Digitale Bildungswelten: Von der formalen Bildung zum guten Lernen

Ada Pellert
Digitalrat Deutschland
5 min readNov 29, 2019

Sich jeden Tag auf Neues einlassen und die Neugierde erhalten, das sind aus meiner Sicht Erfolgsfaktoren für gutes Lernen. Ich glaube sogar, die Fähigkeit, sich selbst ständig neu zu erfinden, wird in Zukunft wichtiger denn je. Denn durch die Digitalisierung wird sich die Art verändern, wie wir Wissen produzieren, kommunizieren, uns informieren, arbeiten und eben auch, wie wir lernen. Daher haben wir im Digitalrat versucht, den Fokus von Bildung auf Lernen zu verschieben: Lernen geht von den einzelnen Lernenden aus, sieht sie im Mittelpunkt. Die Maxime lautet daher, wie man Lernen zu den Lernenden bringen kann und nicht die Menschen in die Bildungsinstitution.

Das Digitale bricht ein in die analoge Welt und stellt auch das traditionelle Bildungsverhältnis in Frage. (Foto: Torsten Silz)

Wir waren uns im Digitalrat von Beginn an einig, dass wir Digitalisierung dabei nicht als Ziel, als Zweck an sich, sondern als Mittel betrachten, das unsere Vorstellung von einem guten und nachhaltigen Leben unterstützen soll. Neue Kompetenzen, die in der digitalisierten Gesellschaft relevant werden, geraten dabei stärker in den Fokus.

Digitalisierung stellt neben anderen Strukturen in allen Lebensbereichen also auch das traditionelle Bildungsverständnis in Frage.

Klassische Bildungsformate wie der Frontalunterricht verlieren bereits jetzt an Bedeutung. In neuen Arten des Lehrens und Lernens werden Lernende immer stärker zu Produzentinnen und Produzenten ihrer Lerninhalte. Transparente Lehre durch offene und öffentliche Angebote, individualisiertes und kollaboratives Lernen werden an Relevanz zunehmen. Das bedeutet, dass sich auch die Rollen von Lehrenden und Institutionen verändern werden. Das erlebe ich als Rektorin der FernUniversität in Hagen hautnah.

Für den Bildungsbereich liegen darin große Chancen. Lernen findet nicht nur in formalen Bildungsinstitutionen statt. Gerade durch die neuen Medien können wir viele Lernorte und Lerngelegenheiten schaffen: zu Hause, im Büro, in der Bahn… Daher wird auch Lebenslanges Lernen wichtiger werden. Das bedeutet für mich, dass Menschen altersunabhängig und altersadäquat (immer wieder) in Bildungsprozesse einsteigen können. Dafür brauchen wir offen strukturierte Lernformate, die den Lernenden Flexibilität bieten.

Zum Konzept des Lebenslangen Lernens gehört es, Lernende in den Mittelpunkt zu stellen.

Es geht dabei weniger um die jeweiligen Formate, sondern um eine komplett neue Art, Lernen zu denken. Lehren und Lernen müssen zukünftig vernetzt, kollaborativ und agil sein. Digitale Kompetenzen lassen sich am besten erwerben, indem die Lernenden an konkreten und für sie relevanten Problemen arbeiten — möglichst im Team. Das schärft auch das Bewusstsein für Data Literacy oder Digital Ethics.

Das Lernen muss zugleich für die einzelnen Lernenden individualisiert werden. Adaptive Technologien können dabei helfen, indem sie z.B. individuelle Empfehlungen zum Lernverlauf geben und dadurch personalisierte Lernpfade aufzeigen.

Vernetztes Lernen

Das Lernen zu den Lernenden zu bringen und nicht umgekehrt — das ist zweifach erforderlich: Kompetenzentwicklung ist ein Vorgang in der Person (intrapersonell), man kann jemanden nur dabei unterstützen etwas zu lernen. Gleichzeitig sind die neuen medialen Möglichkeiten eine Riesenchance für gutes, interessantes Lernen: Man kann nun wirklich verschiedene Lernwege, Lernmedien und Lernorte vernetzen, um am Ende lustvolleres und besseres Lernen zu ermöglichen.

Ich arbeite jetzt 30 Jahre im Bereich des Lebenslangen Lernens und habe ganz oft erlebt, wie Menschen sich und ihr Leben neu erfinden, weil sie sich übers Lernen auch im fortgeschrittenen Alter wieder auf neue Wege und Levels bewegen — faszinierend.

Von Studierenden der FernUniversität höre ich immer wieder, dass sie sich erst durch das Studium beruflich umorientieren konnten — auch noch später im Leben. Sie haben erlebt, dass ihnen Bildung, Weiterbildung und Lernen helfen, ein pralles Leben in der wissenschaftsbasierten Gesellschaft besser zu bewältigen. Oft mussten sie schulische Lernerfahrungen vergessen lernen, eine andere, nachhaltigere Form des Lernens in der Erwachsenenbildung kennen lernen und erleben, dass Lernen nicht nur Blut, Schweiß und Tränen bedeutet. Lernen darf auch Spaß machen. Dann tun wir’s nämlich gern.

