Google Ventures’ SPRINT: In fünf Tagen Lösungen entwickeln und testen

Sarah Eisenmann
Digital Hills
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9 min readMay 25, 2016

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Ev Williams (Gründer von Medium und Co-Gründer von Twitter) lobt es in hohen Tönen und auch Eric Ries (Der Autor von The Lean Startup) oder Tim Brown (CEO von IDEO) bezeichnen es als must read bzw. ermuntern, die Methode auszuprobieren: SPRINT, das neue Buch aus dem Silicon Valley über den 5-Tages-Sprint, den das Team um Jake Knapp bei Google Ventures entwickelt und in den letzten Jahren intensiv erprobt hat. Und die Referenzen der Methodennutzer können sich durchaus sehen lassen: Slack, Medium, airbnb — um nur einige zu nennen. Frisch aus der Presse und voller Neugier habe ich mir das Buch besorgt und direkt in zwei Bahnfahrten verschlungen. Was steckt darin und vor allem dahinter?

Ziel der SPRINT-Woche ist es, gute Lösungen in kurzer Zeit zu entwickeln und zu testen. Dazu wird ein Team zusammengestellt, welches sich fünf Tage von 10 bis 17 Uhr voll und ganz dem SPRINT widmet. Wer sich bereits mit Design Thinking und entsprechenden Methoden auseinandergesetzt hat, wird sich auch hier gut aufgehoben fühlen. Und auch wer sich bisher noch nicht damit beschäftigt hat, findet in dem Ansatz sicher einige hilfreiche Aspekte. Also los!

Wofür sich eine SPRINT-Woche eignet? Pick a big fight!

Mit einer SPRINT-Woche können Produkte bis hin zu Innovationen entwickelt werden. Es geht aber nicht immer nur darum, das Rad neu zu erfinden und neue Produkte zu entwickeln. Knapp und seine Kollegen empfehlen die Methode daher für beinahe alle Bereiche z.B. Produktmanagement, Service und IT.

Nicht nur bereichsübergreifend soll die Methode sinnvoll sein, sondern auch über verschiedene Problemgrößen hinweg. Keine Herausforderung ist zu groß — so lautet das Motto. Ein solcher SPRINT kann in Situationen helfen, in denen man von seinem Standpunkt aus gerade nicht weiter weiß. Wenn man bei einem Vorhaben nicht sicher ist, wo man starten soll, oder auch in solchen Situationen, in denen Entscheidungen mit hohem Risiko einhergehen. Vor allem schwere Aufgaben bringen tolle Lösungen über einen SPRINT, das versprechen die Autoren — also: Pick a big fight!

Prinzipien des SPRINTS

Die SPRINT-Woche beruht auf verschiedenen Prinzipien. Diese Grundpfeiler machen schnell deutlich, was die Besonderheiten und möglichen Erfolgsfaktoren der Methode sind. Hat man diese einmal verinnerlicht, ergeben die einzelnen Bausteine der SPRINT-Woche doppelt Sinn und können auch situativ einzeln angewendet werden. Die Prinzipien lassen sich wie folgt kondensieren. Ich habe mir erlaubt ihnen Namen zu geben und zu erweitern.

asap — schnell, schnell eine Lösung finden. Natürlich ist gegen einen gesunden Pragmatismus nichts einzuwenden. Allerdings führen hastig generierte Lösungen oft nur zu kurzsichtigen Maßnahmen. Pragmatismus ist gut, solange man das Ziel im Blick hat. Um dieses zu schärfen lohnt es, sich zunächst etwas Zeit zu nehmen, um die Herausforderung tatsächlich zu verstehen. Dazu gehört das Problem auszuarbeiten und eine gemeinsame Einigung auf ein (vorläufiges) Ziel zu finden. Obwohl es zu Beginn mehr Zeit in Anspruch nimmt, kommt man mit einem gemeinsamen Ziel und geschärften Verständnis der Herausforderung insgesamt schneller ans Ziel.

