den Kompromiss zur Verfügung zu stellen.

Darüber hinaus wäre die Jury, deren beteiligte Herren sich von mir nicht “gendern” lassen würden, als “Schauplatz für MeToo Diskussionen nicht geeignet”.

Ich empfehle bei Unsicherheit über den Einsatz online aufgeschnappter Schlagworte, sich über die Bedeutung dieser zu informieren, um nicht gravierend missverstanden zu werden.

Gelebter Privileg und Diskurshoheit

Sehen wir uns an, welche Punkte sich gegenüber stehen. Mein Hauptargumente lauteten:
Diverse Repräsentation ist wichtig für die Relevanz des ICOM.
Eine weibliche Jurorin ist relevant für Künstlerinnen und Leserinnen.

Zu keinem Zeitpunkt habe ich Sexismus benannt, Hashtags bemüht, lange Erläuterungen angeboten oder mich mit einer feministischen Standarte in Angriffsmodus begeben. Ich habe:
1. nach einer anderen Frau gefragt (und den Ersatz eines männlichen Jurors impliziert)
2. geeignete Kandidatinnen vorgeschlagen (die nicht alle heteronorm sind)
3. für diverse Repräsentation plädiert
4. eine Kompromisslösung vorgeschlagen

Um so interessanter sind die Reaktionen im Verlauf der Eskalation:
• Anzweifeln der Notwendigkeit
• Kritik an meinem Verhalten
• Abwehr durch belehrende Gegenargumentation
• Vorwurf von umgekehrtem Sexismus und feministischer Anliegen
• Ablehnung Lösungsansätze

An dieser Stelle möchte ich gerne erwähnen, dass ich eine Frau bin, die von vier Männern über Vielfalt und Sexismus belehrt werden soll. Männer, die nicht bereit sind, Ihren Privileg im Bedarfsfall aufzugeben, um Raum für Vielfalt zuzulassen. Weder als Besetzung der Jury, noch im Diskurs.
Was erreichen sie damit?
Dass wir hier überhaupt erst über Sexismus sprechen müssen.

Wie geeignet ist eine Jury in Diskurshoheit, vielfältige Comics zu beurteilen?

Sollte es zu einer Umbesetzung kommen, würde dies bestimmt nicht die anderen Juroren treffen.

Das Ultimatum und die Entscheidung

Die Atmosphäre, die sich zwischen Freitag 2.3. und Montag 4.3.2018 in der Gruppe eingestellt hatte, war unangenehm geworden.

Das Thema war weit entgleist worden. Das Grundprinzip der Gleichstellung wurde zwar angeblich akzeptiert, aber zugunsten der eigenen Haltung und zum Schutze des eigenen Privilegs zweckentfremdet.
Mein Hot Take: Bevor vier “weiße” Herren über 40 Gender auflösen können, müssen sie erst einmal am Thema Gleichstellung vorbei.

Andere mögen paritätische Teilung in Entscheidungsgruppen als Mindestvorraussetzung ansehen und darüber hinaus nach weitaus weitreichenderen Kriterien für Vielfalt urteilen als dem Geschlecht.

Der Vorsitzende des ICOM betitelte dies jedoch als “Maximalforderung”, von der ich abweichen sollte.
Er führte weiter aus, dass es bisher noch nie vorgekommen war, eine Jury neu zu besetzen. Sollte es zu einer Umbesetzung kommen, würde dies bestimmt nicht die anderen Juroren treffen.

Die Frage, wie ich mit meiner Rolle in diesem Umfeld weiter verfahren sollte, beantwortete ich mir eindeutig.

Nach einer entsprechenden Antwort an den Vorsitzenden richtete ich folgende Worte an die Gruppe:

“(…)Ich verstehe, dass eure Wahrnehmung von meiner abweicht.
Was ich nicht verstehen kann, ist der destruktive Umgang mit dem Thema.
Eine Anregung zur Vielfalt wird zur Sexismusdebatte gemacht und dabei — mit Verlaub — recht sexistisch geführt. Das Argument gegen eine homogene Jury führt sich hier selbst an.
Fakt ist, dass es mindestens einen Vorjahressieger ohne die zweite Frau im Team so nicht gegeben hätte.
Dass wir 3 zu 1 keine ausgewogene Wertung vornehmen können, zeigt sich im Gesprächsverlauf, in dem ich keine positive Auseinandersetzung finden kann, nur eine bedenklich einseitige Argumentation.
Daher stehe ich der Jury nicht mehr zur Verfügung.”
6.3.2018

In weiterer Kommunikation mit dem Vorsitzenden sah sich dieser in der Einschätzung bestätigt, dass ich “nach dem Geschlecht entscheiden” würde.

Ich sehe mich wiederum in der Einschätzung bestätigt, dass der komplette Sachverhalt einfach nicht verstanden wurde.

Ich sehe keine Notwendigkeit an dieser Stelle zu erklären, warum eine diverse Repräsentation in einer Jury wichtig ist.

Quo vadis, ICOM?

Geht es eigentlich noch um Comics? Wieviel Anspruch auf Vielfalt ist zumutbar?
Hätte eine andere homogene Zusammenstellung in dieser Situation anders entschieden?

Ich sehe keine Notwendigkeit an dieser Stelle zu erklären, warum eine diverse Repräsentation in einer Jury wichtig ist.
Jedoch möchte ich hervorheben, dass ein Verband, der aktuelle Machwerke unabhängiger Verlage und Künstlerinnen mit einem dotierten Preis auszeichnet, gerade für die junge, neue Comicszene sehr relevant bleiben sollte.
Dies kann er meiner Meinung nach nur tun, wenn er bereit ist, die Bequemlichkeit der letzten 25 Jahre Comicszene aufzugeben, und sich Veränderungen öffnet.

Meine Nachfolge durch eine andere Jurorin wurde prompt veranlasst, jedoch ist das Problem der mangelnden Parität und das Verhalten der Jury und des Vorsitzenden damit nicht vom Tisch.

Mit meiner Nachfolgerin wurde die beste Kandidatin aus der Liste an Vorschlägen ausgewählt, die ich mir hätte wünschen können. Als (Comic)journalistin, Autorin, Podcasterin und Organisatorin bei einem großen Comicfestival ist sie mehr als qualifiziert. Ihre Perspektive als Mitbegründerin des feministischen Comicnetzwerks schätze ich dabei als unverzichtbar ein.

In Anbetracht der mangelnden Sensibilität während der Eskalation kann ich die Einberufung einer Feministin jedoch nicht als ehrlich gemeintes Signal des Vorsitzenden ansehen. Vielmehr als Absicherung gegen einen gefürchteten Aufschrei, den man von meiner Seite erwartete.

Aus Respekt vor der Jurorin habe ich bis heute, dem Tag nach der diesjährigen Preisverleihung gewartet, meine Schilderung öffentlich zu machen.

Auch möchte ich den Gewinner*innen der ICOM Preise 2018 von Herzen gratulieren. Macht weiterhin so gute Arbeit!

Die Vielfalt der deutschen Independent Szene ist beeindruckend.
Diese Erfahrung leider nicht.

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