Diese individuellen Erfahrungen möglichst vielen zu ermöglichen, ist eine zentrale politische Aufgabe.

Angela Merkel ist ein gutes Beispiel für eine lernoffene Einstellung. Im Rahmen der Bundespressekonferenz im Juli 2013 antwortete die Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Frage, was ihr Antrieb sei:

„(…) dass ich nach wie vor neugierig auf Menschen und ihre Verhaltensweisen bin, auf das, was sie machen, was sie antreibt. Insofern lerne ich jeden Tag auch sehr viel.“

Wie aber kann man SpitzenpolitikerInnen vermitteln, dass zur nationalen Organisation des Lernens heute mehr gehört, als nur das Bildungsministerium mit genügend Geld auszustatten?

Die nationale Weiterbildungsstrategie ist ein erster Ansatz, sie wird gemeinsam unter der Federführung von Arbeits- und Bildungsministerium vorangetrieben und umfasst viele institutionelle Akteurinnen und Akteure.

Eine nationale Strategie des Lernens muss noch weitergehen.

Sie muss fragen: Wie stellen wir die einzelnen Lernenden in den Mittelpunkt des Geschehens, wie verabschieden wir uns von den überkommenen Trennungen — die wir im deutschsprachigen Raum auch durch unterschiedliche Institutionen repräsentieren — von beruflicher, akademischer und allgemeiner Bildung?

Die Disruption durch Digitalisierung nimmt keine Rücksicht auf liebgewordene Begrenzungen und Versäulungen — und auch die Menschen und Herausforderungen liegen quasi quer zu diesen überkommenen Einteilungen. Die Lernenden müssen begleitet und unterstützt werden auf ihrer ganz persönlichen Lernreise durch die moderne Gesellschaft — sie müssen dafür Geld, Zeit und Informationen in die Hand bekommen, tolle Vorbilder und ganz viel Beratung — Life Long Guidance nennt das die europäische Bildungspolitik.

Beim Teambuilding des Digitalrats habe ich am eigenen Leib erfahren: Auch beim Klettern führt Guidance zum Erfolg.

Wie schafft man genügend Rückenwind dafür? Insbesondere prekäre Zielgruppen müssen sehr aktiv unterstützt werden, damit sie nicht aus der Gesellschaft fallen. Digitalisierung verändert die Art, wie diese Gesellschaft zusammengehalten wird, wie in ihr kommuniziert, gelebt, gearbeitet wird. Wie schaffen wir Platz in den Betrieben, damit dort Lernen als zentrale Führungsaufgabe gesehen und organisiert wird, weil sonst der Strukturwandel ganz brutal über uns hereinbrechen wird?

Begleitendes Lernen bei Veränderungsprozessen zu ermöglichen, zu finanzieren, organisieren und zu evaluieren, wird heute für jedes Ministerium, jeden Betrieb, jede Organisation zur zentralen Herausforderung, wenn sie nicht eines Tages in der Belanglosigkeit oder mit einem völlig veralteten Geschäftsmodell aufwachen möchte.

Der Prozess, in digitalen Bildungswelten neue Rahmenbedingungen zu schaffen, ist bereits mitten im Gange.

Wenn wir mehr Menschen zum Lebenslangen Lernen bringen wollen, müssen wir ihre Bildungsmotivation und vor allem die Freude am Lernen stärken. Da bin ich ganz bei der Bundeskanzlerin.

Jeden Tag neu lernen, das muss auch unser Ziel sein.

Lernen, das klingt für viele nach Schulbank, nach Mühe und Anstrengung — gähn… irgendwie wichtig zwar, aber keiner möchte es machen oder dafür zuständig sein. Man kann es aber auch ganz anders sehen, so wie einer unserer Studierenden: „Lebenslanges Lernen kann zum Mantra werden, und Interesse ist wie eine Art Muskel, den man trainieren kann.“ Richtig verstanden ist Lernen das Salz des modernen Lebens, gut gestaltet die Gelegenheit, einen größeren Flow als beim Shoppen zu erleben und sich ganz neue Dimensionen zu erschließen — als Person, als Institution und als Gesellschaft.

Lernen zu den Lernenden bringen, Lernen zu gestalten und zu begleiten ist die vornehmste Führungsaufgabe, die professionellste Form Veränderungsvorhaben umzusetzen. Es ist eine anstehende, große politische Aufgabe und im globalen Wettbewerb die größte Chance, die Nase vorne zu behalten.

Eine kräftige gesellschaftlich-politische Unterstützung des Lernens — durch Geld, Zeit, Anerkennung, Vorbilder, Auszeichnung — mag ein Kraftakt und teuer sein. Noch teurer ist nur, das nicht zu tun.

Ihre Ada Pellert

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