Gut zu wissen, dass man nicht weiß

Thomas Euler
Digital Hills
Published in
8 min readApr 21, 2016

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Zu wissen, dass man nicht alles weiß, hilft dabei, bessere Entscheidungen zu treffen. Doch im Unternehmensalltag ist Unsicherheit oft noch ein ungern gesehener Zeitgenosse — was problematisch ist. Ein Plädoyer für einen anderen, professionellen Umgang mit dem, was wir nicht wissen (können) samt praktischer Tipps für die Praxis.

Die Psychologie der Ungewissheit

Jemanden einen Alleswisser zu nennen ist eindeutig kein Kompliment. Anders jedoch oft im Business: In vielen Unternehmen ist es von Vorteil, als Person wahrgenommen zu werden, die alles weiß. Oder zumindest in seinem jeweiligen Fach allwissend zu erscheinen.

Man denke nur daran, wie viele Business-Ratgeber und Coaches einem dazu raten, stets selbstsicher und überzeugt zu wirken. Ein entsprechender Auftritt gilt als einer der Schlüssel zum Erfolg — und ist es in vielen Fällen tatsächlich! Denn es liegt in unserem menschlichen Naturell, uns von einer überzeugenden Performance beeindrucken zu lassen. Das gilt fürs Kino ebenso wie im Meeting. Wir haben nämlich einen natürlichen Hang zur Sicherheit und ein überzeugender Auftritt wiegt uns in eben jener.

Doch diese psychologischen Tendenzen machen uns anfällig für Fehleinschätzungen.

In unserer zunehmend komplexen Welt sind Gewissheit generell sowie Entscheidungen mit einem hohen Grad an Sicherheit zwar nette theoretische Konstrukte, aber leider wenig mehr. In der Praxis sind sie schlicht nicht erreichbar — oder mit enormem, unverhältnismäßigem Aufwand verbunden. Ein gutes Beispiel ist die Digitalisierung (oder jede andere technologische Innovation, die eine Branche drastisch verändert), die derzeit viele Unternehmen vor große Herausforderungen stellt. Höchstwahrscheinlich ist jeder der behauptet, er wisse mit Sicherheit was Ihr Unternehmen tun müsse, um in den nächsten Jahren aus der Digitalisierung erfolgreich Kapital zu schlagen, entweder ein Scharlatan oder ist schlicht zu überzeugt von seinem eigenen Wissen — glücklicherweise ist meiner Erfahrung nach letzteres wahrscheinlicher.

Warum ist das problematisch? In simplen Systemen können wir generell davon ausgehen, künftige Ereignisse recht präzise vorhersagen zu können (z.B. haben wir eine 1:5 Chance, die nächste Augenzahl eines Würfels vorherzusagen). Desto komplexer ein System allerdings wird (sprich die Anzahl der zu beachtenden Variablen bzw. ihrer möglichen Werte steigt), desto geringer die Chance, genaue Vorhersagen zu treffen. Hinzu kommt das Black-Swan-Problem, sprich das Auftreten sehr unwahrscheinlicher Ereignisse mit großer Wirkung. Willkommen in der echten Welt! Für Entscheider heißt das schlicht: Es ist extrem wahrscheinlich, regelmäßig daneben zu liegen.

Hinterfragen als Erfolgsgrundlage

An und für sich stellt das noch kein Problem dar. Falsche Entscheidungen treffen wir alle. Allerdings wird es zum Problem, sobald sie ihr eigenes Wissen und damit die Qualität ihrer Entscheidungen überbewerten. Im Geschäft — wie vielleicht in den meisten Lebensbereichen — besteht der Schlüssel zur Langlebigkeit darin, sich selbst sowie den Status-quo des eigenen Business konstant zu hinterfragen. Die Welt da draußen verändert sich, also veränderst Du dich besser mit oder Du wirst entbehrlich. Adapt or die, wie es so schön heißt. Das gelingt aber natürlich nur, wenn man nicht allzu beharrlich darauf pocht, dass gestern getroffene Entscheidungen — auf Basis der damaligen Informationen — heute noch Bestand haben.

Anders gesagt: Wer Entscheidungen trifft, tut gut daran zu wissen, dass er nicht alles weiß. Denn

a) hält es einen davon ab, ein Selbstbild zu entwickeln, in dem man sich für unfehlbar hält und

b) diese Erkenntnis hilft dabei eine Dynamik des konstanten Hinterfragens zu entwickeln.

Dies gilt übrigens sowohl auf einem individuellen Level wie auf Ebene der Organisation.