Gruppen Brainstorming ist eine allseits beliebte Herangehensweise, kreative Lösungen zu finden. Selten wird über die Nachteile der Methode gesprochen. Auch wenn Gruppen Brainstorming in gewissen Situationen durchaus sinnvoll sein kann, ist Knapp insgesamt kein Verfechter der kollektiven Kreativität. Group brainstorming is broken, schreibt er. Er ist überzeugt, dass individuelle und durchdachte Sketche besser ans Ziel führen. Ich denke, da ist sicherlich etwas dran. Vor allem deshalb, da es bei kollektiven Methoden stark auf den individuellen Grad der Intro- bzw. Extraversion ankommt. Im klassischen Gedanken-Pingpong sind vor allem extrovertierte Menschen besser aufgehoben. Sie befruchten sich mit ungefilterten und bruchstückhaften Ansätzen und entwickeln Lösungen im Gespräch. Dahingegen tendieren introvertierte Menschen eher dahin, Lösungen erst in einem schlüssigen und vorab durchdachten Zustand zu präsentieren. Individuelles Sketching mit anschließender Diskussion stellt für beide Typen also eine gute Lösung dar.

Wer kennt das nicht — endlose Debatten, um eine Entscheidung herbeizuführen. Knapp und seine Co-Autoren setzen bei ihrer Methode daher vielmehr auf standardisierte Entscheidungsmechanismen. Dabei gibt es immer die Rolle des Entscheiders. Die Prioritäten im Team werden in einer ersten Voting-Iteration ermittelt und dienen dem Entscheider demnach als Basis. Da der Entscheider aber ungebunden ist — sich also auch über die Meinung des Teams hinwegsetzen kann — kommt es weniger zu halbgaren Kompromisslösungen. It’s the wisdom of the crowd without the groupthink.

Westernfilme lassen uns in die Welt des wilden Westens abtauchen. Dabei stehen am Set gut gemachte Attrappen, die eine Fassade der Gebäude vortäuschen. Was braucht eine Idee also, um beim Kunden getestet zu werden? Keine fertigen Lösungen, sondern lediglich die Fassade davon. Die Entwicklung von Prototypen wird in der Praxis oftmals verworfen, da das Prozedere zu lange dauert. Doch genau das Prototyp-Mindset steht in der SPRINT-Woche im Fokus. Manche Lösungen scheinen natürlich schwer in eine glaubhafte Fassade übersetzbar. Doch die Autoren stellen einige Tricks und Tools vor, wie man schnell zu glaubhaften Prototypen gelangt. So muss man beispielsweise keinen Prototyp aufwändiger Produkte bauen, wenn auch eine authentische Produktbroschüre verwendet werden kann.

Vom Prototyp-Mindset hin zu dem, was man damit macht: testen. Denn hat man erstmal einen Weg eingeschlagen, eine Lösung umzusetzen, kann dieser ziemlich arbeits- und kostenintensiv sein. Anstatt sich dabei auf sein Bauchgefühl zu verlassen, sollte man die Erfolgschance dieser Mühe vorab validieren. Und wer glaubt, eine Handvoll Meinungen bringen ja sowieso nichts, der irrt. Die Nielsen Norman Group hat in ihren Untersuchungen herausgefunden, dass fünf die optimale Anzahl von Testern ist: Laut Zahlen der User-Experience-Experten decken fünf Tester rund 80 Prozent der Probleme und Muster auf. Natürlich muss bei der Auswahl der Tester Sorgfalt walten: Es braucht passgenaue Repräsentanten der anvisierten Zielgruppe.

Last but not least: Zeit und Fokus. Tolle Entwicklungen und Lösungen werden oft mit Arbeitsstunden bis spät in die Nacht assoziiert. Doch das Google Ventures Team setzt bewusst auf die Grundregel: sieben Stunden pro Tag von 10 Uhr bis 17 Uhr, viele Pausen und Timeboxing aller Aktivitäten. Damit sind die Teilnehmer frisch im Kopf und fokussiert bei der Arbeit. Außerdem ist im Arbeitsraum absolute Device-Abstinenz angesagt. Wer Mails checken oder telefonieren will, muss den Raum verlassen.

