Was Digitalisierung mit Dampfmaschinen zu tun hat und warum wir ein neues Zeitalter der Aufklärung brauchen — Teil 1

Peter Diekmann
4 min readAug 10, 2016

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Quelle: http://imgur.com/hTNHJ4K

Überwachung, Pegida, Flüchtlinge, AfD, Trump, Brexit, Meinungsfreiheit… — in den vergangenen Monaten ist es selbst in meiner sorgfältig ausgewählten und gepflegten Filterblase aufgeregter und lauter geworden. Meinungen werden heftiger ausgetauscht, virtuelle Freundschaften gekündigt und der Ruf nach “Hirn vom Himmel” häufiger und lauter.

Viel zu häufig teilten dabei Menschen, die ich gut zu kennen glaubte, zur Unterstützung ihrer Aussagen Fakten und Links mit mir, die sich nach kurzer Recherche als unhaltbar oder unseriös bewiesen. Meine Versuche, eben dieses aufzuzeigen, wurden jeweils mit Erstaunen, Ungläubigkeit, leider auch Ablehnung begegnet. Ein Familienmitglied gefiel sich in der Pose, grundsätzlich alles in Frage zu stellen, was Medien und Politik verbreiten.

Die in diesen Dialogen erkennbare Mischung aus Misstrauen, emotionaler Erregung und dem Wunsch nach Orientierung in einer Welt voller Veränderungen weist eine frappierende Parallele zur Welt des 18. und 19. Jahrhunderts auf. Damals überrollte die industrielle Revolution alles und jeden und veränderte die Sichtweise der Menschen auf sich und die Welt. Heute sorgen globale und digitale Vernetzung für den gleichen Effekt — nur in potenzierter Geschwindigkeit. Während die technische Entwicklung in der Vergangenheit noch über Generationen dauerte, erleben wir innerhalb eines einzigen Jahrzehnts komplette technologische Umwälzungen. Dazu kommen globale ökonomische und ökologische Entwicklungen, die auf Politik und Gesellschaft spürbaren Einfluss haben.

Der Vergleich zwischen Digitalisierung und Industrialisierung als einer gesellschaftlich-politisch-wirtschaftlichen Revolution ist nicht neu. Von Daniel Domscheit-Berg über Sascha Lobo bis zu Andrew Keen wurde diese Analogie schon strapaziert. Domscheit-Berg vergleicht in seinen Vorträgen immer wieder das Internet mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern von Johannes Gutenberg: Es mache Informationen und Wissen in einem Masse zugänglich, das bis dahin unvorstellbar gewesen sei und habe das Wissen aus den Händen einer kleinen intellektuellen Schicht entrissen.

Der Meinung Domscheit-Bergs zufolge können die Menschen die Geschwindigkeit des digitalen Wandels mit ihrem Vorstellungsvermögen heute nicht mehr erfassen. Als Beispiel nennt er Abläufe in der Elektronik oder im Börsenhandel, die in Nanosekunden vonstatten gehen. Daher werde durch die neuen Technologien eine Welt geschaffen, die vom Menschen nicht mehr zu erfassen sei. Der Buchdruck war die Technologie, um Gedanken zu verbreiten. Das Internet ist die Technologie, um Gedanken zu vernetzen. Deswegen war seine Verbreitung so rasant und bahnbrechend. Ein WORLD WIDE Web konnte erst dann seine Wirkung entfalten, als wirklich weltweit Menschen Zugriff darauf hatten. Aber eben nicht nur freundliche Weltverbesserer, lupenreine Demokraten und uneigennützige Erfinder, sondern jede Art von Mensch. Die Illusionen, mit dem Internet die Gesellschaft besser zu machen, hätten sich nicht bewahrheitet, zog schon Sascha Lobo im Mai dieses Jahres auf der re:publica eine Zwischenbilanz. Gegenöffentlichkeit würde heute vor allem durch den Rechtspopulismus verwirklicht, so seine ernüchternde Analyse. Einen Monat später folgt eine seiner meistzitierten Kolumnen der letzten Zeit, Bullshit 9.0, in der er die JETZT-Fakten der Echtzeitmedien gegenüber der Hintergrundrecherche als leider überlegen belegt.

