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Etwas wie Da’esh hat es noch nie gegeben. Oder doch?

Über Gemeinsamkeiten des selbsternannten Kalifates mit der Französischen Revolution

Erik Jäger
Das Sonar
Published in
7 min readApr 1, 2016

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Am 14. Juli 1789 stürmten Pariser Bürger die Bastille und lösten somit die Französische Revolution aus. Dieser Wendepunkt der europäischen Geschichte, der seitdem nicht zuletzt in die Köpfe aller Schulkinder eingebrannt wurde, erscheint, von der Rückkehr der Culotte vielleicht abgesehen, ohne größere Bedeutung für die heutige Zeit.

Auf die Revolution folgten die Terrorherrschaft der Jakobiten, 20 Jahre Krieg inklusive des Aufstiegs und Falls Napoleons, die Restauration nach dem Wiener Kongress und schließlich die politische Entmachtung aller europäischen Monarchen im Laufe der folgenden etwa einhundert Jahre.

Der Aufstieg von Da’esh, den wir im Irak und Syrien seit der Gründung von al-Qaida im Irak (AQI) 2004 und insbesondere seit 2013 im Licht der Öffentlichkeit unter verschiedenen Namen beobachten zeichnet Parallelen zu den Ereignissen im revolutionären Frankreich:

Sowohl das Ancien Régime als auch der Irak nach dem Dritten Golfkrieg und der folgenden Besatzung befanden sich wirtschaftlich in einer prekären Situation und hatten ihre moralische Legitimität in den Augen der Bevölkerung verloren, beziehungsweise nie etabliert. Dieses Vakuum wurde von einer zu ihrer jeweiligen Zeit radikalen und den herrschenden Verhältnissen diametral entgegengesetzten Vorstellung von politischer Ordnung ausgefüllt. Diese visionäre Vorstellung fand insbesondere unter jungen, zumeist männlichen Erwachsenen länderübergreifend Zuspruch, Friedrich Schiller und Jihadi John seien hier als Beispiele genannt.

Diese Zielgruppen sind jedoch fundamental unterschiedlich: Fühlten sich von den humanistischen Idealen der französischen Revolution vorwiegend bürgerliche Intellektuelle angesprochen, so rekrutiert Da’esh im “Westen” hauptsächlich junge Männer, oftmals mit Migrationshintergrund und in der Selbstwahrnehmung von der Gesellschaft ausgrenzt. Diese Ausgrenzung ist nicht automatisch gleichzusetzen mit materieller oder intellektueller Isolation, schließlich sind überraschend viele der Da’esh Anhänger Mediziner und Ingenieure. Die Führungsrolle, die Konvertiten wie Pierre Vogel, Bernhard Falk und Dennis Cuspert in der deutschen Islamistenszene einnehmen konnten belegt, dass selbst ein Migrationshintergrund nicht notwendigerweise angenommen werden darf. Es lässt sich leichter vorhersagen, dass sich eine bestimmte Person radikalisiert; die Richtung dieser Radikalisierung ist schon schwieriger vorherzusagen und hängt maßgeblich vom sozialen Umfeld ab. Insofern sind der „besorgte“ ostdeutsche Brandsatzwerfer und der Jugendliche, der in Al-Anbar ein mit Sprengsätzen präpariertes Auto in eine irakische Militärkolonne fährt, Früchte desselben Baumes.

Die genuin westlichen Islamisten werden von Da’esh (und anderen Terrororganisationen) hauptsächlich zu Propagandazwecken und zur psychologischen Kriegsführung verwendet. Im tatsächlichen Feldeinsatz sind sie den nicht-westlichen Kämpfern oftmals deutlich unterlegen, da diese oftmals im Irak, Syrien, Afghanistan oder in Tschetschenien Aufgewachsenen bereits jahrzehntelange Übung in Krieg und Entbehrung haben. Es kommt dabei häufig zu Kulturschocks, wie man es schon beobachten konnte, als sich die RAF bei der PLO „ausbilden“ ließ und in Folge der Ungeeignetheit der in ihrer gutbürgerlichen Herkunft verwöhnten Deutschen für den herkömmlichen Klassenkampf das Konzept Stadtguerilla entwickelten.

In dieser Linie lässt sich auch der Einsatz von aus dem „Westen“ stammenden Dschihadisten bei Terroranschlägen in ihren Heimatländern, in jüngster Zeit in Brüssel und Paris, betrachten. Die Vertrautheit mit Sprache, gesellschaftlichen Verhältnissen und nicht zuletzt der Umstand, dass der EU-Pass das Reisen und untertauchen erheblich erleichtert sind dabei zentrale Elemente. Außerdem ist die Schockwirkung für die Bevölkerung noch einmal höher, wenn der Attentäter „aus ihrer Mitte“ kommt. Dies bestärkt das angestrebte Misstrauen, führt zu Pauschalisierungen und provoziert Selbstzerstörungsmechanismen innerhalb der freiheitlichen Gesellschaften, wie die Erfolge rechtspopulistischer und Fremden- (insbesondere Islam-) -feindlicher Parteien in vielen Ländern Europas belegen.