Die SPRINT-Woche

Schauen wir uns nun an, wie die Prinzipien in der SPRINT-Woche umgesetzt werden. Vorab möchte ich allerdings noch klar stellen, dass es sich hierbei um eine stark kondensierte Form der SPRINT-Woche handelt. Jeder Tag und jeder Baustein haben durch die Autoren eine klare Herangehensweise mit festgelegten Prozessschritten erfahren. Es werden quasi Methoden in der Methode angewendet. Wer an diesen stärker interessiert ist, kann sich entweder das Buch besorgen, das weitere Material anschauen oder sich direkt an mich wenden.

Ganz im Sinne des ersten Prinzips widmet sich der Montag der Zielfindung und dem Erreichen eines umfassenden und gemeinsamen Verständnisses der Herausforderungen. Nach dem Festlegen der Zielsetzung wird dafür zunächst der Kundenprozess gemappt, der die Kundengruppen und alle anderen Key Player integriert und möglichst simpel dargestellt wird. Am Nachmittag werden dann Experten hinzugezogen, um ein umfassendes Verständnis der Herausforderung und möglicher Hindernisse zu erhalten.

Der Dienstag beginnt mit Lightning Demos. Die Methode beleuchtet spannende Lösungen des eigenen Unternehmens wie auch anderer Firmen, extrahiert daraus wertvolle Punkte für das weitere Vorgehen und macht sie für das Team verfügbar. Den Rest des Tages widmet sich das Team dem Sketching, individuell und unabhängig voneinander. Inspiriert von den Lightning Demos gilt das Motto: remix and improve. Im Gegensatz zu abstrakten Ideen, stellt ein Sketch eine möglichst konkrete Lösung in vier Schritten dar.

Der Mittwoch ist Tag der Entscheidung. Welche der Lösungen aus dem Sketching soll weiter verfolgt werden? Über verschiedene effiziente Mechanismen werden am Ende eine oder zwei bis drei Lösungen auserkoren, die entweder zu einer Lösung kondensiert, oder parallel weiterverfolgt werden. Der Entscheider hat dabei zwar das letzte Wort, seine Entscheidungsgrundlage ist aber über einen mehrstufigen Voting-Prozess durch das Team priorisiert. Ein Storyboard bildet die Basis für den Prototypenbau am nächsten Tag.

Eine Lösungsentscheidung ist gefallen. Doch erst 60 Prozent der Arbeit ist geschafft und ein Prototyp-Mind weiß, dass es jetzt erst wirklich spannend wird. Am vorletzten Tag der SPRINT-Woche geht es darum, einen bzw. mehrere Prototypen zu bauen. Eine klare Rollenverteilung hilft dabei, den Prototyp bis 17 Uhr fertiggestellt und einen Testlauf absolviert zu haben. Es gilt die goldene Mitte zwischen provisorischem Arrangement und realistischer Fassade für authentische Reaktionen zu treffen, auch genannt goldilocks quality.

Am Freitag wird es ernst. Der Prototyp wird der Zielgruppe zum Test ausgesetzt. In einer klassischen 1:1 Interviewkonstellation werden die Tests mit den Repräsentanten der Zielgruppe nacheinander durchgeführt. Das Team verfolgt die Interviews idealerweise über Webvideo und macht über ein intelligentes Raster am Whiteboard kollektiv Notizen, die am Ende ausgewertet werden.

Der Output einer SPRINT-Woche ist klar: Lösungen wurden entwickelt und getestet. Im Fall eines positiven Verlaufs, d.h. im Fall von begeisterten Testern, bedeutet das, dass die entwickelte Lösung nun grünes Licht für die Umsetzung bekommt. Aber auch negatives Feedback durch die Tester bringt große Learnings für das Team. Es können Anpassungen vorgenommen werden, um den Ansatz in eine treffende Richtung zu lenken. Und selbst im schlimmsten Fall — wenn der Ansatz verworfen wird — wurden Kapazitäten in Form von Zeit und Geld gespart. Solche Kapazitäten nämlich, die in die Ausarbeitung von Ideen gesteckt worden wären, wenn man sie aufgrund des guten Bauchgefühls direkt weiterverfolgt hätte.