So bedrohlich Unsicherheit auch auf viele von uns wirken mag, ist sie doch ein Bestandteil des Lebens. Obgleich einige Menschen daran arbeiten, das zu ändern , müssen wir für den Moment mit ihr umgehen. Deshalb geht es letztlich um die Frage: Wie gehen Sie mit Unsicherheit um? Wie sprechen Sie darüber? Haben Sie Praktiken zur Hand, die es Ihnen und ihren Kollegen erlauben, Unsicherheit zu adressieren, ohne in Panik zu verfallen?

Praxistipps für den Umgang mit Unsicherheit

Ich will ein paar Ideen teilen, von denen wir einige in unserem Unternehmen sowie in Kundenprojekten nutzen, und auf einige interessante Ansätze verweisen, die andere entwickelt haben:

1. Blinde Flecken akzeptieren

Wie in so vielen Bereichen der Fall, beginnt auch der Umgang mit Unsicherheit bei der eigenen Kultur. Ist Ihre Organisation sehr auf Sicherheit bedacht? Brauchen Sie erst Berichte von drei bis zehn Beratungen, bevor eine (einigermaßen) wichtige Entscheidung getroffen wird? Als ich eingangs von Organisationen sprach, die ihre Mitarbeiter dafür belohnen allwissend zu wirken, dachten Sie da: „Das sind wir!“? Wenn Sie jetzt mehrmals mit „Ja.“ geantwortet haben, liegt die Vermutung nahe, dass Ihr Unternehmen Unsicherheit eher ablehnend gegenüber steht.

Wenn Sie das Thema Ungewissheit angehen wollen, braucht es zunächst ein gemeinsames Verständnis im Unternehmen, das besagt: Es ist okay, blinde Flecken zu haben. Die Menschen in Ihrer Organisation sollten verstehen, dass diese häufig unvermeidbar sind , jedoch nicht unter den Teppich gekehrt, sondern offen angesprochen werden sollten.

2. Reden über Unsicherheit

Wie lässt sich Kultur beeinflussen? Kommunikation ist hierzu der Schlüssel. In unserem Team nutzen wir häufig Sätze wie „Vermuten wir das oder ist das ein Fakt?“ oder „Das ist unsere beste Wette, aber nichtsdestoweniger eine Wette“. Als CEO bin ich persönlich darauf bedacht, klar zu adressieren, was ich nicht weiß. So wissen meine Kollegen, dass sie es selbst genauso halten können. Zusätzlich zu dieser Meta-Kommunikation sprechen wir explizit über unsere Philosophie in dieser Hinsicht, etwa im Rahmen des Onboardings und regelmäßig in Meetings.

Das gleiche gilt für unseren Umgang mit Klienten. Wir geben nicht vor, Dinge zu wissen, die wir nicht wissen . Das mag im ersten Moment komisch anmuten — immerhin sind wir eine Beratung, sprich wir verdienen unser Geld u.a. mit Wissen — aber ich habe festgestellt, dass sich der Ansatz langfristig bezahlt macht. Wir glauben fest an unsere Expertise und die Qualität unserer Methoden. Doch es gibt Dinge auf dieser Welt, die wir nicht wissen und diese sprechen wir offen an, wenn sie eines unserer Projekte berühren. Besonders in einem jungen, extrem interdisziplinären Feld wir dem unsrigen erwartet niemand mit auch nur einem Hauch von Realitätssinn von einem, alles zu wissen.

Ich glaube dieser Ansatz funktioniert deshalb so gut, weil er dazu führt, dass unsere Kunden unseren Empfehlungen umso mehr Vertrauen schenken, wenn wir sie mit großer Zuversicht anbringen. Außerdem erwarten unsere Kunden weniger schlechte Überraschungen. In der Regel gehen Dinge schief, wie in allen Projekten, aber zumindest haben wir diese Möglichkeit von Vornherein eingeräumt und mit offenen Karten gespielt. In meinen Augen ist das schlichtweg professionelles, seriöses Arbeiten, doch den Aussagen unserer Kunden nach zu urteilen nicht unbedingt die Norm.

(Ich frage mich außerdem, ob das ein deutsches Thema ist. Immerhin sind wir das Land der Ingenieure und deshalb vielleicht geneigter zu (irr)glauben, man könne alles vorausplanen.)

3. Echte Empirie statt prosaischer Prognosen

Auf keinen Fall will ich den Eindruck erwecken, ich sei grundsätzlich gegen Daten oder Empirie. Ganz im Gegenteil. Allerdings wird viel Mühe, Energie und Geld darauf verschwendet, inakkurate Forecasts und Studien zu erstellen. Anschließend werden auf deren Basis Entscheidungen getroffen, einfach weil sie existieren und dem Entscheider als Absicherung dienen („Laut Prognose xyz sollte aber abc passieren. Dass es nun anders kam, war völlig unvorhersehbar!“). Es wäre vermutlich sinnvoller, das Geld einfach vom Dach zu schmeißen.