Auch die französische Revolution löste bei den anderen Staaten Europas innenpolitische und institutionelle Veränderungen aus, allerdings gänzlich anderer Art. Als bekannteste Beispiele sind hier die „preußischen Reformen“ zu nennen. Friedrich Wilhelm III. erkannte nach der Niederlage in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt, dass Preußen sich stark verändern müsse, wenn es Napoleon die Stirn bieten wolle. Der Anziehungskraft der freiheitlichen Ideale insbesondere für das Bürgertum musste etwas entgegengesetzt werden, um umstürzlerischen Tendenzen vorzubeugen und sich unter den europäischen Großmächten zu behaupten.

Militär-Reorganisationskommission, Königsberg 1807, Bild: Carl Röchling

Diese „Revolution von oben“ wurde durch die bis heute bekannten Karl Freiherr vom Stein und Karl August Fürst von Hardenberg koordiniert. Sie machte sich besonders in den Bereichen Verwaltung, Militär (Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz sind dabei hervorzuheben) und Bildung (Wilhelm von Humboldt) bemerkbar und waren die Grundlage für die preußische (und später deutsche) Vorherrschaft auf dem europäischen Festland, die von der Niederlage Napoleons bis zum Ersten Weltkrieg dauerte.

Auch der Islamische Terrorismus durch Al-Qaida, Da’esh und Andere führt zu institutioneller Veränderung in den westlichen Ländern. Als Reaktion auf die Terroranschläge seit dem 11. September 2001 wurde in den meisten Ländern die Sicherheitsarchitektur verstärkt, Bürgerrechte wurden eingeschränkt um auf eine in breiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommene Bedrohungslage zu reagieren. Die Bedeutung, die der im „Westen“ wahrgenommenen Bedrohung im öffentlichen Diskurs eingeräumt wird, ist dabei übertrieben. Die Zahl der Anschläge und Opfer ist seit dem Ende des Kalten Krieges bedingt durch das weitestgehende Ende des Linksterrorismus und der Einstellung des bewaffneten Kampfes von ETA und IRA im Laufe der 90er Jahre entscheidend zurückgegangen. Es kommt zu deutlich weniger Anschlägen, die aber jeweils mehr Opfer fordern.

Heutzutage wird gern übersehen, dass auch die Französische Revolution eine totalitäre Bewegung war. Man ist sich der Phase des „Terreur“ bewusst und übersieht dabei oft, dass diese Tendenzen bereits in der ideologischen Wolle gefärbt waren. Rousseau, der wichtigste Vordenker der Revolution schreibt:

„Damit der Gesellschaftsvertrag keine leere Formel sei, enthält er stillschweigend die Verpflichtung,…dass jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigere, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen werden soll; das hat keine andere Bedeutung als dass man ihn zwingt, frei zu sein.“

Jean-Jacques Rousseau, “Über den Gesellschaftsvertrag” ,1762

Dieser totalitäre Anspruch wurde im Inland während der sogenannten Schreckensherrschaft (Terreur) mit größter Brutalität durchgesetzt und etwa 35.000 bis 40.000 Menschen wurden unter dem Vorwand „Konterrevolutionäre“ zu sein hingerichtet und die Guillotine wurde zum Symbol der Revolution. Einen vergleichbaren Terror übt auch Da’esh in den von ihnen kontrollierten Gebieten aus. Die Revolution kündigte die nach dem Dreißigjährigen Krieg beschlossene Trennung von Innen- und Außenpolitik auf und die zuvor geltende Machiavelli’sche Staatsräson wich dem Absolutheitsanspruch der Revolution. Der Nationalkonvent entschied revolutionären Bewegungen auf der ganzen Welt militärische Hilfe zu und alle Monarchien wurden per definitionem zum Feind. Ebensowenig wie der Sozialismus nach sowjetischem Vorbild oder der Islam ein Jahrhundert zuvor und auch konzeptionell der „Islamische Staat“ war die Französische Revolution nicht in der Lage die Koexistenz verschiedener politischer bzw. religiöser Ordnungssysteme nebeneinander zu tolerieren.