In vielen Fällen macht es Sinn, im Anschluss einen weiteren SPRINT zu planen, um auf dem Feedback des ersten SPRINTs aufzusetzen. In der Regel kann man sich dann den Montag und ggf. (spätestens im dritten SPRINT) Dienstag und Mittwoch der Woche sparen.

Kurz und knapp zusammengefasst, sieht die SPRINT Woche wie folgt aus:

Weiteres Material

Zur Durchführung der SPRINT-Woche stellen die Autoren detaillierte Checklisten sowie ein Slidedeck zur Einführung am Montagmorgen zur Verfügung. Natürlich muss man mit solchen Vorgaben nicht päpstlicher als der Papst umgehen. Gerade für den ersten 5-Tages-Sprint können die genauen Vorgaben allerdings sehr hilfreich sein, schließlich wurden diese über Jahre hinweg validiert und optimiert. Der Ablauf der fünf Tage ist zudem als How-To auf YouTube zu finden:

Fazit

Ein Hoch auf Methoden. Sie stellen Werkzeuge dar, um mit dem entsprechenden Mindset großartige Lösungen zu entwickeln. Sie helfen uns, Dinge zu strukturieren, Verständnis zu entwickeln, Rahmen abzustecken und Perspektiven zu wechseln. Natürlich ist nicht gleich jede Methode gut, nur weil sie eine solche darstellt. In jedem Methodenansatz ist ein Mindset verbaut, quasi als DNA, aus der eine Methode erwächst. Eine Methode unterstützt dabei, das eigene Mindset in der Praxis effektiv umzusetzen. Mich begeistern Methoden, die aus einem Mindset erwachsen, das aus Perspektivenvielfalt, Flexibilität und kundenzentrischem Denken gespeist wird. In dem es darum geht, Wahrnehmungs- und Lösungsräume zu öffnen anstatt der erstbesten Lösung zu vertrauen und flexibel wie auch iterativ an Herausforderungen heranzutreten anstatt starren Meilensteinplänen zu folgen, deren Ergebnis letztlich nicht funktioniert.

Der 5-Tages-Sprint stellt genau eine solche Methode dar. In Zeiten überfüllter Terminkalender ist die tatsächliche Durchführung sicherlich mit mehr Hindernissen verbunden, als es zunächst scheint. Schließlich muss man auch die Vorbereitung und mögliche Folge-SPRINTs bedenken. Dennoch stellen die postulierten Prinzipien unabhängig von der Methode für mich eine essentielle Grundhaltung dar, um sich Herausforderungen zu nähern. Diese lassen sich schon im Kleinen direkt im Arbeitsalltag anwenden. Bei uns im Team sind die Prinzipien beispielsweise in den Meeting-Routinen sehr stark etabliert. Wir nutzen die immer wieder neu vergebene Rolle des Timekeepers in Meetings, halten diese immer ohne Devices ab und arbeiten immer möglichst visuell auf unseren beschreibbaren Wänden und auf Post-Its. Auch unser Entscheidungsprozess unterliegt einem ähnlichen Mechanismus, nämlich dem Advice Process, den Frédéric Laloux in Reinventing Organizations vorstellt: Um Entscheidungen zu treffen, werden relevante Meinungen eingeholt. Die Entscheidung selbst liegt aber beim Initiator und kann daher also auch entgegen der Gruppenmeinung ausfallen.

Wer selbst schon Erfahrungen mit einem 5-Tages-Sprint oder grundsätzlich mit der Anwendung der Prinzipien gemacht hat, ist herzlich eingeladen, seine Erfahrungen hier zu teilen. Ich freue mich über jegliche Learnings und Anregungen!

Originally published at www.digital-hills.de on May 25, 2016.

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Sarah Eisenmann
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