Stattdessen spreche ich mich für ein tatsächlich empirisches Vorgehen aus. In den meisten Fällen bedeutet das, im Nachgang zu messen.

Experimentiere mit vielen, gerne mutigen Initiativen, aber definiere im Vorfeld zielführende, kritische Kenngrößen. Messe diese konsequent und entscheide basierend auf den Resultaten, wie weiter fortzufahren ist. In der Praxis sehe ich jedoch oft das entgegengesetzte Vorgehen: Etliche Ressourcen werden in Prognosen und Studien gesteckt, mit denen den Entscheidungsträgern Projekte verkauft werden sollen. Ist eine Initiative jedoch erst einmal lanciert, wird oft vermieden, allzu genau hinzusehen, wie sie wirklich performt. Ein in sich komplett schlüssiges Vorgehen, wenn die Organisation schlechte Ergebnisse als Scheitern betrachtet. Immerhin würden somit alle (Mit-)Träger der Entscheidung einen Makel davonschleppen. Was mich direkt zu meinem nächsten Punkt führt:

4. Konstruktiv mit Misserfolgen umgehen

Wie wir Dinge bewerten, die nicht so funktionieren wie erhofft, ist eine Frage der Perspektive. Oft reden wir im Business-Alltag von „gescheiterten Projekten“, „Fehlentscheidungen“ oder „Misserfolgen“. Im Sport hingegen gibt es eine Sache namens Training. Dort werden Spielzüge geübt und studiert, bis sie funktionieren, dann werden sie ins tatsächliche Spiel mitgenommen (und damit sozusagen skaliert).

Kürzlich las ich das folgende Statement: „Eine gute Geschäftsperson zu sein heißt, mehr richtige Entscheidungen zu treffen, als falsche“. Klingt im ersten Moment nicht verkehrt. Allerdings basiert es auf einer trügerischen Logik. Warum? Weil die jeweiligen Ergebnisse der Entscheidungen — positiv wie negativ — nicht berücksichtigt werden. Es ist vollkommen im Bereich des Möglichen, dank einer einzigen guten Entscheidungen äußerst erfolgreich zu sein, wenn sie nur einen ausreichend großen Gewinn nach sich zog. Selbst wenn alle anderen Entscheidungen sich als schlecht herausstellten, bleibt unterm Strich ein positives Ergebnis, solange die resultierenden Verluste klein genug ausfallen.

Deshalb sollte Begehen von „Fehlern“ nicht nur toleriert, sondern als notwendig angesehen werden, denn

a) ist es das Resultat davon, dass Dinge passieren und Neues ausprobiert wird und

b) liegt es fast unvermeidbar auf der Wegstrecke zum next big thing.

Zugegeben: Das klingt nach einer netten Theorie, aber wie kann man im Unternehmensalltag den Umgang mit Misserfolgen verändern? Nun, da gibt es einige Möglichkeiten, zum Beispiel:

  • Fail Camps als internes Format im Unternehmen einführen
  • Als Führungskraft offen über eigene Misserfolge sprechen
  • Austausch über Misserfolge zum Bestandteil der Meeting-Routinen machen

5. Methoden des agilen Projektmanagements nutzen

In den letzten Jahren erfreuen sich agile Projektmanagement-Methoden (Scrum, Kanban etc.) zunehmender Beliebtheit, auch außerhalb von Software-Schmieden und IT-Departments. Es finden sich online unzählige tolle Ressourcen zu dem Thema, weshalb ich mich hier kurz fassen will. Nur so viel: Im Kern geht es bei diesen Methoden um den Umgang mit Unsicherheit. Anstatt anzunehmen, dass man zum Projektstart alles präzise planen könne — wie es z.B. die Wasserfall-Planung versucht — erkennen agile Methoden die Existenz von Zufällen, Ungewissheit und damit den Grenzen der Planbarkeit an.

Ein paar weitere Leseempfehlungen

Eng verbunden mit unserem Thema hier ist das Konzept der Antifragilität. Als Einführung in das Thema empfehle ich die folgenden beiden Links. Zum einen eine gute Zusammenfassung von Nassim Talebs gleichnamigen Buch und mein Essay zur antifragilen Organisation.

Und, last but not least, Input zur Frage, wie man persönlich mit Ungewissheit umgehen kann:

Dieser Artikel ist die übersetzte Fassung meines Beitrags The Value Of Knowing That You Don’t Know. Wer meinen englischen Veröffentlichungen folgen will, ist herzlich eingeladen, meinen Account hier zu abonnieren!

Originally published at www.digital-hills.de on April 21, 2016.

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