Der technische Fortschritt bringt die Welt voran, er bringt aber auch neue Probleme mit sich, sagen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee von der Sloan School of Management am MIT in Cambridge in ihrem Buch: The Second Machine Age — Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird.

“Digitale Technologien sind für die geistigen Kräfte des Menschen das, was in der industriellen Revolution die Dampfmaschine und ähnliche technische Entwicklungen für die Muskelkraft waren. Mit ihrer Hilfe können wir viele Grenzen sprengen und in beispiellosem Tempo Neuland betreten. Nur: Wie sich diese Entwicklung letztlich vollziehen wird, ist unklar. Genau wie es Jahrzehnte gedauert hat, die Dampfmaschine so weit zu verbessern, dass sie zum Motor der industriellen Revolution werden konnte, braucht es Zeit, die digitalen Technologien zu verfeinern.”

Das sind sie wieder, die Dampfmaschinen. Und wie die Maschinenstürmer des 18. Jahrhunderts, die dachten, sie können durch Zerstörung der Technik den Fortschritt anhalten, gibt es auch heute Gegenbewegungen und Untergangsprediger. Und ebenso gibt es die Manipulatoren und Demagogen, die die Möglichkeiten der Echtzeitmedien für sich benutzen. “Das Zeitalter der Fakten ist vorbei” schreibt @Lenz Jacobsen Anfang Juli in einem Zeit-Essay und vergleicht an den Beispielen Trump und Brexit, wie mit Unwahrheiten Meinungen gemacht wird:

“Wahrheit ist so zum Kampfbegriff geworden, und Fakten sind nicht mehr der Goldstandard in öffentlichen Debatten. Es scheint damit eine Epoche zu Ende zu gehen, die seit der Aufklärung spätestens angedauert hat und deren Paradigma schon im Mittelalter entstanden ist.”

Eine Epoche geht zu Ende, lange gültiges Wissen wird plötzlich überholt und Apologeten der alten Werte weniger bedeutsam. Wie stark der Wandel ist, zeigen die teils heftigen Reaktionen von anerkannten Intellektuellen wie Hans-Magnus Enzensberger, Andrew Keen, Jaron Lanier oder Harald Welzer, die in den Medien und teilweise in eigenen Büchern vor dem digitalen Debakel, smarten Diktaturen und Cyberterror warnen. Neuere Vertreter wie Brynjolfsson und McAffee sind neutraler und nennen es einfach einen entscheidenden Punkt unserer Entwicklung. So sagte Brynjolfsson in einem Interview mit der Zeit:

“In der industriellen Revolution folgte auf den technologischen Wandel notwendigerweise Bewegung in der Verwaltung. Das passiert nicht von allein. Wir müssen auch dieses Mal tief greifende Veränderungen vorantreiben, unser Bildungssystem reformieren, Teamwork, Kreativität und soziale Kompetenzen fördern. Der größte Effekt der neuen Technologie ist mehr Wohlstand. Die Frage ist, ob wir eine Gesellschaft bilden, in der breit geteilt wird, wo zwar die Reichen reicher werden, aber auch die Armen und die Mittelschicht? Diese Frage wird nicht die Technologie entscheiden, sondern wir selbst müssen sie entscheiden.”

Wir befinden uns mitten im Übergang in ein vernetztes Zeitalter, eine vernetzte Gesellschaft und Wirtschaft. Soziale, rechtliche und politische Folgen sind bisher kaum abzusehen. Unterschiedliche Themenkomplexe von der Arbeitswelt über Datenschutz, Privatsphäre und Urheberrechte bis hin zu postdemokratischen Debatten im politischen Diskurs beginnen sich, zu entfalten.

“Sapere aude!” = “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”

— das war das Motto der ersten Aufklärung. Brauchen wir eine zweite?

Dazu mehr hier in Teil 2.

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Peter Diekmann

Digitale Kommunikation @ Bosch Stiftung, normal nerdig, fragt gerne nach dem "Why"?