Was Dampfmaschinen mit Digitalisierung zu tun haben und warum wir ein neues Zeitalter der Aufklärung brauchen — Teil 2

Peter Diekmann
6 min readAug 15, 2016

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Im ersten Teil dieses Beitrags habe ich aufgezeigt, warum es frappierende Parallelen zwischen dem beginnenden digitalen Wandel und der ersten industriellen Revolution gibt. Damals wie heute gibt es Interessen, den Wandel aufzuhalten und die Gefahr von gesellschaftlichen Konflikten. Im Weiteren möchte ich begründen, warum eine zweite Aufklärung nötig ist und Vorschläge skizzieren, wie diese aussehen kann.

Die digitale Transformation verändert unsere Gesellschaft so grundlegend wie die Pubertät einen Menschen. Wir befinden uns als Gesellschaft mitten in der digitalen Pubertät, sagte Friedemann Karig in seinem sehenswerten Vortrag auf der re:publica 2016.

In der pubertierenden Gesellschaft stoßen wir uns also bestenfalls die Hörner ab. Was aber kommt nach der Pubertät? Was kommt, wenn das Zeitalter der Fakten vorbei ist und damit der Glaube an die Vernunft, wie sie die Aufklärer der ersten Generation als universelle Urteilsinstanz in den Mittelpunkt stellten?

“Wir sind auf dem Weg in eine Welt, in der jahrtausendelang geltende Kategorien endgültig hinfällig sind. Je länger, je mehr leben wir in einer Infosphäre, einer Umgebung, in welcher der Gegensatz real/virtuell und analog/digital sinnlos wird.”

So beschreibt es @thomasribi in seinem lesenswerten Essay Das Flüstern der Dinge. “Die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt werden sich auflösen. Online und Offline vermischen sich. Unsere Lebenswelt, das ist nicht mehr nur das, was wir materiell erleben, sondern auch aus das, was wir online tun.” → Dies gilt allgemein als Inbegriff der digitalen Transformation oder auch vierten industriellen Revolution, von dem wir uns den typisch deutschen Begriff “Industrie 4.0” entlehnt haben und der leider völlig daneben greift. Es geht aber um soviel mehr als nur ein Systemupgrade der industriellen Fertigung, es geht um neue Kompetenzen und Fähigkeiten für die Welt von morgen — also bloß um Bildung?

Bildung = Wissen ist Macht?

Ein wichtiger Faktor der ersten Aufklärung war auch schon die gesellschaftliche Bildung. Noch heute kennen wir einen der großen Leitsätze dieser Zeit: “Wissen ist Macht”, geprägt vom englischen Philosophen Francis Bacon. Bildung und Wissenschaft sollten gefördert und in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet werden. Ohne den Zusammenhang mit einer großen Wissenschaftsbewegung wäre eine aufgeklärte Philosophie niemals möglich gewesen. Während des ganzen 18. Jahrhunderts lenkten aufblühende Wissenschaften die Aufmerksamkeit auf sich und sorgten häufig für die Ablösung lang gültiger Werte und Institutionen. Die Begeisterung der Aufklärer griff von den Geisteswissenschaften auf Astronomie, Biologie, Chemie, Geologie, Medizin, Physik, Physiologie und Ökonomie über; sie alle griffen tief in das tägliche Leben ein und beeinflussten beinahe jeden. Parallelität der Zeiten: Auch heute diskutieren zahlreiche Experten über eine notwendige Digitalisierung der Bildung: über neue Lehrformen, -inhalte und Lernmethoden.

8 digital skills we must teach our children www.weforum.org/agenda/2016/06/8-digital-skills-we-must-teach-our-children/

Im Zeitalter der Aufklärung wurde die menschliche Vernunft zum Maßstab eines jeden Handelns erklärt. Insbesondere die philosophischen Aufklärer wie Descartes, Hegel, Leibniz, Rousseau oder Voltaire wollten Vorurteile und Aberglauben mittels der Vernunft bekämpfen. Nach Kant ist Aufklärung “der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit”. Aber dieses Konzept muss als gescheitert betrachtet werden. Wahrheit ist ein umstrittener Kampfbegriff geworden, Populisten haben Zulauf wie lange nicht und das Vertrauen in einst respektierte Faktengeber aus Politik, Wirtschaft und Medien sinkt, wie das Edelman Trust Barometer seit Jahren belegt. Das “Gegengift” zu den populären Wahrheiten, eine gute Allgemeinbildung, versagt. Was nun?

Von der Aufklärung lernen heißt denken lernen

Die Idee einer zweiten Aufklärung ist nicht neu, diese hatten vor mir schon zahlreiche andere Menschen. Insbesondere möchte ich hier auf das Projekt von Annette Floren und Lutz Frühbrodt verweisen, die dem Thema einen gemeinnützigen Verein, ein Online-Portal, einen in Berlin stattfindenden Salon sowie den „Sonderpreis Medienkritik“ gewidmet haben und in ihrem Manifest schreiben:

“Keine Gesellschaft ist hoch genug entwickelt, um Aufklärung als Projekt der Vergangenheit abzutun. Wenn auch unter anderen Vorzeichen gilt heute wie damals: Jeder, der sich nicht seines eigenen Verstandes bedient, macht sich unmündig und zum Opfer fremder Beeinflussung.”