In beiden Fällen sahen sich von der politischen Umwälzung hervorgebrachte Einzelne als Verkörperung des Volks- bzw. Gotteswillen. Dabei zeigt sich der gravierende Unterschied zu der auf angelsächsischer philosophischer Tradition und den Vorstellungen Montesquieus beruhenden Amerikanischen Revolution wenige Jahre zuvor, die Demokratie als ein System von individuellen Rechten in Verbindung mit einem ausbalancierten politischen System. In Frankreich sah man die Demokratie eher als Methode der Erfassung des gemeinsamen Volkswillens. Nachdem sich herausstellte, dass dieses System nicht stabil funktionierte, fand man die Lösung erneut bei Rousseau, der ein „Staatsoberhaupt“ vorgeschlagen hatte, als sich Napoleon selbst zum Kaiser krönte. Wie auch Napoleon, legitimiert sich der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi über sein Charisma und militärische Erfolge und beide sehen sich als Erfüllungsgehilfen eines höheren Willens.

Prise de la Bastille, Jean-Pierre Houël, 1789, Französische Nationalbibliothek

Aus dem bereits zuvor erwähnten Absolutheitsanspruch der beiden Ideologien folgte, dass beide entstandenen Strukturen sofort nach ihrer Entstehung außenpolitisch isoliert waren und totale Kriege führ(t)en. Dieser Absolutheitsanspruch des selbsternannten Islamischen Staates und die daraus resultierende ideologische Bedrohung aller anderen politischen Ordnungssysteme ist auch Hauptursache der umfassenden politischen Isolation.

Dies sei nicht zuletzt dadurch belegt, dass in Saudi Arabien das (innen-)politische System sich qualitativ in Hinsicht auf die Achtung der Menschenrechte nicht von Da’esh unterscheidet; allerdings stellt das Königreich der Familie Saud keinen Anspruch auf allgemeingültige Geltung seiner Theokratie. Außenpolitisch spielt man „nach den Regeln“ und wird somit zu einem der wichtigsten Verbündeten des „Westens“ in der Region. Saudi Arabien kann als nahezu antiquiert wirkendes Ausstellungsstück des alten Westfälischen Systems der absoluten Geltung nationaler Souveränität nach innen und dem Primat der Staatsräson nach außen angesehen werden. Damit bildet es im modernen System von internationaler Gerichtsbarkeit, Responsibility to Protect ein Unikat.

Welche Lehren lassen sich also aus der europäischen Vergangenheit für die Zukunft des Nahen Ostens ziehen?

Auf diese Frage gibt es leider keine angenehme Antwort. In Verlauf, Totalität des politischen Systems, Legitimationsanspruch, internationaler Beachtung und Isolation sowie der Anwendung politischer Gewalt sind die Ähnlichkeiten beider Phänomene frappierend. In beiden Fällen führt(e) die Ideologie zur unausweichlichen Kraftprobe mit den „Alten Mächten“. Allerdings kann im Gegensatz zu den Erfolgsaussichten der Feldzüge Napoleons eine weltweite Errichtung eines „Kalifats“ ausgeschlossen werden. Zum einen aufgrund der militärischen und wirtschaftlichen Schwäche des selbsternannten „Islamischen Staates“, zum anderen aufgrund der geringen ideologischen Anziehungskraft des Islamismus außerhalb von seit Jahren in Bürgerkriegen zerstörten und bildungsfernen Gesellschaften.

Denn hierin liegt der zentrale Unterschied zwischen den beiden Phänomenen: Die Ideologie Da’esh’ ist durch und durch menschenfeindlich, während die Ideen, die der französischen Revolution zugrunde liegen menschenfreundlich sind. 1789 beging man lediglich den Fehler aus einem moralischen Geltungsanspruch einen politisch-rechtlichen zu formulieren und diesen mit Gewalt durchzusetzen. Dieser Fehler wurde in der Zwischenzeit großflächig (wenn auch längst nicht allumfassend) korrigiert und somit finden sich die revolutionären Werte in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den meisten Verfassungen der Staaten dieser Erde wieder und sind allgemein anerkannt. Sie werden zwar längst nicht überall entsprechend geachtet, aber zumindest pro forma bilden sie den Rahmen des globalen Diskurses.

Für Da’esh ergeben sich die folgenden zwei Szenarien: Entweder man bleibt dem eigenen Absolutheitsanspruch treu, verliert letztlich die kontrollierten Territorien und existiert als unterdrückte Terrorgruppe, so wie al-Qaida, im Untergrund in den verschiedensten Ländern, oder man gibt den Absolutheitsanspruch auf. Das würde bedeuten, dass man auf Terroranschläge im Ausland verzichtet und versucht, sich als staatliche Instanz zu etablieren. Dies käme leider keinem Ende des Terrors gleich, denn die Anschläge würden dann wohl von anderen Gruppen und gegen die eigene Bevölkerung begangen. Doch für Da’esh ergäbe sich so die mittelfristige Möglichkeit, vermutlich unter erneut anderem Namen als Partei in verschiedenen Ländern Fuß zu fassen und vom Ausland toleriert zu werden.

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Erik Jäger
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