Floren und Frühbrodt beklagen, dass die Ideale der Aufklärung in unserer Gesellschaft kaum noch präsent sind. “Weder in Worten noch im Handeln füllen die Akteure aus Politik, Wirtschaft, Medien und anderen gesellschaftlichen Bereichen die Aufklärungsideale mit Leben. Um das zu ändern, gibt es kein einfaches, schnelles Rezept, und es wäre ein Widerspruch in sich, den Geist der Aufklärung zwangsweise von oben verordnen zu wollen — denn es geht ja eben um die individuelle Mündigkeit.” Ole Wintermann spricht deswegen, frei nach Kant, dem analogen Bürger die Mündigkeit in einer digitalen Gesellschaft ganz ab: “Erst die Digitalisierung ermöglicht uns seit Jahren Informationen jenseits unseres kleinen nationalen Erkenntnishorizonts.” Wintermann plädiert darum für verantwortlicheren Medienkonsum gepaart mit einer intelligenteren Wissensvermittlung, die auch die Medienkompetenz stärker in den Mittelpunkt rückt. “Wir müssen die Empirie retten!”, schrieb Konrad Lischka vor kurzem hier auf medium und sammelte einige bemerkenswerte Vorschläge ein, die ebenfalls viel mit Medienkompetenz zu tun haben. Eine ähnliche Ansicht vertritt Patrick Breitenbach, der insbesondere die Medien bei der Vermittlung der Medienkompetenz in die Pflicht nimmt. Breitenbach sieht im Hoch des Populismus und der Vertrauenskrise aber auch Gemeinsamkeiten auf allen Seiten, und zwar in der Angst: “Angst vor der allgemeinen Entzivilisierung, die uns alle vereint und uns zugleich anfällig macht für jede Form von Demagogie, die uns dazu verführen will unsere zivilisatorische Grundsubstanz aufzugeben.” Joël Luc Cachelin von der wissensfabrik ist deswegen überzeugt, dass wir ein komplettes System-Update benötigen — also vom Bildungssystem über Infrastruktur und Versicherungen bis zum Verwaltungssystem. Cachelin schlägt u.a. Prototyping zur Simulation von digitalen Utopien als einen Lösungsansatz vor, sagt aber auch: “Das Gesellschaftssystem upzudaten, ist die Pflicht von uns allen.” Ein visionärer Ansatz, der aber auch viele Fragen offen lässt.

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Digitale Aufklärung oder Bullshit 9.0?

Was also tun? Kann uns vielleicht doch das Netz helfen, trotz Bullshit 9.0 und Filterblasen aus Kruppstahl? Der Erfinder des WWW, Tim Berners-Lee, sucht selbst nach einem Ausweg und möchte uns wieder zum Souverän unserer Daten machen. Anderen gibt die Blockchain-Technologie Anlass zu Utopien, für Stefan Mey ist ihre maximale Transparenz sogar der Grund für Revolutionen. Eines der spannendsten Blockchain-Projekte, das ich kenne, nennt sich Ethereum, dessen Ziel die Dezentralisierung persönlicher Daten innerhalb kompletter Programme ist. Exzellent beschrieben hier beim Zukunftsinstitut mit Infografik von Angelo Milan. Auch die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz bergen große Chancen für unsere gesellschaftliche Entwicklung, wie zuletzt im Merton Magazin von Christoph Kappes aufgezeigt. Aber die Technologie allein ist keine Lösung.

“Das Wesen guter Allgemeinbildung besteht darin, dass sie nicht fertiges Wissen vermittelt, sondern Werkzeuge zum Weiterdenken erschließt, die es uns ermöglichen, dass wir uns im Leben leichter tun. […] Auch wenn in der Schulpraxis vieles überladen ist, die Kernidee stimmt: Allgemeinbildung ist ein gutes Training zur Welterschließung, eine universelle Usability, die der Entwicklung einer Persönlichkeit dient.”

So schreibt es @Wolf Lotter in einem seiner grandiosen brandeins-Themenschwerpunkte “Einfach besser”. Er zitiert mit Küstenmacher, Sagan und Faltin zwar “ältere” Philosophen der Neuzeit, sieht aber die Chance aus den gesammelten komplexen Erkenntnissen zurück zu einer Vereinfachung der Welt zu kommen:

“Ein neuer Humanismus wird sich auf die Verbreitung der Erschließungswerkzeuge konzentrieren, nicht auf das Verbieten und Regulieren, Weglassen und Isolieren. Es geht darum, sich das Leben leichter zu machen, nicht schwerer. Humanisten erkennt man heute daran, dass sie den Menschen Methoden und Ideen anbieten, um sich das Leben zu erleichtern — und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Das ist das Ziel menschengerechten Fortschritts. Selbstermächtigung ist der beste Weg zur Übersicht.”

Statt einen vernunftbegabten Menschen zu bilden, der sich aber letzten Endes doch selbst ein Wolf ist, also das Ideal des lernfähigen und sich selbst bildenden Menschen in den Mittelpunkt stellen? Dazu nochmal Patrick Breitenbach aus seinem letztjährigen Blogbeitrag “Wider die anstrengende Aufklärung”:

“Eine Stärke der Aufklärung war eben auch ihr experimenteller Charakter. Aufklärung machte den Menschen Mut Dinge auszuprobieren und sie zu beobachten, interpretieren und auszuprobieren. Es gilt also wach und beweglich, aber vor allem dauerhaft im Gespräch zu bleiben.”

Ich würde das Gespräch gern wieder aufnehmen, den Diskurs beibehalten und die Debatte erweitern und rufe daher jeden mündigen und begabten unter den Lesern zu weiteren, eigenen Beiträgen auf. Nennt es Blogparade, Netzdebatte oder einfach einen Ideenaustausch: Wie kann eine zweite Aufklärung für die digitale Gesellschaft aussehen?

Schreibt Eure Ideen in die Kommentare, verlinkt eigene oder fremde Beiträge oder schickt mir hier eine Notiz oder drüben einen tweet.

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Peter Diekmann

Digitale Kommunikation @ Bosch Stiftung, normal nerdig, fragt gerne nach dem "Why"?